Wir müssen professionell mit der Religion umgehen - THE PHILANTHROPIST
Published by The Internett,
Welche Rolle spielt der Glaube heute in der Entwicklungszusammenarbeit?
Der Glaube spielt eine ganz entscheidende Rolle. Nur wird er heute oft bewusst vernachlässigt. Das halte ich für fahrlässig. Es ist notwendig, sehr professionell damit umzugehen.
Weshalb wird er vernachlässigt?
In Ländern im säkularen Norden, auch in der Schweiz, erachten wir den Glauben als etwas Privates. Es besteht die Angst, dass das Vermischen von Religion und Geld gefährlich sein und als unprofessionell betrachtet werden könnte.
Das sehen Sie anders?
Ich sehe diese Gefahr. Aber das Ausblenden von Religion hilft nicht. Im Gegenteil. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir müssen anerkennen, dass viele Länder im globalen Süden, ihr gesellschaftliches Leben und der Zusammenhalt stark religiös geprägt sind. Kirchliche Akteure nehmen in diesen Kontexten eine entscheidende Rolle ein. In manchen Ländern wie dem Südsudan sind die Kirchen die einzigen Akteure, die verlässlich funktionieren. Auch die Weltbank betont immer wieder, wie entscheidend gerade sogenannte «Faith Based Organisations» (FBO) wie die Kirchen für einen guten und bezahlbaren Zugang zu gesundheitlicher Versorgung für Menschen in den Ländern des globalen Südens sind. Und in der humanitären Hilfe wie zum Beispiel in Kamerun haben wir nur dank unserer kirchlichen Partner Zugang zu Vertriebenen. All diese Beispiele zeigen: Für wirksame und nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe mit einer hohen Ownership der beteiligten Menschen müssen wir religiöse Faktoren und religiöse Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit ernst nehmen und professionell damit umgehen.
Der Glaube spielt eine ganz entscheidende Rolle.
Pfarrer Jochen Kirsch, Direktor von Mission 21
Mission 21 kann den Faktor Religion gar nicht ausblenden.
Seit mehr als 200 Jahren stellen wir uns auf die Seite der Bedürftigsten, unabhängig von deren Religion, Herkunft oder Geschlecht. Wir setzen uns dafür ein, dass ihre Stimme lauter wird. Und wir leisten humanitäre Hilfe. Dabei ist die Reflexion über religiöse Faktoren Teil unseres Programmansatzes. Wir beziehen sie professionell in unsere Arbeit ein. Von Anfang an reflektieren wir darüber, wie der Kontext aussieht und welche religiösen Akteure involviert sind. Darauf bauen wir unsere Projektplanung auf. Wir wollen die Religionen für Lösungen nutzen und nicht Konflikte schaffen. Deswegen überlegen wir auch immer genau, bei wem kaufen wir die Ressourcen für ein Projekt ein oder welche Religionen sind bei unseren Mitarbeitenden vertreten.
Dennoch wird der Glaube als Grund für viele gewalttätige Konflikte angesehen. Eines der Themen, für die sich Mission 21 engagiert, ist die interreligiöse und interkulturelle Friedensförderung. Müssen wir die Religionen ausblenden, um Lösungen zu finden?
Man findet keine Lösung, wenn man den Faktor Religion ausblendet. Wir müssen professionell mit der Religion umgehen, weil sie für viele Menschen prägend ist, für ihr Denken und das Zusammenleben. Dies auszublenden wäre unprofessionell. Es wird keinen Frieden geben unter Ausblendung der Religion, bspw. im Nahen Osten.
Sehen Sie denn eine Chance auf Frieden bei so starken religiösen Gegensätzen?
