Von Putin bis Erdoğan: Wie pazifiziert man die Revisionisten? | Blätter für deutsche und internationale Politik


Von Putin bis Erdoğan: Wie pazifiziert man die Revisionisten?

Die Rückkehr der Geopolitik nach Europa

Bild: Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin beim CICA-Gipfel in Astana, Kasachstan, 13.10.2022 (IMAGO / ITAR-TASS / Vyacheslav Prokofyev)

Wer bei dem Krieg im Osten der Ukraine nur auf die Ukraine schaut, der sieht zu wenig. Denn eigentlich gehört zu dem Gebiet, in dem der Krieg inzwischen endemisch geworden ist, in jedem Fall der Kaukasus hinzu. Dieser Raum von Tschetschenien über Georgien bis nach Armenien und Aserbaidschan ist hochgradig fragil. Und wenn wir noch genauer hinschauen, gilt das auch für die der Ukraine gegenüberliegende Küste des Schwarzen Meeres, die Türkei, die seit geraumer Zeit das betreibt, was man eine neoosmanische Politik nennt. Man könnte das auch als eine neoimperiale Politik bezeichnen, bei der in ähnlicher Weise imperiale Phantomschmerzen auftreten, wie das bei Putin der Fall ist – also die Erinnerung an einstige Macht und Größe, an den Glanz früherer Zeiten, den man sich wieder verschaffen will.

Erdoğans Agieren an der Südgrenze der Türkei nach Syrien hinein ist dafür ein Beispiel. Aber auch seine ständigen Rempeleien im Ägäischen Meer gegen die Griechen erinnern daran, dass es nicht von ungefähr kommt, wenn sich Erdoğan und Putin in mancher Hinsicht gut verstehen, nämlich im Hinblick auf die Frage: Wie können wir den Status quo verändern und wieder näher an die Verhältnisse herankommen, von denen wir glauben, dass sie eigentlich für uns geeignete Verhältnisse waren und sind – das alte russische Reich aus Zarenzeiten und das einstige Osmanische Reich an der Schnittstelle dreier Kontinente?

Aber auch Teile des Balkans gehören zu diesem Raum zwischen Krieg und Frieden. Hier finden wir die dritte latent revisionistische Macht, und das ist Serbien als der Verlierer des jugoslawischen Zerfalls. Sowohl was das Kosovo als auch was Bosnien anbetrifft, ist Serbien bestrebt, die bestehenden Grenzen zu ändern, etwa durch den Anschluss der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina an Serbien.

Wenn die Dinge schlecht laufen, kann man nicht ausschließen, dass diese vier gegenwärtig noch voneinander getrennten Konflikträume zu einem einzigen großen Krisenherd zusammenwachsen, bei dem der eine beobachtet, was der andere macht, und anschließend versucht, in dessen Windschatten seine eigenen Interessen durchzusetzen. Deswegen war meine Befürchtung auch die ganze Zeit nicht so sehr, dass Xi Jinping das Momentum des Ukrainekriegs zur gewaltsamen Annexion Taiwans nutzen würde, sondern eher, dass die Türkei eine sehr selbständige Politik als Mittelmacht betreiben würde – eine Türkei, die sich nur noch am Rande als die Nordostflanke der Nato begreift und in gewisser Hinsicht die Nato-Mitgliedschaft als den atomaren Schutzschirm gegenüber Russland in Anspruch nimmt, aber darunter eine Politik der eigenen Interessen betreibt. Und dass Serbien gezielt die notdürftig beruhigten Konflikte auf dem Balkan neu anfacht, um seinen Vorstellungen von einem wieder größeren serbischen Staat näherzukommen.

