Weg von Wut und Hass - Die seelische Selbstvergiftung überwinden | deutschlandfunkkultur.de


Weg von Wut und Hass

Die seelische Selbstvergiftung überwinden

27:42 Minuten
Wer sich dauerhaft gekränkt fühlt, erlebt oft ein Gefühl der Ohnmacht, kann irgendwann am Leben nicht mehr teilnehmen. © Getty Images / fStop / Malte Mueller
Von Wolfgang Streitbörger · 09.01.2023
Das Ressentiment – also das wiederholte Durch- und Nachleben eines seelischen Zustands – kann zu einer Art seelischen Selbstvergiftung führen: Kränkungen werden immer wieder durchlebt, Hass und Wut wachsen. Wie kann man diesem Zustand entkommen?
Der Weg zu Thomas Gutknecht auf dem Göllesberg auf der Schwäbischen Alb führt über schmale Waldstraßen. Er betreibt dort eine Praxis. Keine psychologische Praxis, auch keine medizinische Praxis, sondern eine philosophische Praxis. Das ist selten.
Zu Besuch bei Thomas Gutknecht, bei einem praktizierenden Philosophen, zu Besuch in einem Haus, das auch eine Praxis ist: das 1991 gegründete Logos Institut im winzigen Lichtenstein. Menschen kommen, um sich beraten zu lassen in grundsätzlichen Lebensfragen. Andere lesen und denken mit Thomas Gutknecht, einzeln und in Gruppen. Der Beginn eines langen Gesprächs bei Frühstück und Kaffee. Seine Frau Maria Baiker sitzt mit am Tisch.
Den Anlass für das Treffen gab eben die Arbeit: an einem Buch, das Anfang 2021 erschienen ist. „Mut und Maß statt Wut und Hass: Ressentiments angemessen begegnen und Verantwortung übernehmen." Um das Ressentiment geht es dort, fast zu gut versteckt im Untertitel. Aber nicht um Ressentiments im landläufigen Sinne, nicht um Vorurteile oder Feindbilder. Dieses Mehrzahlwort meint der 70-jährige Philosoph nicht, der auch Katholische Theologie, Pastoralpsychologie und Germanistik studiert hat.
Der Philosoph Thomas Gutknecht vor seinem 1991 gegründeten Logos Institut.© privat
Er meint ein Ressentiment in der Einzahl. Ein Phänomen, das Menschen mit Macht entzweit. „Der ressentimental versehrte Mensch erlebt im Zusammenhang mit Ohnmacht und Ungerechtigkeit eine Kränkung", sagt er. Das Ressentiment in Gutknechts Vorstellung lässt diese Kränkung nicht Vergangenheit sein, sondern holt sie immer wieder zurück ins Jetzt. „Res-Sentiment ist ein wieder Auflebenlassen im geistigen Innenraum – je länger, je mehr. Das sich auch verstärkt beziehungsweise verstärkt empfunden wird."

Kränkung immer wieder durchleben

Ressentiment als das philosophische Wort im Sinne Gutknechts kommt aus dem Französischen, von Michel de Montaigne vor mehr als 400 Jahren. Friedrich Nietzsche griff es vor anderthalb Jahrhunderten auf. Es stand für das wiederholte Durch- und Nachleben eines seelischen Zustands. Max Scheler, in den 1920ern ein medienwirksamer Starphilosoph und Soziologe, schrieb auch darüber. Von ihm stammt das Bild der „seelischen Selbstvergiftung", und auch der Psychiater und Psychoanalytiker Léon Wurmser, er starb 2020, schrieb darüber. Gutknecht sammelt die vielen Ansätze zum Ressentiment in einer neuen philosophischen Betrachtung.

Das Ressentiment ist eine Selbstvergiftung der Seele

Philosoph Thomas Gutknecht

Drei Fragen stellen sich: Erstens, was macht dieses Ressentiment mit Menschen und mit der Gesellschaft? Zweitens: Gibt es für ein solches Phänomen auch empirisch-wissenschaftliche Belege aus der Psychologie und Psychotherapie? Und, wenn ja, drittens: Welche Wege führen aus dem Ressentiment heraus?

