Warum Jenny Odell fürs „Nichtstun“ plädiert
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Plädoyer fürs Nichtstun Ein Ich auf Wanderschaft
- Von Katharina Laszlo
- -Aktualisiert am 06.08.2021-22:28
Nichts wie raus aus der spätkapitalistischen Einöde: Jenny Odell plädiert für mehr Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie. Denn digitale Zerstreuung und permanente Selbstoptimierung gefährden unser politisches Bewusstsein.
Im Oktober 2016 führte die amerikanische Digitalkünstlerin Jenny Odell die Teilnehmer einer Vortragsreihe in San Francisco in einem virtuellen Rundgang durch eine lang vergangene Ära: die Mitte der Neunzigerjahre – eine Zeit, in der die Menschen dem Internet vor allem noch mit Verwirrung begegneten. Niemand wusste, wie man dieses Internet begreifen sollte, also sah man sich VHS-Kassetten und Fernsehspots an, in denen freundliche Männer in gebügelten Hemden es mit dem Autobahnsystem verglichen, während irgendein Jugendlicher im Hintergrund auf einem Bürostuhl balancierend Surf-Bewegungen machte. Beschloss man, sich die neue Welt nicht nur anzusehen, sondern sich ihr einzuschreiben, diskutierte man auf nichtkommerziellen Plattformen wie Usenet über Science-Fiction und Paläontologie und baute sperrige Geocities-Websites, auf denen man seine Haustiere präsentierte und blinkende Schreine für die Schauspieler von „Akte X" errichtete.
Die Nutzer mit den reinsten Herzen nannten sich „netizens", eine Ableitung von „citizens", also Bewohner eines abgesteckten Raums mit Rechten und Pflichten. Selbst skeptischere Gemüter hatten Grund zu glauben, das Internet würde die Erledigung von Dingen erleichtern, die man ohnehin tat – Zeitung lesen, ein Adressbuch führen, mit Kollegen kommunizieren und gleichzeitig zu Hause ein Sandwich essen –, nicht aber eine völlig neue Realität erschaffen, in der unsere Neugier und Geselligkeit zunehmend dazu missbraucht werden, die finanzielle und politische Macht riesiger Technologiekonzerne zu vergrößern.
Der Vortrag, den Odell „How to Internet" nannte, endete ursprünglich mit einer Anekdote über eine Zugfahrt, auf der sie ein angespanntes, bereicherndes Gespräch mit einem, wie sie vermutete, Trump-affinen Armeeveteranen und seinem Enkel geführt hatte, an deren Tisch sie im Speisewagen gesetzt worden war. Sie plädierte für „mehr Speisewagen im Internet", mehr Zufälle, mehr spontanen Austausch mit Fremden, wie es ihn ja schon einmal gegeben hatte.
Die Zerstückelung von Zeit in monetarisierbare Stunden
Doch als sie sich zwei Monate später daranmacht, den Vortrag zu verschriftlichen, hat der Ausgang der Präsidentenwahl diese Überzeugung bereits so naiv erscheinen lassen wie die alte Autobahn-Metapher: Wenn das Internet immer noch eine Autobahn ist, schreibt sie nun, dann eine, „auf der man auf der Basis von bisherigem Verhalten (und Kaufhistorie) gezwungen wird, zu den immer gleichen Orten zurückzukehren. Tatsächlich scheint der Highway selbst immer wieder in die eigene Nachbarschaft zurückzuführen, während andere Leute ihre eigenen festgelegten Routen haben, die nichts mit den eigenen gemeinsam haben."
Ungefähr zur selben Zeit beginnt Odell, fast täglich das Morcom Amphitheater of Roses zu besuchen, einen neunzig Jahre alten Rosengarten in ihrer Nachbarschaft in Oakland. Umgeben von Vögeln, deren Bestimmung sie mit David Sibleys Vogelbeobachter-Bibel allmählich lernt, sitzt sie stundenlang einfach nur da. Morgens lungert sie vor ihrem Küchenfenster herum, um eine Krähe und ihr Junges dabei zu beobachten, wie sie vom gegenüberliegenden Telefondraht in waghalsigen Sturzflügen auf die von ihr auf den Balkon geworfenen Erdnüsse zusteuern, und sich wiederum von ihnen beobachten zu lassen. Abends nach der Arbeit – Odell lehrt an der Kunstfakultät in Stanford – ertappt sie sich dabei, wie sie einen Umweg von der Bushaltestelle nimmt, um an einem Nachtreiher-Pärchen vorbeizukommen, dessen laserrote Augen und weiße Bäuche sie auf merkwürdig tröstende Weise an Geister erinnern, Geister aus Oaklands vorzivilisatorischer Vergangenheit als Sumpfgebiet.
