Wir müssen professionell mit der Religion umgehen - THE PHILANTHROPIST


Pfarrer Jochen Kirsch, Direktor von Mission 21
··26. Oktober 2023·4 Min. Lesedauer·0

Wir müssen profes­sio­nell mit der Reli­gion umgehen

Pfarrer Jochen Kirsch ist Direktor von Mission 21. Das evangelische Missionswerk engagiert sich für bedürftige Menschen im globalen Süden. Er spricht über die Bedeutung der Religion in der Entwicklungszusammenarbeit und den professionellen Umgang mit dem Thema.

Welche Rolle spielt der Glaube heute in der Entwicklungszusammenarbeit?

Der Glaube spielt eine ganz entschei­dende Rolle. Nur wird er heute oft bewusst vernach­läs­sigt. Das halte ich für fahr­läs­sig. Es ist notwen­dig, sehr profes­sio­nell damit umzugehen.

Weshalb wird er vernachlässigt?

In Ländern im säku­la­ren Norden, auch in der Schweiz, erach­ten wir den Glau­ben als etwas Priva­tes. Es besteht die Angst, dass das Vermi­schen von Reli­gion und Geld gefähr­lich sein und als unpro­fes­sio­nell betrach­tet werden könnte.

Das sehen Sie anders?

Ich sehe diese Gefahr. Aber das Ausblen­den von Reli­gion hilft nicht. Im Gegen­teil. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir müssen aner­ken­nen, dass viele Länder im globa­len Süden, ihr gesell­schaft­li­ches Leben und der Zusam­men­halt stark reli­giös geprägt sind. Kirch­li­che Akteure nehmen in diesen Kontex­ten eine entschei­dende Rolle ein. In manchen Ländern wie dem Südsu­dan sind die Kirchen die einzi­gen Akteure, die verläss­lich funk­tio­nie­ren. Auch die Welt­bank betont immer wieder, wie entschei­dend gerade soge­nannte «Faith Based Orga­ni­sa­ti­ons» (FBO) wie die Kirchen für einen guten und bezahl­ba­ren Zugang zu gesund­heit­li­cher Versor­gung für Menschen in den Ländern des globa­len Südens sind. Und in der huma­ni­tä­ren Hilfe wie zum Beispiel in Kame­run haben wir nur dank unse­rer kirch­li­chen Part­ner Zugang zu Vertrie­be­nen. All diese Beispiele zeigen: Für wirk­same und nach­hal­tige Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit und huma­ni­täre Hilfe mit einer hohen Owner­ship der betei­lig­ten Menschen müssen wir reli­giöse Fakto­ren und reli­giöse Akteure in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit ernst nehmen und profes­sio­nell damit umgehen.

Der Glaube spielt eine ganz entschei­dende Rolle.

Pfar­rer Jochen Kirsch, Direk­tor von Mission 21

Mission 21 kann den Faktor Reli­gion gar nicht ausblenden.

Seit mehr als 200 Jahren stel­len wir uns auf die Seite der Bedürf­tigs­ten, unab­hän­gig von deren Reli­gion, Herkunft oder Geschlecht. Wir setzen uns dafür ein, dass ihre Stimme lauter wird. Und wir leis­ten huma­ni­täre Hilfe. Dabei ist die Refle­xion über reli­giöse Fakto­ren Teil unse­res Programm­an­sat­zes. Wir bezie­hen sie profes­sio­nell in unsere Arbeit ein. Von Anfang an reflek­tie­ren wir darüber, wie der Kontext aussieht und welche reli­giö­sen Akteure invol­viert sind. Darauf bauen wir unsere Projekt­pla­nung auf. Wir wollen die Reli­gio­nen für Lösun­gen nutzen und nicht Konflikte schaf­fen. Deswe­gen über­le­gen wir auch immer genau, bei wem kaufen wir die Ressour­cen für ein Projekt ein oder welche Reli­gio­nen sind bei unse­ren Mitar­bei­ten­den vertreten.

Dennoch wird der Glaube als Grund für viele gewalt­tä­tige Konflikte ange­se­hen. Eines der Themen, für die sich Mission 21 enga­giert, ist die inter­re­li­giöse und inter­kul­tu­relle Frie­dens­för­de­rung. Müssen wir die Reli­gio­nen ausblen­den, um Lösun­gen zu finden?

Man findet keine Lösung, wenn man den Faktor Reli­gion ausblen­det. Wir müssen profes­sio­nell mit der Reli­gion umge­hen, weil sie für viele Menschen prägend ist, für ihr Denken und das Zusam­men­le­ben. Dies auszu­blen­den wäre unpro­fes­sio­nell. Es wird keinen Frie­den geben unter Ausblen­dung der Reli­gion, bspw. im Nahen Osten.

Sehen Sie denn eine Chance auf Frie­den bei so star­ken reli­giö­sen Gegensätzen?