Was macht das Ressentiment mit Menschen?

„Ressentiment ist unter anderem auch die Flucht aus der Schwäche heraus in die moralisch starke Position, die sich erlauben darf, zu verachten", sagt Thomas Gutknecht. Er spricht auch von der Ressentimentalität. „Diese Wortverbindung zwischen Ressentiment einerseits und Mentalität andererseits, deswegen Ressentimentalität. Es wird dann zur Einstellung. Es wird zur Haltung. Es wird verbunden mit der ganzen Person."
Ressentimentalität entwickelt enorme Sprengkraft. Als eine Affektlage, ein Geistes- und Gemütszustand, der entsteht, wenn Menschen sich gekränkt und dabei ohnmächtig fühlen, sich also nicht wehren wollen oder sich nicht wehren können. Manchmal heilt die Zeit alle Wunden. Aber manchmal eben auch nicht. Dann steigt das Gefühl der Kränkung immer auf, wird stärker und stärker.

Ohne Lebensfreude, voller Schmerz

Ein „Wieder-Fühlen" nimmt seinen Lauf, denn genau das bedeutet das Wort Ressentiment in seinem Ursprung. „Das es ist ein schleichender Prozess, eine schleichende Vergiftung", so Gutknecht. „Dass die Seele immer mehr zu Bösartigkeit neigt, zur Häme neigt, zur Abwertung von anderen, auch Freudlosigkeit ist damit dann verbunden. Denn man kann sich selber ja nicht freuen und man gönnt den anderen die Freude nicht. Eine Enge, die sich zunehmend immer mehr verspinnt in dem Ressentiment. Selber hat man nichts, und den anderen gönnt man nichts. Was bleibt da von der Lebensfreude noch übrig? Das ist eine Vergiftung."
An die Stelle der Lebensfreude tritt nach Gutknechts Beobachtung das Leiden. Es kommt zu einem Leben geprägt vom seelischen Schmerz. „Das empfundene Leid, dieser Schmerz, der gibt mir eine gewisse Überlegenheit. Die Verachtung, die ja immer möglich ist aus verschiedensten Gründen, wird im Ressentiment zur moralisch legitimierten Verachtung. Dann wird es ganz arg gefährlich, wenn der Mensch im Ressentiment sich auch noch moralisch im Recht sieht, dann gibt es auch gar keinen Grund, an der eigenen ressentimentalen Versehrtheit irgendwie noch zu arbeiten."

Populisten und Verschwörungserzähler

Einige Menschen im so verstandenen Ressentiment werden laut aus hasserfüllter, wütender Verachtung für andere. Man kennt dies von Populisten-Politikern, die auf diese Weise Stimmen ressentimentgeladener Wähler einsammeln.
Das Ressentiment wirkt im Sündenbockprinzip. Gegner einer Impfpflicht demonstrieren gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung.© imago images / Future Image / Christoph Hardt
Andere Ressentimentgetriebene sitzen still in einer Ecke: mit einem Gesichtsausdruck des überlegenen Wissens, wie die Dinge wirklich seien, schmallippig mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Dies, meint Gutknecht, sei die Welt der Verschwörungserzählungen. „Es gibt dann in der Folge des Ressentiments eine gefühlte Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit, die wir miteinander teilen, nicht mehr so arg viel zu tun hat", sagt er. „Es ist eine gefühlte Wirklichkeit im Sinne von: Die wollen mir alle Böses. Ich habe keine Chance mehr. Da bleibt mir nicht viel Spielraum. Es ist in Wahrheit tatsächlich nicht so, aber es wird gefühlt."

Jammerrecht und Opferrolle

Vom Ressentiment beherrschte Menschen verwenden in Gutknechts Vorstellung viel Kraft darauf, genau diese Lebenshaltung zu bewahren. Man könnte meinen, dies hätte überhaupt keinen Sinn, außer für Hasspolitiker. Hat es aber. Gutknecht spricht beim Ressentiment vom Jammerrecht. „Für den, der sich als Opfer fühlt, ist es ein großer Nutzen, dass er sich nicht verantwortlich wissen muss für seine eigene Lebenslage. Das ist der Gewinn, wie beim Krankheitsgewinn, was jemand dazu bringt, dass er gar nicht seine Krankheit loswerden will. So gibt es unter Umständen das Problem, dass Menschen im Ressentiment ihre Ressentimentalität gern behalten möchten."