Odell bringt sich mithin bei, wie man nicht ins Internet geht – Teil einer größeren Praxis, die sie „Nichts tun" nennt. Wie sie in ihrem gleichnamigen, in diesem Frühjahr bei C.H. Beck auf Deutsch erschienenen Buch schreibt, ist die Art, wie wir uns im Internet bewegen, nur eine weitere Wucherung in einem ganzen Ökosystem spätkapitalistischer Einöde, das Produktivität, Wachstum und Optimierung über Instandhaltung, Regeneration und Pflege stellt, die Zerstückelung von Zeit in vierundzwanzig potentiell monetarisierbare Stunden fördert, den Niedergang des öffentlichen Raums vorantreibt und nicht zuletzt die Gesundheit der Erde gefährdet.
Wie ein kluger Verdurstender eine Fata Morgana betrachtet
Dieses Ökosystem, führt sie aus, ist nicht nur unwirtlich für die artgerechte Entfaltung des Individuums, das es in einen Zustand permanenter Ablenkung versetzt und ihm abverlangt, sein „klumpiges, poröses" Selbst in eine glatte, unveränderliche Oberfläche, eine „reibungslos funktionierende kognitive Kraft" zu verwandeln. Ebenso hat es gravierende gesellschaftliche Konsequenzen: Wenn wir zu zerstreut sind, um wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, können wir nicht als verantwortungsvolle politische Subjekte handeln. Wenn wir unsere Gedanken zu einem Brei anrühren, der in der kontextlosen Leere der sozialen Medien von möglichst vielen Menschen verschlungen werden soll, wird das, was wir sagen, nicht viel Bedeutung haben. Wenn wir uns – ewig klickend, teilend, tippend, likend, scrollend, suchend – von unseren eigenen pavlovianisch abgerichteten Gehirnen in einer angstbeladenen Gegenwart gefangen halten lassen, werden wir blind für historische Zusammenhänge und unsere Verankerung im physischen Raum.
Odells Bestandsaufnahme, ihre Forderung nach einem Schutz der Aufmerksamkeit als „letzte zurückhaltbare Ressource", ihre Definition von „Zurückgezogenheit, einfacher Geselligkeit und Beobachtung" als „unverzichtbare Rechte" ist weder neu noch besonders drastisch. In seinem 2018 veröffentlichten Buch „Stand Out of Our Light" warnt der Oxforder Technikethiker (und ehemalige Google-Werbestratege) James Williams vor einer Aufmerksamkeitsökonomie, die uns langfristig nicht nur daran hindere, „das Leben zu leben, das wir leben wollen", sondern es sogar schwerer mache, „zu wollen, was wir wollen wollen". Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff hat die Ernte von Aufmerksamkeit und privater menschlicher Erfahrung in den digitalen Werbemärkten mit dem Organhandel verglichen.
Für viele Kritiker liegt die Lösung dieser Probleme in staatlichen und überstaatlichen Umbrüchen, von einer grundlegenden Veränderung der Finanzierungsform der sozialen Medien über neuartige Gewerkschaftsmodelle bis hin zu einem Verbot von Online-Werbemärkten. Odell betrachtet solche Schritte ungefähr so wie ein kluger Verdurstender eine Fata Morgana von Wasser in der Wüste: befürwortend, aber unwillig, das eigene Überleben davon abhängig zu machen.
Die Beobachtung der Umwelt bleibt ergebnisoffen und zwecklos
Das größte Potential für Veränderung sieht sie vielmehr in individuellen Akten der Verweigerung, die dann Raum schaffen für kollektives Aufbegehren. Sie blickt zurück auf den West Coast Waterfront Strike von 1934, eine Graswurzelbewegung, die letztlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Häfen an der amerikanischen Westküste zur Folge hatte. Nachdem sich „The Waterfront Worker", eine anonym publizierte Protestschrift über die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen der Hafenarbeiter, 1932 rasant verbreitet hatte, begannen diese, sich mit Hilfe einer überregionalen Hafenarbeiter-Gewerkschaft zu einem neuen politischen Organ zusammenzuschließen. Ihr Streik, dem sich bald auch Matrosen, Ingenieure, Heizer, Köche und Kapitäne anschlossen, erstreckte sich über dreitausend Kilometer entlang der Küste und wurde – mitten in der Großen Depression – von Sympathisanten mit Tausenden von Dollar unterstützt. Schließlich erfasste der Protest San Francisco: Nach wiederholten Versuchen der Arbeitgeber, die Streikpostenkette zu durchbrechen, und dem von der Polizei verantworteten Tod zweier Menschen legten mehr als hunderttausend Leute überall in der Stadt die Arbeit nieder. Das ist es, glaubt Odell, was auch heute gebraucht wird: ein Projekt des „Boykotts und der Sabotage", ein „Schauspiel des Zuwiderhandelns".
