Was interessiert mich mein Argument von gestern – Republik


Was interessiert mich mein Argument von gestern

Rechte, die linke Vokabeln jonglieren. Linke, die mitunter klingen wie rechte Populisten. Wie kommt es zu solchen Verschiebungen? Und was ist dran an der Behauptung einer neuen Unübersichtlichkeit?

Ein Essay von Nils Markwardt (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 29.12.2021

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Wirft man dieser Tage einen Blick auf die deutsch­sprachige Debatten­landschaft, bietet das traditionelle politische Koordinaten­system nur noch bedingt Orientierung. Ob beim Thema Pandemie­bekämpfung, bei Identitäts­debatten oder wenn es um das grundlegende Verhältnis zu Staat, Wissenschaft und Medien geht: Eine ganze Reihe von talking points scheint nicht nur ideologisch diffus geworden zu sein, sondern mitunter sogar komplett das politische Lager gewechselt zu haben.

Was vor nicht allzu langer Zeit noch als Argument aufseiten der Linken firmierte, findet sich mittlerweile auch und vor allem im rechten Spektrum – und andersherum.

Um nur drei Beispiele zu geben:

  • Galt der Verweis auf die Moral – gerne in Kombination mit Anstand – lange als konservatives Gegengift zum diagnostizierten Verfall der Sitten, ist aus denselben Kreisen das Wort heute meist in seinen Ableitungen «Moralisierung» oder «Hyper­moral» zu hören. «Moral» ist zu einem diskursiven Signal­code geworden, um die vermeintlichen Verheerungen links­liberaler Identitäts­politik zu kritisieren, die angeblich zu einem Überschuss an weinerlicher Sensibilität und zu aggressiver «Cancel-Culture» führen. Zugespitzt: Früher unterschied die Moral den recht­schaffenen Bürger vom Gammler, heute ist sie «wokes» Teufelszeug.

  • Für (bürgerrechts­bewegte) Linke gehörte es seit jeher zum guten Ton, sich durch ein skeptisches oder offen kritisches Verhältnis zu den staatlichen Bürokratien und Sicherheits­behörden auszuzeichnen. Heute findet sich im Zuge der Pandemie vor allem in diesem Spektrum grosse Unter­stützung für weitgehende Grundrechts­eingriffe, häufig wird sogar ein noch rigideres Vorgehen beim Erlassen und Kontrollieren von Kontakt­beschränkungen gefordert oder für ein härteres Durch­greifen der Polizei bei Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen plädiert. Im Gegenzug sind es wiederum vor allem Rechte und «Querdenker», die vor pandemischer Dauer­überwachung warnen und vor einer angeblichen «Diktatur».

  • Ebenso lässt sich im rechten Spektrum eine Kritik an Macht und Wissen beobachten, die bei oberflächlicher Betrachtung manchen linken, an Michel Foucault geschulten Überlegungen nahezukommen scheint. Während im linken Lager «Follow the Science»-Rufe zu hören sind und die Autorität der wissenschaftlichen Expertise unterstrichen wird, behauptet man im rechten Spektrum immer öfter eine macht­politische und ökonomische Agenda wissenschaftlicher Institutionen, man warnt vor einer «Expertokratie» oder verweist auf die Kapital­interessen der Pharma­industrie.

Angesichts solcher Beispiele stellt sich direkt die Anschluss­frage: Inwieweit trägt ein Links-rechts-Schema analytisch überhaupt noch?

Dieses Schema, liesse sich einwenden, ist ja per se schon so grobmaschig, dass es weder eine richtige «Mitte» kennt noch ideologische Schattierungen und Synkretismen zulässt – wodurch es Strömungen wie den Links­libertarismus oder den National­liberalismus von vornherein nur bedingt fassen kann. Mehr noch: Das Links-rechts-Modell scheint auch deshalb ungenau, weil viele zeitgenössische Leitfragen bereits innerhalb der jeweiligen politischen Lager kontrovers diskutiert werden.