Der Mensch, der so gekränkt ist, glaubt, moralisch im Vorteil zu sein. Er glaubt, unter Umständen auch verachten zu dürfen. Das Ressentiment braucht die Feindschaft. Das Ressentiment braucht den Schmerz und das Leid.

Philosoph Thomas Gutknecht

Nun kann es niemals wirklich ein Gewinn sein, die Verantwortung für das eigene Leben abzulehnen. Das mag zwar eine Zeit lang entlasten. Aber Menschen kann dabei ihr Leben entgleiten, so wie es Petra Elsner beinahe widerfuhr. Die einstige Chef-Requisiteurin eines Theaters erlebte bei sich vor vielen Jahren ein Ressentiment ganz im Sinne Gutknechts, eines der leisen Sorte. Mit ihrer Erinnerung daran fand sie sich wieder in dem Buch.
Auf Gutknechts Einladung hin traut sie sich nun, vor eingeschaltetem Mikrofon eine Weile mit am Tisch zu sitzen, zu erzählen, wie es war: ihr Leben im Ressentiment. Sie zog sich innerlich zurück, und zwar für Jahre – aus ihrer Arbeit, die sie eigentlich so sehr liebte, auch von ihren Kolleginnen und Kollegen. Stille Wut verschlang einen großen Teil ihrer Energie. Der Theaterbetrieb sei „sehr schnell", erzählt sie. „Dann werden die Leute in den Endproben sehr nervös. Dann klappt irgendwas nicht. Dann kann es sein, dass jemand wahnsinnig rumschreit, und dann sind alle schuld. Es gab sehr viele Endproben, und dann hat man gemerkt: Jetzt läuft das aus dem Ruder, jetzt stehe ich halt gerade im Weg. Ich hatte auch eine Wut. Ich habe gedacht, das gibt es doch wohl nicht, und habe dann manchmal auch geheult. Ich war schon sehr verletzt. Das habe ich wirklich als eine Einengung meiner Seele verstanden. Das war auch oft entwürdigend."
Dieser Zustand habe sich dann zunehmend schneller entwickelt. „Wenn dann aber später nur ein Hauch von Donnerwetter war, dann habe ich das viel stärker empfunden als am Anfang." Es sei eine schwere Zeit gewesen. „Jeder Mensch, der in der Opferrolle ist, ist ja auch ein Stück weit in manchen Situationen Täter. Nicht immer. Aber das bedingt sich ja so gegenseitig, dass ich manchmal gedacht habe: Da habe ich jetzt auch mein Teil dazu beigetragen, dass der andere keine Chance bekommen hat." Petra Elsner gab aber nicht auf. Sie fand aus dem Ressentiment wieder heraus. Wie sie das schaffte, wird sie gleich noch erzählen.

Populismus und das Sündenbockprinzip

Thomas Gutknecht versteht sich auch als weltlicher Seelsorger. Der einzelne Mensch ist ihm wichtig. Das Ressentiment sieht er aber auch in größeren Zusammenhängen wirken. Wenn es „gesamtgesellschaftlich eskaliert und es zu einer Klimakrise führt. Es gibt ja nicht nur die Krise der Erderwärmung, sondern es gibt unter Umständen ja auch eine Klimakrise durch seelische Verwerfungen im sozialen Bereich: Spaltungen, Kälteflüsse, wenn man so sagen will, aufgrund von Hass. Dann gibt es eine Klimakrise, so würde ich das jetzt nennen, in der ganzen Gesellschaft, die dann unser Leben, wie das Einzelleben, immer mehr vergiftet."

Wenn ich mich zurückgesetzt fühle: Die können am Leben nicht mehr teilnehmen. Die stehen am Rande, gucken zu, wie das Leben weitergeht. Das Leben stagniert für die, und da kommt eine ohnmächtige Wut.