Es gibt eine Chance. Das Problem ist oft, dass Religionen von politischen Akteuren benutzt werden für ihre eigene politische Agenda oder ihre wirtschaftlichen Interessen. Sie versuchen, die Menschen über die Religion hinter sich zu scharen und zu fanatisieren. Dabei wird Religion oft als Brandbeschleuniger benutzt. Dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen klar machen, wofür Religion steht. Wir müssen sie entkoppeln von den Machtinteressen und verhindern, dass Religion missbraucht wird, sondern das Positive hervorbringen.
Man findet keine Lösung, wenn man den Faktor Religion ausblendet.
Jochen Kirsch
Wie kann das gelingen?
Wir nutzen bspw. in Indonesien oder Nordnigeria Religion für die Versöhnungs- und Traumaarbeit. Religion hat eine grosse Kraft, wenn man ihr Potenzial nutzt, um Frieden zu stiften. Dann steckt grosses Potenzial für nachhaltige Konfliktlösungen in der Religion.
Ist für die Mission 21 die klare Positionierung auf Seiten der Kirche für die Arbeit ein Vorteil?
Wir versuchen, die Kirchen in ihrer Rolle als Akteure für die Entwicklung und für den sozialen Wandel ihrer Länder und Gesellschaften zu stärken und nicht die Kirche um ihrer selbst willen. So bieten wir auch Menschen in der Schweiz, Jugendlichen und Erwachsenen Zugang zu transkulturellen und interreligiösen Austausch- und Begegnungsangeboten im Bereich der weltweiten Kirche. Wir haben partnerschaftliche Beziehungen zu Organisationen in 20 Ländern in Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika. Das ist eine wichtige Dienstleistung nicht nur an die Kirchen in der Schweiz, sondern auch an die Schweizer Gesellschaft insgesamt. Unser Ziel ist die Stärkung eines Bewusstseins für weltweite Zusammenhänge und die Vermittlung von Kompetenzen für ein konstruktives, friedliches Zusammenleben in einer zunehmend pluralen Gesellschaft.
Aber hat die Nähe zur Kirche auch Nachteile?
Wir sind durch unsere Arbeit mit Kirchen weltweit verbunden und tragen das Wort «Mission» im Namen. Das kann missverstanden werden und erschwert ein Fundraising auf dem säkularen Privatspendenmarkt. Das ist ein strategischer Nachteil. Wir sind auf die Spenden der Kirche angewiesen sowie auf Zuwendungen von Stiftungen, die den gemeinnützigen Charakter unserer Arbeit verstehen.
Wir müssen klar machen, wofür Religion steht.
Jochen Kirsch
Spüren Sie, dass in der Schweiz immer mehr Menschen aus der Kirche austreten?
Finanziell merken wir einen Rückgang der Spendengelder der Kirche. Hier spielt allerdings auch eine Verschiebung eine Rolle. Die Kirchen lenken Gelder verstärkt in Krisengebiete, die im Fokus stehen, wie der Ukrainekrieg. Damit fehlen Gelder in anderen Regionen, wo sie auch gebraucht werden.
Wo sehen Sie die grossen Herausforderungen der kommenden Jahre, bei welchen Mission 21 einen wirkungsvollen Beitrag leisten kann?
Noch immer spüren wir in vielen Ländern die Folgen von Corona. Zudem treffen der zunehmende Klimawandel und die durch den Ukrainekrieg ausgelösten Steigerungen der Energiekosten und Nahrungsmittelpreise gerade die Menschen im globalen Süden besonders hart. Während die Krisen in der Ukraine oder im Nahen Osten im Fokus stehen, hat sich die Situation in vielen Ländern jenseits der medialen Öffentlichkeit dramatisch verschlechtert. Das ist eine Schwierigkeit. Wir setzen uns für die Bedürftigsten und Verletzlichsten ein, die sonst niemand sieht und hört. Ihre Zahl wächst. Und sie wird immer grösser. Mit unseren langjährigen Partnerorganisationen direkt an der Basis in den vergessenen Not- und Krisenregionen dieser Welt leistet Mission 21 einen wirkungsvollen und nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung ihrer Lebenssituation.
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