Finden sich unterschiedliche Positionen zum Umgang mit der Flüchtlings­krise nicht in fast allen Parteien? Wird über identitäts­politische Diskurse nicht auch innerhalb der Linken gestritten? Und sind jene, die gegen die Corona-Schutz­massnahmen auf die Strasse gehen, tatsächlich durchweg rechts einzuordnen?

So grundsätzlich unscharf das grobe Links-rechts-Schema also daher­kommt: Als eine Art idealtypische Realfiktion ist es dennoch hilfreich, gerade auch, um diskursive Verschiebungen wie die oben genannten sichtbar zu machen. Es würde allerdings viel zu kurz greifen, diese Verschiebungen allein aus einer pandemischen Ausnahme­situation erklären zu wollen.

Tatsächlich lassen sich mindestens drei tiefer liegende Ursachen identifizieren. Diese besser zu verstehen, ist schon deshalb hilfreich, weil sie sich den oberflächlichen Behauptungen einer angeblichen Austauschbarkeit von rechts und links entgegen­halten lassen.

1. Auch die Demokratie kennt markt­förmige Strukturen

Bestimmte Aspekte der genannten Diskurs­verschiebung erscheinen nur auf den ersten Blick als wider­sprüchlich. Beim zweiten passen sie durchaus zur jeweiligen politischen Agenda.

Das gilt etwa bei den linken Plädoyers für eine rigide, auf vorüber­gehende Grundrechts­eingriffe setzende Pandemie­bekämpfung, wie sie sich exemplarisch etwa in der #ZeroCovid-Initiative zeigen. Dieser Idee liegt nicht nur eine spezifische Kosten-Nutzen-Abwägung zugrunde, nach dem Motto: Je konsequenter die Pandemie kurz- und mittelfristig bekämpft wird, desto weniger Einschränkungen werden langfristig nötig. Sie lässt sich vielmehr aus jenem allgemeinen Solidaritäts­gedanken erklären, auf dessen Basis im linken Spektrum ja auch staatliche Eingriffe ins Markt­system gefordert werden.

Ganz gleich, ob man diese Abwägung nun richtig oder falsch, illusionär oder gar autoritär findet: Sie stellt die Bürger­rechte zwar in der Tat für einen begrenzten Zeitraum hintan, leitet das aber aus einer drohenden Überlastung der Spitäler und dem Imperativ eines solidarischen Gesundheits­schutzes ab. Das mag strategisch gewisse Folge­probleme nach sich ziehen, es besitzt in der politischen Binnen­logik aber eine Folge­richtigkeit.

Das lässt sich nicht im gleichen Masse über die pandemie­politischen Forderungen von rechts­aussen sagen, wie sie etwa von der deutschen AfD, der österreichischen FPÖ oder der Schweizer SVP zu hören sind.

Dass hier die Gefahren des Virus herunter­gespielt, ja bisweilen sogar geleugnet werden, passt zwar zu deren notorisch flexiblem Verhältnis zu Fakten, ist ideologisch jedoch keineswegs selbst­erklärend. Denn gerade am rechten Rand schiene es zunächst genauso plausibel, das Virus als immense Bedrohung für die «Volks­gesundheit» zu begreifen, zu deren Schutz man wiederum jenes harte sicherheits­politische Durch­greifen fordern könnte, dem AfD und Co. bei den Themen Kriminalität oder Migration sonst gerne das Wort reden.

Und tatsächlich gingen die anfänglichen Reaktionen von Rechtsaussen-Parteien auf die Pandemie auch in diese Richtung.

Alice Weidel, Co-Fraktions­vorsitzende der AfD, die die Gefahren der Pandemie mittler­weile konsequent kleinredet, Stimmung gegen die Corona-Schutz­massnahmen macht und dabei sogar Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut persönlich angreift, twitterte am 26. Februar 2020 noch: «Unverantwortliche Verharmlosung durch Gesundheits­minister Jens #Spahn. Die Virologen bestätigen: Die Sterblichkeits­rate beim #Coronavirus ist zehn mal höher als bei einer normalen Grippe. Die Regierung unternimmt nichts, um die Risiken für die Bevölkerung zu minimieren.»