Psychotherapeut Falk Eberle

In seinem Buch befasst sich Gutknecht mit dem politischen Populismus, sieht das Ressentiment wirken im Sündenbockprinzip, wie es der zeitgenössische Philosoph Reinhard Olschanski nennt, und in der Vergiftung des europäischen Geistes, auch dies ein Ausdruck von Olschanski. Die Politik des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und der AfD, die Olschanski untersucht, begreift Gutknecht als getrieben vom Ressentiment. Putins Krieg kommt in seinem Buch nicht vor, ist es doch vorher erschienen. Gutknecht hält sich beim Ressentiment in der Politik an andere Autoren, schlägt aber die Brücke zu seiner Vorstellung vom Ressentiment. Untersuchungen über Gefühle in der Politik kommen umso stärker von einem anderen Buchautor.

Die eigenen Schwächen akzeptieren

Vom Bahnhof Gießen im Stadtbus auf der Reise zu Hans-Jürgen Wirth. Der Psychoanalytiker, Psychotherapeut und außerordentliche Professor für Soziologie ist ein ausgewiesener Sozialpsychologe. Seine Praxis liegt nicht im Wald, sondern mitten in der Stadt. Vor der Tür braust das Leben.
Im Treppenaufgang stehen Kartons, denn hier hat auch der Psychosozial-Verlag sein Domizil, den Wirth gegründet hat. Im Besprechungsraum eine Couch, ganz wie es sich für einen Psychoanalytiker gehört. Dann Ruhe.
Die eigenen blinden Flecken, die eigenen Schwächen zu sehen und auch zu akzeptieren, das sei schwer, sagt Wirth. „Es ist ja auch wieder etwas Kränkendes. Denn das widerspricht eigentlich unseren Idealen, wie man sein soll. Aber eigentlich ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen und mal versuchen zu sehen, dass man selber auch Neigungen zur Ressentimentbildung hat. Ich kann das schon auch bei mir manchmal feststellen, dass ich auch Ressentiments habe."

Das Ressentiment in der Psychologie

Hans-Jürgen Wirth ist der Experte der Wahl für die zweite Frage: Was sagen Psychologen zu Gutknechts Vorstellung vom Ressentiment? Gibt es empirische, also gemessene, sogenannte harte wissenschaftliche Belege für die Existenz eines solchen Phänomens, das die Philosophie, so wie es ihr zusteht, einfach behaupten darf?
Wirth kennt den Forschungsstand der Sozialpsychologie genau: der Wissenschaft, die psychische Prozesse im Zusammenleben von Menschen untersucht, und er hat im Jahr 2022 ein Buch mit einem Titel veröffentlicht, der auf Antworten hoffen lässt: „Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit."
In dem Buch meint Wirth mit dem Ressentiment allerdings eher Gutknechts Ressentiments in der Mehrzahl, die andere Wortbedeutung also. Ressentiments als abwertende Feindbilder und Vorurteile, die sich vor allem gegen gesellschaftliche Gruppen wenden, und doch findet Wirth leicht Anschluss an Gutknechts Gedanken. „Ich kann dem total folgen und finde da eigentlich vieles wieder, was ich auch denke. Manches finde ich sogar überraschend und anregend präzise formuliert und schade, dass ich es nicht vorher kannte, das Buch. Dann hätte ich es bestimmt zustimmend zitiert."