Trotzdem wirbt sie nicht für einen ähnlichen Generalstreik, einen theatralischen Massenexodus aus dem Internet, den sie für impraktikabel und widersprüchlich hält – wie kann der ausgebeutete Internethafenarbeiter die Entsprechung des „Waterfront Worker" effektiv verbreiten, ohne gleichzeitig genau die aufmerksamkeitskapernden Kommunikationsmechanismen zu nutzen, die er vorgibt, bekämpfen zu wollen? Stattdessen geht es ihr um einen „Widerstand an Ort und Stelle", erreicht durch eine „massenhafte Verschiebung von Aufmerksamkeit". Eine der konzeptuellen Schwächen der Aufmerksamkeitsökonomie sei die Annahme, ihre „Währung" sei „einheitlich und austauschbar" und diese Einheiten von Aufmerksamkeit undifferenziert und unkritisch. Hier, schreibt sie, gilt es anzusetzen und ein „Training" zur Rückgewinnung und Umschulung von Aufmerksamkeit zu entwickeln, um sie dann andernorts zu investieren.
Odell zeichnet eine Reihe von Begegnungen mit dem nach, was sie, im Rückgriff auf den Umweltaktivisten Peter Berg, als ihre unmittelbare „Bioregion" bezeichnet; keine davon erfordert einen kategorischen Ausbruch aus der Zivilisation, weder auf die bewährte Art Henry David Thoreaus (Einsiedelei in der Wildnis) noch deren heutiges Gegenstück (sich ausloggen). Während sie sich von einer Hochzeitsfeier in Südkalifornien zu einem nahegelegenen Wanderweg absetzt, um mithilfe der Naturkundler-App iNaturalist die dort heimischen Pflanzen ausfindig zu machen, oder auf der Suche nach dem Ursprung ihres Leitungswassers einen von Google Maps gelenkten Roadtrip entlang des Mokelumne River unternimmt, dokumentiert sie, wie ihre Wahrnehmung immer detaillierter wird: aus einem „Haufen Grünzeug" werden Mammutbäume, Eichen und Brombeersträucher, aus einem altbekannten Bach, der hinter dem Gebäude ihres ehemaligen Kindergartens in Cupertino und auch an der raumschiffähnlichen Apple-Zentrale vorbeifließt, die jahrtausendealte Verbindung zwischen Table Mountain und der Bucht von San Francisco. Je genauer sie beobachtet, desto mehr sieht und desto weniger versteht sie. Egal, wie lange sie es tut, das Betrachten der Tiere und Pflanzen um sie herum bleibt mysteriös, ergebnisoffen und zwecklos – das Gegenteil der algorithmischen Logik der Aufmerksamkeitsökonomie also, für die sich die Betrachterin zunehmend nutzlos werden sieht.
Mit der Genauigkeit und Melancholie des Nature Writing
Dies ist, wie man sieht, ein merkwürdiges Buch. Seine sechs Kapitel, die weniger in einer geraden Linie auf einen argumentativen Endpunkt zusteuern, als dass sie sich wie konzentrische Kreise um den Begriff des „Nichtstuns" formieren, sind am einfachsten nach Genre zu unterscheiden. Das erste, „Plädoyer für das Nichts", basiert auf einem Keynote-Vortrag, den Odell 2017 auf einem Kunst- und Technologiekongress gehalten hat – einschließlich einer diskursiven Achterbahnfahrt aus Anekdoten über ihre Eltern, neomarxistischen Überlegungen zur Gig-Economy und dem obligatorischen Verweis auf das taoistische Konzept nützlicher Nutzlosigkeit, die zwar hervorragend dazu geeignet ist, ein Live-Publikum aus seinen Tagträumen über das Mittagsbuffet zu reißen, den Leser eines zumindest semiakademischen Texts aber eher benommen zurücklässt.