In Österreich warnte die FPÖ Anfang 2020 als eine der ersten Parteien vor den Gefahren des Virus, der heutige Parteichef Herbert Kickl sprach sich sogar für einen Lockdown aus. Nur wenige Wochen später schwenkte die Partei jedoch um hundert­achtzig Grad um, Kickl gehört mittler­weile zu den obersten Verharmlosern der Pandemie. Und auch die SVP forderte anfänglich noch eine Verschärfung der Corona-Schutz­massnahmen, darunter die Aufstockung der Spital­kapazitäten, das Schliessen der Grenzen sowie eine «allgemeine Trage­pflicht von Schutz­masken, wo ein Kontakt zwischen Menschen stattfindet».

Weshalb also änderten alle drei Parteien ihren Corona-Kurs schon bald so deutlich? Warum nehmen gerade jene politischen Kräfte, die im Fall von Ungeborenen für den «Lebens­schutz» kämpfen, de facto hin, dass so viele bereits Geborene vermeidbar sterben?

Eine Erklärung liefert Anthony Downs in seinem 1957 erschienenen Buch «An Economic Theory of Democracy» («Ökonomische Theorie der Demokratie»).

Laut dem US-amerikanischen Politik­wissenschaftler funktioniert die Demokratie im Prinzip wie ein Markt, auf dem Parteien und Wähler nach Rational-choice-Kriterien agieren. Sowohl die Angebots­seite, die Parteien, als auch die Nachfrage­seite, die Wählerinnen und Wähler, folgten bei ihren Entscheidungen vornehmlich einer Nutzen­maximierung. Auf der Angebots­seite fragt man sich deshalb: Was bringt Zustimmung? Auf der Nachfrage­seite: Wer dient am ehesten meinen politischen Anliegen?

Nun verfügt Downs’ Theorie insgesamt über empirische und konzeptionelle Schwächen, allen voran die, dass weder Parteien noch Wählerinnen und Wähler durchgehend rational agieren, sondern traditionelle Bindungen, irrationale Ängste und Wünsche oder gänzlich (un-)eigennützige Motive bei Wahlen ebenso eine Rolle spielen. Gleichwohl weist Downs auf den entscheidenden Punkt hin: dass politische Forderungen auch einer markt­förmigen Volatilität unterliegen. Sprich: Sie richten sich auch danach, wo verwertbare «Markt­lücken» erkannt werden.

Das gilt zwar grund­sätzlich für alle politischen Kräfte. Die «Markt­lücken»-Orientierung wird in der Regel aber von den rechts­populistischen Parteien am konsequentesten betrieben. Schliesslich beruht deren politisches Geschäfts­modell am stärksten auf der Aufrecht­erhaltung eines permanenten Erregungs­notstands. Dies wiederum bedeutet, dass der «Markt­lücken»-Opportunismus hier kaum von ethischen Skrupeln behindert wird. Entscheidend ist, dass diese Erregung – in der Sache sowie im Ton – exklusiv kultiviert wird. Oder um in der ökonomischen Metaphorik zu bleiben: Sie muss ein unique selling point sein.

Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum die Parteien just in dem Moment ihre Corona-Politik änderten, als die Krise voll durchzuschlagen begann. Als der pandemische Ausnahme­zustand praktisch weltweit zum Regierungs­programm avancierte und alle Parteien das Virus ernst nahmen, schwenkten die Rechts­populisten auf die Ausrufung eines anderen Ausnahme­zustands um. Nicht die Pandemie wurde nun als Problem adressiert, attackiert wurden nun die angeblich diktatorischen Schutz­massnahmen, die «interessen­geleitete» Wissenschaft oder die Pharma­industrie.