Narzisstische Kränkungen

Aber wenn es in der psychologischen Forschung nicht „das Ressentiment" heißt, wie denn in der ihr eigenen Sprache? Wie nennt die Psychologie die Folge der Kränkung verbunden mit Ohnmacht? „Beim Begriff der Kränkung, denke ich als Psychoanalytiker sofort an die narzisstische Kränkung", sagt Wirth. „Das Selbstwertgefühl wird gekränkt durch Niederlagen, durch Enttäuschungen, durch Zurückweisungen. Diese Kränkungen können so stark sein, dass sie traumatischen Charakter haben. Aber nicht jede narzisstische Kränkung ist gleich ein Trauma." Und nicht jeder Mensch, der eine narzisstische Kränkung erleidet, ist damit gleich ein Narzisst, also jemand, die oder der sehr stark auf sich selbst bezogen, manchmal in sich selbst verliebt ist.
„Narzisstische Kränkungen sind etwas, was wir alle ständig erleben, wenn wir nicht die Anerkennung, die Zuneigung, die Aufmerksamkeit im Moment bekommen, die wir eigentlich haben wollen, von unserem Partner oder von wem auch immer", so Wirth. Wir müssten also dauernd unser Selbstwertgefühl regulieren und narzisstische Kränkungen verarbeiten. Mit normalen Kränkungen kommt sozusagen jeder zurecht, oder die meisten. Aber wenn sie zu stark sind, ist man davon überfordert." Dann habe es eine traumatische Qualität und wirke über den konkreten Anlass hinaus in der Zukunft noch weiter beziehungsweise kehre immer wieder.
Das Ressentiment, wie es Gutknecht beschreibt, und die Merkmale, die er herausarbeitet, sieht Wirth beschrieben und empirisch belegt eben im Begriff des Narzissmus. In vielen Untersuchungen habe man nachgewiesen, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Ausprägungen dieser narzisstischen Dimension haben.

Auf der Suche nach Beachtung

Erst in sehr starker Ausprägung wird der Narzissmus zu einer krankhaften psychischen Störung. In der Psychologie und in der Psychoanalyse spreche man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wenn nicht einzelne narzisstische Symptome im Zentrum stehen, sondern die ganze Persönlichkeit narzisstisch orientiert ist, erläutert Wirth. „Solche Personen kennt man ja auch aus der Öffentlichkeit oder auch aus seiner Umgebung oder kann auch manchmal Züge bei sich entdecken. „Da wird eigentlich deutlich, dass das eine Lebenshaltung ist. Es gehört eben zur Persönlichkeit, dass man besonders sensibel ist im Hinblick auf narzisstische Themen."
Das bedeute ganz konkret, „dass einem besonders wichtig ist, dass man Beachtung findet". Es gebe aber auch das defensive, narzisstische Moment. „Das besteht darin, dass man sich leicht schämt oder schüchtern ist und sich phobisch ein Stück zurückzieht." Beide Elemente könnten aber auch in einer Person vereint bestehen. „Dass man seine schwachen Seiten eben bekämpft, indem man immer nach vorne geht und immer den anderen dominiert und die Scham oder Angst verwandelt in das Bedürfnis, den anderen zu beschämen. Dann ist man nämlich seine eigene Scham und seine Angst los und stellt den anderen bloß. Das ist typisches Merkmal von schwer narzisstisch gestörten Persönlichkeiten. Das spielt ja beim Ressentiment auch eine zentrale Rolle."
Aber Hans-Jürgen Wirth hebt es ein weiteres Mal hervor: Narzissmus ist meistens nicht pathologisch, also keine Krankheit – so wie auch Gutknecht das Ressentiment nicht als Krankheit sieht. Vielmehr könne man von „Persönlichkeitsstilen" sprechen, so Wirth. „Dass man eine bestimmte Art, eine bestimmte Grundhaltung zum Leben, zu anderen Menschen, zu sich selber hat, die in bestimmter Weise gefärbt und getönt ist, zum Beispiel in narzisstischer Hinsicht."

Verbitterung als Grundgefühl des Ressentiments

Wirth untersucht in seinem Buch, wie Gefühle in der Politik wirken, warum Populisten so viele Anhänger finden, nämlich durch das Schüren von Angst, Hass und Ressentiments – oder wie es sein kann, dass Verschwörungsgeschichten vormals unauffällige Menschen zu sogenannten Querdenkern machen.
Die Politik der AfD – getrieben vom Ressentiment?© Getty Images / Craig Stennett
Eines der Gefühle, die er untersucht, ist die Verbitterung. Das spiele neben den starken Gefühlen von Hass und Verachtung beim Ressentiment eine große Rolle. Das sei ein Phänomen, was für Psychotherapeuten auffällig ist. „Es gibt eben Patienten, die eine sogenannte Verbitterungsstörung haben. Die hat man gerade in den letzten Jahren intensiver in den Blick genommen, sodass sogar Überlegungen waren, ob das eine eigene Krankheitskategorie werden sollte oder könnte. Das ist vielleicht etwas übertrieben, weil die Verbitterung eben bei anderen Störungen sozusagen ein Untersymptom ist und kein eigenes Krankheitsbild abgibt. Aber das ist eine noch offene Diskussion." Das Grundgefühl der Verbitterung spiele beim Ressentiment eine zentrale Rolle.