Dass es sich um einen solchen Text handeln könnte, suggeriert das zweite Kapitel, ein wohltuend trockener historischer Überblick über reale und erdachte Abkopplungsversuche von der dominanten Kultur (Epikurs Gartenschule, anarchistische Kommunen der 1970er-Jahre, zeitgenössische tech-libertäre Post-Nation-Dystopien). Das letzte Drittel wiederum ist bestimmt von jener Mischung aus naturwissenschaftlicher Genauigkeit und prä-apokalyptischer Melancholie, wie sie sonst das zutiefst persönliche, politisch wache Nature Writing von Helen Macdonald oder Robin Wall Kimmerer kennzeichnet.
Insgesamt gibt sich Odell wenig Mühe, ihre eigenen Gedanken aus all den Kontexten zu lösen, aus denen sie erwachsen sind. Sie lässt es wimmeln von anderen Stimmen und Perspektiven, zitiert Galionsfiguren der Kontinentalphilosophie (Martin Buber, Hannah Arendt, Gilles Deleuze) und deren kosmopolitische Nachfolger (Franco Berardi, Donna Haraway, Sarah Schulman) genauso wie den Erfinder der sogenannten „Nichts-Tun-Landwirtschaft", den japanischen Bauern Masanobu Fukuoka, ihren ehemaligen, seinerseits Emily Dickinson zitierenden Literaturprofessor genauso wie eine Gruppe Kinder, die sie für ein Schulprojekt zu ihrer kommunalen Zugehörigkeit befragt. Im esoterischsten Buchladen der Welt fände man „Nichts tun" vielleicht am ehesten unter „instabiles, gestaltwandlerisches Ding"-Hilfe, wie Odell ihre Vorstellung des „Selbst" in der Einleitung definiert.
Vernichtende Selbstkritik und perfekter Werbeslogan
Viele dieser Merkwürdigkeiten sind das Ergebnis des Versuchs, das Buch demselben Nutzlosigkeitsprogramm zu unterziehen, das Odell auch sich selbst verordnet, in der Hoffnung, es so vor einem Schicksal als technokapitalistisches Fetischobjekt bewahren zu können, als Buch-Äquivalent eines Floating-Tanks. Funktioniert hat dies selbstverständlich nicht. Als es im Frühjahr 2019 in den Vereinigten Staaten bei einem Kleinverlag erschien und zum Überraschungsbestseller wurde, war „How to Do Nothing" auf so vielen Timelines zu sehen, dass welcher Millennial auch immer damit betraut war, „junge" Titel für Barack Obamas verkaufsfördernde Jahresendliste zu recherchieren, es gar nicht hätte übersehen können. Ein Auszug über die Kommodifizierung sogenannter Digital Detoxes in einem britischen Kunstmagazin wurde sofort von einem Account namens „Digital Detoxes" auf Twitter geteilt, nach eigener Beschreibung eine „#digitaldetox-Ressource". Zwei Jahre später beruft sich das Wall Street Journal in einem Artikel namens „Wie Produktivität mit dem Nichtstun beginnt" noch immer auf Odell.
„Nichts tun" selbst kann für solche Vereinnahmungen mehr als Audre Lordes Konzept der „Self Care", aber nicht viel mehr. Was seine charakteristische Mehrbödigkeit betrifft, fühlt man sich als Leser weniger wie die Zielscheibe irgendeines ultracharmanten Achtsamkeits-Bots als wie die etwas lahmende Begleitung eines wild assoziierenden, zu Umwegen neigenden, aber eindeutig menschlichen Ichs auf Wanderschaft. In der Tat liest sich „Nichts tun" am geschmeidigsten als eine Art autofiktionaler Bildungsroman, unzuverlässig erzählt von einer jungen Frau, die versucht, herauszufinden, wo, wie und mit wem sie ist und sein soll.
Während sie gegen die Widerspruchmultiplikationsmaschine Twitter anargumentiert, besitzt diese Erzählerin die genau daran geschulte Tendenz, ihren Standpunkt bis zur Selbstzerfleischung einzuschränken: Gewiss habe nicht jeder genügend wirtschaftlichen Spielraum, um die Art Aufmerksamkeit zu mobilisieren, für die sie eintritt; dies sei das Privileg all jener, deren Existenzgrundlage nicht darauf basiert, konstant online und erreichbar zu sein. Gegen Ende ihrer langen Lesereise stand Odell einmal vor der Power-Point-Projektion einer Kieferntangare und fragte, zugleich eine vernichtende Selbstkritik und den perfekten Werbeslogan für ihr Buch formulierend: „Beobachte ich Vögel oder erfülle ich nur das Bild einer Vogelbeobachterin? Lebe ich oder pflege ich meine Marke?"