Kurz: Die Pandemie bot den Rechts­extremen und -populistinnen eine neue Möglichkeit, «dagegen» zu sein.

Das Ausstellen dieses unique selling point ist für AfD, FPÖ und SVP auch deshalb so strategisch wichtig, weil ihr politisches Kapital vor allem im Misstrauen liegt: gegenüber «dem System», «den Altparteien» oder «dem Mainstream».

Denn Misstrauen, darauf hat der Soziologe Niklas Luhmann in seinem 1968 erschienenen Buch «Vertrauen» hingewiesen, ist nicht einfach nur das Gegenteil von Vertrauen. Sondern zugleich auch seine funktionale Entsprechung. Beide, das Vertrauen wie das Misstrauen, sorgen auf ihre je eigene Weise für die Reduktion von Komplexität.

Wer etwa zum Arzt geht, mit dem Bus fährt oder die Nachrichten schaut, nimmt in der Regel vertrauensvoll an, dass der Busfahrer tatsächlich einen gültigen Führer­schein besitzt, die Ärztin durch ihr Studium ausreichend qualifiziert ist und in der Redaktion eine entsprechende Qualitäts­kontrolle herrscht. Würde man hingegen schlicht gar nicht vertrauen, wäre ein normaler Alltag unmöglich. «Wer nicht vertraut», so Luhmann, «muss daher, um überhaupt eine praktisch sinnvolle Situation definieren zu können, auf funktional äquivalente Strategien der Reduktion von Komplexität zurück­greifen. Er muss seine Erwartungen ins Negative zuspitzen, muss in bestimmten Hinsichten misstrauisch werden.»

Mit anderen Worten: Wer nicht vertrauen kann oder will, muss das Misstrauen kultivieren.

Die gesamte Umwelt erscheint dann tendenziell als feindselig, weshalb man sich vor allem Kampf-, Boykott- und Widerstands­strategien zulegt. Wie Luhmann schon damals bemerkte, hat dies dann allerdings eine entscheidende Konsequenz: «Wer misstraut, braucht mehr Informationen und verengt zugleich die Informationen, auf die zu stützen er sich getraut. Er wird von weniger Informationen stärker abhängig. Damit gewinnt die Möglichkeit, ihn zu täuschen, wiederum an Berechenbarkeit.»

Wenn rechtspopulistische Parteien also auf die Proteste gegen die Corona-Schutz­massnahmen aufgesprungen sind, obschon sich das zumindest nicht zwangsläufig aus deren ideologischen Kernprogrammen ergibt, dann vor allem deshalb, weil sich hier die geradezu idealtypische Chance bot, Menschen mit sogenannten «alternativen» Informationen an sich zu binden. Mit der «Querdenker»-Bewegung, die wenigstens am Anfang ja auch zu einem erheblichen Teil aus Menschen bestand, die sich selbst eher als «links» einordneten, offenbarte sich eine partei­politische «Marktlücke», um Misstrauen zu bewirtschaften und damit soziale Energien fürs eigene Projekt zu bündeln.

Nachdem das Misstrauen – buchstäblich – auf der Strasse lag, haben AfD, FPÖ und SVP sich daran­gemacht, es einzusammeln.

2. Regressive Rebellen

Wie bereits angedeutet, wäre es zu kurz gegriffen, misstrauens­getriebene Diskurs­verschiebungen ausschliesslich auf die Pandemie zu beziehen. Vielmehr sind Formen des eliten- und system­kritischen Wider­stands, die in der europäischen Nachkriegs­geschichte in der Regel im linken politischen Spektrum verankert waren, schon seit Jahren entweder ideologisch diffus geworden – man denke etwa an die «Gelbwesten» in Frankreich. Oder aber sie sind direkt im rechten Spektrum angesiedelt wie etwa bei den Protesten, die im Zuge der Flüchtlings­krise aufkamen.

Die Demonstrationen gegen die Corona-Schutz­massnahmen sind also keineswegs der Ausgangs-, sondern eher ein vorläufiger Höhepunkt für das schleichende Anwachsen eines regressiven Rebellentums.