Welche Wege führen aus dem Ressentiment?

Die zweite Frage ist also beantwortet: Jenes Ressentiment, das Thomas Gutknecht als Philosoph beschreibt, hat die psychologische Forschung auch schon gefunden. Nur eben unter einem anderen Namen: als narzisstische Persönlichkeitsstörung und vielleicht auch als Verbitterungsstörung. Bleibt die dritte, die wohl wichtigste Frage: Welche Wege führen aus dem Ressentiment heraus? Was hilft, die ständige Wiederkehr von Kränkung und Ohnmacht zu unterbrechen?

Der Königsweg, um aus einer misslichen Lage vor allem emotionaler Art herauszukommen, ist zunächst einmal die Bereitschaft, diese Lage anzuerkennen, und ein denkerischer Umgang.

Philosoph Thomas Gutknecht

Petra Elsner fand ihren eigenen Weg aus dem Ressentiment, das brüllende Theaterregisseure bei ihr ausgelöst hatten. Sie habe sich nicht mehr alles bieten lassen, erzählt sie. „Einmal habe ich sogar gesagt, ich gehe jetzt. Ich habe gemerkt, ich kann was und lasse mir das jetzt nicht gefallen." Sie habe sich gewehrt, sei selbstbewusster geworden. „Dann ist so ein Prozess gekommen: Ich bin ein Mensch, der schnell verletzt ist. Ich habe überlegt: Vielleicht warst du jetzt wieder zu verletzt. Dann habe ich darüber nachgedacht, wie viel mit mir zu tun hat und wie viel der Druck bei dem anderen dazu geführt hat, dass man sich so verhält."
Schließlich sei es ihr immer mehr gelungen, vieles nicht mehr so persönlich zu nehmen. „Ich habe eine Freiheit wiedergewonnen. Man könnte es vielleicht auch beschreiben: Ich konnte wieder atmen. Das war ein schönes Gefühl, das zu schaffen. Ich habe da zunehmend gesagt bekommen, dass ich nicht mehr so konfliktscheu bin, dass ich die Dinge beim Namen nenne und dass es guttut, wenn ich das anspreche. Ich spreche sehr viel an mittlerweile."

Versöhnung, Verzeihung und Vergebung

Für Gutknecht ist der Königsweg aus dem Ressentiment, dessen Vorhandensein bei sich selbst als erstes anzunehmen – und dann das, was er den „denkerischen Umgang" damit nennt: ein Verstehen seiner selbst, Verstehen der anderen. „Das ist das Allererste: Anerkenntnis und dann verschiedene Arten von Erkenntnis. Was dann erkannt wird, ist, dass es dringend nötig ist, da etwas aufzuarbeiten, was zu Bruch ging, was Scherben verursacht hat. Dann ist das, an was man denken kann: Versöhnung, Verzeihung und Vergebung."

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Thomas Gutknecht benennt die Unterschiede zwischen diesen drei Wegen, zwischen Versöhnung, Verzeihung und Vergebung. „Versöhnung hat damit zu tun, dass der andere nicht mehr unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, dass man mit ihm einen Streit hatte, sondern man jetzt einen neuen Weg sucht", sagt Gutknecht.
Der Begriff des Verzeihens wiederum komme von Verzicht. „Es wäre der Verzicht, weiter zu ressentieren. Es wäre der Verzicht, sich da irgendwie Vorteile daraus ziehen zu wollen, über die wir schon gesprochen haben, beispielsweise die moralische Überlegenheit. Diesen Verzicht zu leisten, das ist schon einmal etwas ganz Großartiges. Für mich noch großartiger ist der Begriff der Vergebung. Vergeben würde heißen, jemandem was geben, nämlich sich dafür einsetzen, dass er sich zurück-er-hält. Ich gebe ihm: einen neuen Anfang machen können. Ich gebe ihm die Möglichkeit, nicht der bleiben zu müssen, der er bis dahin war."