Analoge Tugenden wie Nachbarschaftlichkeit und Besonnenheit
Man verzeiht dieser Fragerin, dass sie in einer Anleitung zum „Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie" Begriffe wie „Antikapitalismus" und „Aufmerksamkeitsökonomie" nie richtig definiert (und ist dankbar für die sparsame Verwendung von „neoliberal"). Man wendet sich nicht an sie, um Empfehlungen für gesetzgeberische Maßnahmen zu erhalten. Wofür man sich an sie wendet, sind die teilweise widersprüchlichen Einsichten einer einzelnen, zwanghaft belesenen Person, die, wie viele Protagonisten der meistbeachteten englischsprachigen Romane der vergangenen Jahre, verhandelt, wie man weiter Schönheit in einer Welt findet, in der Vögeln und Menschen die Orte zum Leben ausgehen, wie man ihre Systeme herausfordert, während man unentwirrbar in diese verwickelt ist, wie man versucht, den Schaden auf sie zu begrenzen, ohne sich dabei komplett aus ihr zu tilgen.
Die Nähe zur radikalen Subjektivität des Romans ist schlüssig: In Anbetracht einer Außenwelt, von der sie zu viel weiß und an der sie glaubt, zu wenig ändern zu können, prüft Odell, wie die meisten dieser Protagonisten, die Bedingungen individueller Handlungsfähigkeit, die Wirkmächtigkeit von Innerlichkeit. Anders als sie, die sich auf sardonische Apathie als erträglichste emotionale Reaktion auf ihre Umstände geeinigt zu haben scheinen, ist sie weder angstgelähmt noch zynisch. Sie ist frei von Ironie, außer der Sorte, mit der man ein aktivistisches Buch über ein monumentales Werteverschiebungsprojekt schreibt, es bis zum Rand mit Verben wie „fragen", „zuhören", „betrachten" und „suchen" füllt (sowie die besonders Odell-typischen „versuchen" und „besuchen") – und es dann „Nichts tun" nennt.
Sie glaubt, dass wir trotz allem gute Chancen haben, analoge Tugenden wie Nachbarschaftlichkeit, Besonnenheit und Willenskraft in die Zukunft hinüberzuretten, vielleicht sogar digitale Räume zu schaffen, in denen diese Tugenden gedeihen können. Als Vorläufer beschreibt sie die Indie-Plattform „Mastodon", ein gemeindeeigenes, aus unabhängig betriebenen Knotenpunkten bestehendes soziales Netzwerk, das eine feine Kontrolle der gewünschten Zielgruppe erlaubt und so „zu einer gesunden Wiederherstellung von Kontext" beitragen könne, sowie lokale „Mesh"-Netzwerke – ein durch miteinander verknüpfte WLAN-Router entstehendes Parallel-Internet, wie es in einer Handvoll amerikanischer Städte schon einige Nachbarschaften umspannt und es ihren Bewohnern so ermöglicht, „ihrem Ort zuzuhören".
Die frustrierendste Seite dieses formwandlerischen Buchs
Es ist jedoch vielleicht kein Zufall, dass „Mastodon" nach den seit über zehntausend Jahren ausgestorbenen Vorfahren der Elefanten benannt ist. Auch Odells utopische Ideen sind nicht immer leicht von ihren nostalgischen zu unterscheiden, ihr Internet der Zukunft von ihrem Internet der Vergangenheit. Es ist ein Internet, das die Menschen nur noch nutzen, um sich zu „stundenlangen Spaziergängen" zu verabreden oder Bürgerversammlungen zu organisieren, interessant genug, um sich auf folgenlose Art die Zeit zu vertreiben, aber zu unwichtig, um es zu betörender, verstörender Kunst zu verarbeiten, wie Odell selbst es seit Jahren tut. Odell beteuert glaubhaft, „nicht gegen Technologie" zu sein. Doch wann immer sie sie mit genuiner Freude in Verbindung bringt, hat diese klar im Dienst von etwas zu stehen, das sie glücklicherweise nie „das reale Leben" nennt, es aber genauso gut hätte tun können.