Umso passender ist das Schlaglicht, das Oliver Nachtwey, Professor für Soziologie an der Universität Basel, und Maurits Heumann, Politik­wissenschaftler der Universität Luzern, in einem jüngst veröffentlichten working paper auf ebendiese «regressiven Rebellen» geworfen haben. Bereits 2017 wurden für ihre empirisch-qualitative Studie 16 Personen befragt, die einerseits Sympathien für die AfD aufweisen, sich andererseits aber auch bei Campact, einer eher linksprogressiven Kampagnen­organisation, engagieren.

Überraschenderweise ist dabei zunächst fast allen Befragten gemein, dass der in den letzten Jahren publizistisch immer wieder so hochgehängte Konflikt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus kaum eine Rolle spielte: Die so oft diagnostizierte Reibung zwischen urbanen Weltbürgern, die sich vor allem für Gender­sprache und Diversität interessieren, und ländlichen Milieus, die um ihren traditionellen Lebensstil und die Erosion der national­staatlichen Gemeinschaft fürchten, war nur ein unter­geordnetes Thema.

Das systemische Unbehagen der Befragten richtet sich weniger auf bestimmte Lebensstile. Es offenbart sich zunächst vielmehr als eine lebens­weltliche Version jener Kritik an politischen Eliten, wie sie im akademischen Rahmen etwa vom (linken) Politik­wissenschaftler Colin Crouch in seinem 2008 erschienenen Buch «Postdemokratie» formuliert wurde. Sprich: Es wird eine Entkernung demokratischer Institutionen und Verfahren beklagt, die bei den Befragten das Gefühl eines «parlamentarischen Einheits­breis» erzeugt. Wobei die Befragten – im schroffen Gegensatz zu Crouch – mit ihrer Diagnose dann auch vielfach die Abwertung von (migrantischen) Minderheiten verbinden.

Nachtwey und Heumann unterteilen die Befragten in zwei Gruppen: einerseits die «autoritären Innovatoren», Menschen also, die sich im Grundsatz noch in den Bahnen der konventionellen Institutionen und Sprach­regeln bewegen, diese aber subversiv zu unterlaufen versuchen. Andererseits die «regressiven Rebellen», die wesentlich nonkonformistischer denken und mehr Wert auf direkte Selbst­ermächtigung legen – weshalb die Studien­autoren sie auch als «antiautoritäre Autoritäre» bezeichnen. Diese Gruppe verfügt über keinerlei positives oder gar utopisches Ziel, ihre Stoss­richtung bleibt durchgehend destruktiv und führt zur inneren Verhärtung. Oder wie es in der Studie heisst:

Viele der regressiven Rebellen neigen zur Provokation, sie sind fast beständig im mentalen Modus antiautoritärer Meuterei gegenüber den liberalen Normen. Je nach Situation und Gruppe können sie Ausländer_innen zurecht­weisen, gegenüber Autoritäten aufbegehren oder Anders­denkende für verblendet erklären. Erzählungen von gesperrten Kommentaren im Internet, Auseinander­setzungen und Zerwürfnissen im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis sowie im Umgang mit Behörden, (seltener) mit Kundschaft und Kolleg_innen zeugen von dieser Grund­haltung: Das Zurück­nehmen der eigenen Position gilt als Schwäche, und das Aufbegehren wird zur Tugend erklärt.

Heumann, Nachtwey: «Autoritarismus und Zivilgesellschaft».

Es fällt nicht schwer, hier eine Einstellung zu erkennen, die sich auch bei einem erheblichen Teil der Demonstranten gegen die Corona-Schutz­massnahmen offenbart: Das regressive Rebellentum zeigt sich nicht nur weitgehend immun gegen Fakten und Argumente, es ist auch in einem hohen Masse affektiver Selbst­zweck.