Durchdenken der Gefühle

Hans-Jürgen Wirth sagt ähnliches über den Weg aus dem Ressentiment, für ihn aus der narzisstischen Kränkung. Als Psychologe und Psychoanalytiker hat er dafür ein Fachwort: Mentalisierung. „Man verarbeitet Gefühle und ordnet sie ein, setzt sie in Relation, muss sie sich auch überhaupt mal bewusstmachen." Denn ein Großteil der Gefühle spielten sich unbewusst ab und seien trotzdem wichtig für unsere Orientierung. „Aber um sie wirklich nutzen zu können, ist es wichtig, dass Denken und Fühlen sich wechselseitig durchdringen. Der Neurowissenschaftler António Damásio sagt: Wir haben eben nicht nur Gefühle, sondern wir können die Gefühle auch lenken und durchdenken, die Gefühle durchdringen unser Denken. Dadurch wird es sehr viel tiefgründiger und weiter und entfaltet die spezifisch menschliche Kompetenz."

Buchhinweise:

Thomas Gutknecht: „Mut und Maß statt Wut und Hass: Ressentiments angemessen begegnen und Verantwortung übernehmen"
177 Seiten, 22,99 Euro, Springer Verlag, 2021

Hans-Jürgen Wirth: „Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit"
336 Seiten, 39,90 Euro, Psychosozial-Verlag, 2022

Einen geschützten Raum für das Durchdenken der eigenen Gefühle kann eine Psychotherapie schaffen. Der Arzt und Psychotherapeut Falk Eberle aus Stuttgart hat Thomas Gutknechts Buch genau studiert und fand das beschriebene Ressentiment auch bei seinen Patientinnen und Patienten. „Das Komische und Tragische dabei ist, dass diese Menschen oft immer wieder Situationen herbeiführen, in denen sie sich kränken lassen", sagt er. Die Psychotherapie sei dann ein geeigneter Rahmen, so etwas beispielhaft zu wiederholen, im guten Sinne. „Dass dieser Mensch in dieser Beziehung zum Psychotherapeuten vielleicht erstmals in seinem Leben so etwas wie Sicherheit erfährt."
Psychotherapeuten oder Psychotherapeutinnen bauen Vertrauen auf. Daraus entsteht eine Chance, dem anderen zu zeigen: Du bist ja gar nicht zerstört durch diese Verletzung. Du bist ja wer. Du bist ja angenommen.

Eine Kultur des Gönnens

Petra Elsner fand auch ohne Psychotherapie heraus aus dem Ressentiment, und es hat sich für sie gelohnt. „Ich freue mich jetzt, dass ich mich nicht mehr so oft schämen muss und mich an meiner eigenen Nase packen kann und nicht immer nur die Schuld bei dem anderen sehe." Das habe viel dazu beigetragen, dass es in ihrem Umfeld friedlicher geworden sei. „Da bin ich schon froh, dass ich so mein Herz aufgemacht habe für die anderen und nicht immer gedacht habe: Warum tut der mir jetzt weh?"
Thomas Gutknecht sieht seine Erkundung des Ressentiment noch lange nicht abgeschlossen. Er hat ein größeres Ziel, nämlich eine neue Art des miteinander Umgehens. „Jetzt muss etwas kommen, was das Ressentiment immer mehr austrocknet: Das Verwandeln von Feindschaft in Freundschaft, zum Beispiel durch Vergebung." Der große Kontext, das eigentliche Anliegen seines Buches sei das Werben für eine „Kultur des Gönnens, für eine Kultur der Generosität, für eine Haltung des Wohlwollens von Menschen gegenüber anderen Menschen".

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Stefanie Lazai
Technik: Martin Eichberg
Sprecherin: Christiane Jensen
Sprecher: Max Urlacher