Dies ist die frustrierendste Seite dieses formwandlerischen Buchs: das reaktionäre kulturkritische Pamphlet, eine Textart, deren Überzeugungskraft maßgeblich darauf beruht, so zu tun, als seien ihre schlimmsten Befürchtungen bereits eingetreten. Für eine Theoretikerin, die ihre Analyse so tief in komplexer individueller Erfahrung verankert, ist Odell sich bemerkenswert sicher, wie es sich anfühlt, heute online zu sein – entsetzlich –, interessiert sich dann aber kaum für die Beschaffenheit dieser Entsetzlichkeit. Was ist so fundamental anders daran, sich auf einer Wanderung von einem Vogel ablenken zu lassen, falsch abzubiegen und unvermittelt auf eine malerische Aussicht zu stoßen, und sich auf Wikipedia im Kreis drehend alles über das Unglück am Djatlow-Pass von 1959, den Wettlauf ins All und den vierunddreißigsten amerikanischen Präsidenten zu lernen?
Wie jedes künstlerische oder theoretische Werk beschreibt „Nichts tun" nicht nur einen Ausschnitt der Welt zu einer bestimmten Zeit, sondern ist auch aus ihm heraus entstanden – ein Umstand, den Odell mit aller Kraft zu verwischen versucht. In gewisser Hinsicht ist dies weise; die scharfsinnigste Untersuchung der aktuellen Lage gelingt nicht unbedingt in einer Verfassung, die Betroffene auf Twitter mehr oder weniger liebevoll als „online brain" bezeichnen.
Erst Panik, dann Seelenfrieden
Aber man fragt sich, was passiert wäre, wenn Odell ihre intellektuelle Großzügigkeit, ihre umtrainierte Aufmerksamkeit auf diese seltsame Erscheinung selbst gerichtet hätte: das fehlerhafte Internet der Gegenwart, seinen ganzen fragmentierten Müll, aber genauso seine Unerschöpflichkeit, seine Fähigkeit, zu überwältigen. Dieses Gefühl der Unverständlichkeit war lange das Spezialgebiet der Natur. Empfanglos in einer abgelegenen Hütte bemerkt Odell, ihr Handy sei nun „nicht mehr ein Portal zu tausend anderen Orten, eine mit Grauen und Potentialität aufgeladene Maschine", sondern „einfach ein schwarzes Metall-Rechteck".
Diese Erkenntnis versetzt ihr zunächst eine „Panikattacke", doch nur zwanzig Minuten später hat sie einen Zustand von „Seelenfrieden" erreicht. Etwas Neues, Begutachtenswertes blitzt auf in diesem engen Raum, dem Abstand zwischen Grauen und Potentialität, Furcht und Ruhe, aber Odell ist schon dazu übergegangen, von Levi Felix zu erzählen, dem Gründer eines Sommerlagers zur digitalen Entgiftung, und dazu, ein geradlinigeres Buch zu schreiben, als sie vermutlich beabsichtigt hatte.
Wenn Odell sich für eine „schützende Haltung" gegenüber allem ausspricht, „was von dem, das uns menschlich macht, übrig geblieben ist", spart sie um dieser Geradlinigkeit willen die sehr menschliche Neigung aus, immer neue Wege zu erfinden, unser Aufmerksamkeitsvermögen zu strapazieren, den Geist dazu zu drängen, mehr zu sehen, mehr zu wissen, mehr sagen zu können. Die Sorge, die diese Neigung schon immer begleitet, hat die Menschen nicht davon abgehalten, ihre Gedanken zu verschriftlichen, Bücher zu drucken oder Radio zu hören – alles Tätigkeiten, die zuerst als Bedrohung für das Gedächtnis, die Vernunft und die politische Urteilskraft gesehen wurden, bis sie irgendwann als besonders schützenswert, besonders menschlich galten. Was ist, wenn unsere Menschlichkeit, statt ständig vor dem Verschlucktwerden bewahrt werden zu müssen – vom Kapitalismus, von den aus ihm entspringenden neuen Technologien –, in Wahrheit selbst der Verschlucker ist, unendlich dehnbar und gierig nach Umformung? Wie würde es aussehen, diese Möglichkeit mit der gleichen Geduld, Erfindungsgabe und Zärtlichkeit zu betrachten, die Odell den Vögeln, Bäumen und Bergen entgegenbringt?
Quelle: F.A.Z.
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