Vor diesem Hintergrund nehmen die Proteste zunehmend den Charakter von Plattformen an, wie jüngst David Begrich, Experte für Rechts­extremismus, bemerkt hat. Die Demonstrationen dienen weniger der Artikulation konkreter politischer Forderungen, Ziele oder Ideen. Vielmehr dienen sie der Erfahrung von – anfangs eher karnevalesker, mittler­weile zunehmend aggressiv-vulgärer – Selbst­wirksamkeit.

3. Progressiver Neoliberalismus

Es lohnt sich, noch eine weitere nach Lechts-rinks-Verwirrung klingende Begriffs­prägung aufzugreifen.

Wer bislang assoziativ die Worte «progressiv» und «neoliberal» an unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums verortete, dürfte über einen zentralen Begriff der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser stolpern: «progressiver Neoliberalismus». So nennt Fraser eine Entwicklung, die in den 1980ern eingesetzt habe.

Der damals beginnende Siegeszug des neoliberalen Projekts, also die Deregulierung, Privatisierung und Finanzialisierung weiter Teile der westlichen Volks­wirtschaften, sei nämlich, so Fraser, nicht einfach aus sich selbst heraus zu erklären. War der durch den «New Deal» geprägte Umverteilungs­gedanke durch die damalige Stärke linker Parteien und Bewegungen noch zu dominant, brauchte es eine zusätzliche, ethische Legitimation für das neoliberale Projekt. Diese Legitimation bestand laut Fraser in der progressiven Anerkennungs­politik.

Frasers Erklärung geht in etwa so: Seit den 1980er-Jahren kommt es zu einem impliziten Bündnis zwischen zwei scheinbar getrennten Welten: den postindustriellen Knoten­punkten der New Economy – Wall Street, Hollywood, Silicon Valley – auf der einen Seite. Sowie den «neuen sozialen Bewegungen» – liberaler Feminismus, LGBTQ-Rechte, Umwelt­schutz – auf der anderen.

Obwohl Fraser diese Analyse vor allem auf die US-amerikanische Situation bezieht, hat sie im Grundsatz auch für Europa einige Plausibilität. Ähnlich wie die Demokraten in den USA haben auch hier sozial­demokratische und grüne Parteien vormalige wirtschafts­politische Vorstellungen über Bord geworfen und gleichzeitig neue gesellschafts­politische Ideen akzentuiert. Beispielhaft wäre hier die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder in Deutschland, die einerseits die Hartz-IV-Reformen einführte, andererseits die Familien- und Einbürgerungs­politik liberalisierte.

Nun gibt es, selbstverständlich, auch weiterhin gesellschafts­politisch konservative Spielarten des Neoliberalismus, man denke exemplarisch an weite Teile der britischen Tories oder der US-Republikaner. Dennoch avancierten der neoliberale Abbau des Sozial­staats und die linksliberale Anerkennungs­politik zunehmend zu einem wenn nicht gemeinsamen, so doch mindestens gleichzeitigen Projekt.

Eine Folge davon war, dass es Rechts­populisten nicht allzu schwerfiel, die negativen Seiten des durch die Deregulierung und Deindustrialisierung entstandenen Struktur­wandels – allen voran die sozioökonomische Prekarisierung und biografische Verunsicherung – als Ergebnis der linksliberalen Anerkennungs­politik hinzustellen. So konnten sich Donald Trump, AfD und Co. trotz neoliberaler Wirtschafts­programme mit der lautstarken Ablehnung von ebendieser Anerkennungs­politik nicht nur als Anwälte der «kleinen Leute» gerieren. Sie haben die Elitenkritik auch vom ökonomischen aufs kulturelle Feld verschoben. Als zu kritisierende Eliten firmieren aus dieser Warte dann nicht mehr vorrangig die Manager global agierender Unternehmen, sondern die Vertreterinnen eines vermeintlichen «linksliberalen Mainstreams» in Politik, Kultur und Medien, der über die Köpfe und Wünsche der «normalen Leute» hinweg­regiere.