Es gibt eine Chance. Das Problem ist oft, dass Reli­gio­nen von poli­ti­schen Akteu­ren benutzt werden für ihre eigene poli­ti­sche Agenda oder ihre wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen. Sie versu­chen, die Menschen über die Reli­gion hinter sich zu scha­ren und zu fana­ti­sie­ren. Dabei wird Reli­gion oft als Brand­be­schleu­ni­ger benutzt. Dem müssen wir entge­gen­wir­ken. Wir müssen klar machen, wofür Reli­gion steht. Wir müssen sie entkop­peln von den Macht­in­ter­es­sen und verhin­dern, dass Reli­gion miss­braucht wird, sondern das Posi­tive hervorbringen.

Man findet keine Lösung, wenn man den Faktor Reli­gion ausblendet.

Jochen Kirsch

Wie kann das gelingen?

Wir nutzen bspw. in Indo­ne­sien oder Nord­ni­ge­ria Reli­gion für die Versöh­nungs- und Trau­ma­ar­beit. Reli­gion hat eine grosse Kraft, wenn man ihr Poten­zial nutzt, um Frie­den zu stif­ten. Dann steckt gros­ses Poten­zial für nach­hal­tige Konflikt­lö­sun­gen in der Religion.

Ist für die Mission 21 die klare Posi­tio­nie­rung auf Seiten der Kirche für die Arbeit ein Vorteil?

Wir versu­chen, die Kirchen in ihrer Rolle als Akteure für die Entwick­lung und für den sozia­len Wandel ihrer Länder und Gesell­schaf­ten zu stär­ken und nicht die Kirche um ihrer selbst willen. So bieten wir auch Menschen in der Schweiz, Jugend­li­chen und Erwach­se­nen Zugang zu trans­kul­tu­rel­len und inter­re­li­giö­sen Austausch- und Begeg­nungs­an­ge­bo­ten im Bereich der welt­wei­ten Kirche. Wir haben part­ner­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu Orga­ni­sa­tio­nen in 20 Ländern in Afrika, Asien, Europa und Latein­ame­rika. Das ist eine wich­tige Dienst­leis­tung nicht nur an die Kirchen in der Schweiz, sondern auch an die Schwei­zer Gesell­schaft insge­samt. Unser Ziel ist die Stär­kung eines Bewusst­seins für welt­weite Zusam­men­hänge und die Vermitt­lung von Kompe­ten­zen für ein konstruk­ti­ves, fried­li­ches Zusam­men­le­ben in einer zuneh­mend plura­len Gesellschaft.

Aber hat die Nähe zur Kirche auch Nachteile?

Wir sind durch unsere Arbeit mit Kirchen welt­weit verbun­den und tragen das Wort «Mission» im Namen. Das kann miss­ver­stan­den werden und erschwert ein Fund­rai­sing auf dem säku­la­ren Privat­spen­den­markt. Das ist ein stra­te­gi­scher Nach­teil. Wir sind auf die Spen­den der Kirche ange­wie­sen sowie auf Zuwen­dun­gen von Stif­tun­gen, die den gemein­nüt­zi­gen Charak­ter unse­rer Arbeit verstehen.

Wir müssen klar machen, wofür Reli­gion steht.

Jochen Kirsch

Spüren Sie, dass in der Schweiz immer mehr Menschen aus der Kirche austreten?

Finan­zi­ell merken wir einen Rück­gang der Spen­den­gel­der der Kirche. Hier spielt aller­dings auch eine Verschie­bung eine Rolle. Die Kirchen lenken Gelder verstärkt in Krisen­ge­biete, die im Fokus stehen, wie der Ukrai­ne­krieg. Damit fehlen Gelder in ande­ren Regio­nen, wo sie auch gebraucht werden.

Wo sehen Sie die gros­sen Heraus­for­de­run­gen der kommen­den Jahre, bei welchen Mission 21 einen wirkungs­vol­len Beitrag leis­ten kann?

Noch immer spüren wir in vielen Ländern die Folgen von Corona. Zudem tref­fen der zuneh­mende Klima­wan­del und die durch den Ukrai­ne­krieg ausge­lös­ten Stei­ge­run­gen der Ener­gie­kos­ten und Nahrungs­mit­tel­preise gerade die Menschen im globa­len Süden beson­ders hart. Während die Krisen in der Ukraine oder im Nahen Osten im Fokus stehen, hat sich die Situa­tion in vielen Ländern jenseits der media­len Öffent­lich­keit drama­tisch verschlech­tert. Das ist eine Schwie­rig­keit. Wir setzen uns für die Bedürf­tigs­ten und Verletz­lichs­ten ein, die sonst niemand sieht und hört. Ihre Zahl wächst. Und sie wird immer grös­ser. Mit unse­ren lang­jäh­ri­gen Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen direkt an der Basis in den verges­se­nen Not- und Krisen­re­gio­nen dieser Welt leis­tet Mission 21 einen wirkungs­vol­len und nach­hal­ti­gen Beitrag zur Verbes­se­rung ihrer Lebenssituation.

Takashi Sugimoto hat an der Universität Basel Philosophie studiert und 2001 abgeschlossen. Er arbeitete auf verschiedenen Kommunikationsabteilungen und war Redaktor bei der Coopzeitung.

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