Diese Entwicklung ruft einmal mehr eine neue Lechts-rinks-Verwirrung hervor. Denn auch ein Teil der Linken – siehe Sahra Wagenknecht und Co. – zieht die Schluss­folgerung, linksliberale Identitäts- und Anerkennungs­politik sei schuld an der Abwanderung vormaliger Wählerinnen­schichten und am relativen Bedeutungs­verlust des eigenen Lagers.

Wie die Philosophin Fraser selbst betont, sind progressive Sozialpolitik und Identitäts­politik jedoch keineswegs Gegensätze – schon deshalb nicht, weil sich gerade unter den working poor im Dienstleistungs­sektor ein erheblicher Anteil von Menschen mit Migrations­erfahrung befindet. Diese erfahren gruppen­bezogene Diskriminierungen und Abwertungen, die mit einer zusätzlichen Verschlechterung von Wohn- und Arbeits­verhältnissen einher­gehen können. Warum also sollte ausgerechnet die Linke Identitäts- und Sozial­politik gegen­einander ausspielen?

Die rechtspopulistische Regierungs- und Diskurs­praxis der letzten Jahre in unterschiedlichen Teilen der Welt hat indes gezeigt, dass in sozial-, gesundheits- oder wohnungs­politischer Hinsicht praktisch nichts von den Rechts­populisten zu erwarten ist. Sie nutzen die Debatte um Identitäts­politik vor allem strategisch, um das eigene Ressentiment als Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit auszugeben.

Was bedeutet all das?

Zunächst einmal: Wo Debatten vor allem auf der Ebene von Reiz- und Schlag­wörtern geführt werden, wird es in der Tat unübersichtlicher. Ausserdem kann es einem passieren, dass zentrale Begriffe des eigenen Werte­systems plötzlich auch von zweifel­hafter Seite im Mund geführt werden. Wer etwa ein Leben lang für die liberale Demokratie eintrat, muss erleben, dass auch aggressive Corona-Leugner «Freiheit» auf ihre Fahnen schreiben.

Von solchen Pseudo-Ähnlichkeiten aber sollte man sich nicht einschüchtern lassen. Der jeweilige Kontext lässt oberflächliche Über­einstimmungen auf der blossen Wortebene schnell in ihren fundamentalen Unter­schieden deutlich werden.

Stärker als zu Zeiten klar geschiedener Begriffs­sphären aber gilt wohl auch: Es ist unabdingbar, reflexiv mit solchen Diskurs­dynamiken umzugehen. Dazu gehört, sich nicht zum nützlichen Idioten jener Idee zu machen, dass politisch irgendwie alles austauschbar geworden sei.

So sehr man etwa die politische Linke für ihre blinden Flecke, ihre Selbst­gerechtigkeit oder ihren Pakt mit dem Neoliberalismus kritisieren mag: Der Widerstands­gestus von Rechts­aussen offenbart sich regelmässig als tumber Taschenspieler­trick. Das Geschäft mit dem Misstrauen der Menschen basiert darauf, dass die Wutunternehmer die Empörungs­dividende einstreichen, der Rest jedoch auf seinen Problemen sitzen bleibt. Über derartige Unterschiede kann keine Begriffs­kaperung und keine Aneignung vormals linker Protest­formen hinweg­täuschen.

Mit überraschenden Diskurs­verschiebungen sollte man indes auch künftig rechnen.

Nachdem Donald Trump jüngst bekannte, dass er seinen Booster-Shot bekam, rief er einen Teil seiner buhenden Fans zur Ordnung. Wladimir Putins Sprecher Dimitri Peskow liess wiederum verlauten, dass aktivistische Impfgegner «gefährliche Irre» seien. Dialektik der Gegen­aufklärung, sozusagen.

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie-Magazins». Für die Republik schrieb er zuletzt unter anderem über die Krise der Sozial­demokratie, über die Grünen in Deutschland und über den bundesdeutschen Wahlkampf.