Krisenzentrum Schwarzes Meer

Fassen wir zusammen: In der Mitte dieses gewaltigen Krisenraumes liegt das Schwarze Meer, nördlich davon die Ukraine, östlich davon der Kaukasus, in dem es in den letzten Monaten immer wieder zu Kämpfen gekommen ist. Die Probleme zwischen Aserbaidschan und Armenien sind ungelöst. Südlich des Schwarzen Meers haben wir die Türkei, die seit vielen Jahrzehnten einen Krieg gegen die Kurden führt, dessen Wurzeln bis zum Friedensvertrag von Sèvres zurückreichen. In diesem Pariser Vorort wurde 1919 der Frieden mit der Türkei beziehungsweise dem Osmanischen Reich geschlossen, der einen eigenständigen Kurdenstaat vorsah. Doch Mustafa Kemal, der starke Mann in der damaligen Türkei, weigerte sich, dies zu akzeptieren, und verhinderte mit militärischen Mitteln, dass ein Kurdenstaat entstand. Die Franzosen verfügten damals über Truppen in Nordsyrien, die sie hätten einsetzen können, um die Bestimmungen der Pariser Friedensordnung durchzusetzen. Nach ihren ungeheuren Verlusten während des Ersten Weltkriegs, die, relativ betrachtet, größer als die deutschen waren, taten sie dies jedoch nicht. Im Friedensvertrag von Lausanne von 1923 war daher von einem Kurdenstaat keine Rede mehr. Weil die Kurden damit nicht einverstanden sind, flammt der Krieg in der Türkei regelmäßig wieder auf, um dann auch wieder in sich zusammenzusacken. Wir haben es also mit einer neoosmanischen Politik von Erdoğan oder der AKP zu tun, einer Politik, die von der Erinnerung an das Osmanische Reich getragen ist. Darin ist Erdoğan der kleine Bruder Putins, der ja auch von der Erinnerung umgetrieben wird, dass Russland einst eine Macht am Schwarzen Meer war, und der förmlich in Erregung gerät, wenn er an Katharina die Große zurückdenkt, die diesen Raum für Russland hat erobern lassen. Kurzum: Im Norden wie im Süden des Schwarzen Meeres spielen historische Erinnerungen eine zentrale Rolle, die ich als „imperiale Phantomschmerzen" bezeichnen möchte.

Wenn wir den Ukrainekonflikt wirklich begreifen wollen, müssen wir also diesen größeren Raum betrachten. Geopolitik, deren Fragen und Antworten wir jetzt wieder in zunehmendem Maße zu bedenken genötigt sind, sucht geographische Räume unter dem Gesichtspunkt ab, wo sich Konflikte mehren oder überlappen und deswegen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Kriegen besteht. Bei dieser Suche sticht der Raum um das Schwarze Meer hervor, und zwar als ein Balken, der tief nach Europa hineinragt und tendenziell bis Bosnien und Herzegowina oder vielleicht auch noch weiter reicht. Dieser Balken mit einer Länge von etwa tausend Kilometern wird die Europäer auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen. Und er wird sie, wenn sie ihn pazifizieren wollen bzw. müssen, viel Geld und Mühe kosten.

Betrachtet man diesen Raum historisch und nicht nur geographisch, wie ich das eben getan habe, dann kann man ihn als eine Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs begreifen. Denn er umfasst Räume, die bis dahin von multinationalen, multikonfessionellen und multilingualen Großreichen, also dem Reich der russischen Zaren, dem Reich der osmanischen Sultane und der Donaumonarchie, dem Reich der Habsburger, nicht besonders gut, aber doch tendenziell nach innen pazifiziert beherrscht worden sind und bei denen es nach 1918 nicht gelungen ist, stabile Nationalstaaten zu schaffen: Sie umfassen entweder mehrere Nationen, oder ein Teil der sich den Titularnationen Zurechnenden lebte außerhalb des Nationalstaats.

Imperien versus Nationalstaaten

Eine Alternative zu Nationalstaaten war die Wiederherstellung imperialer Gebilde. 1922 – genau genommen am 30. Dezember 1922 – wurde Sowjetrussland, wie es bis dahin hieß, in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken umbenannt. In gewisser Hinsicht war das ein Versuch, das Multinationale, aber auch das Multilinguale in einem Raum zusammenzufassen und als politische Konfliktfelder zu neutralisieren.

Der Zerfall der Sowjetunion brachte dann einen Raum hervor, in dem alle Probleme der schwierigen Nationalstaatsbildung wieder da waren. Das gilt in mancher Hinsicht auch für den Raum der Donaumonarchie, wo man sagen kann: Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wie es ursprünglich hieß und dann Jugoslawien genannt wurde, war ebenfalls ein Versuch, nationale, ethnische, konfessionelle und sprachliche Unterschiede durch die Bildung einer übergreifenden politischen Größe zu neutralisieren.

Der Zerfall beider Gebilde nach 1990/91 hat eine Fülle von Problemen aufgeworfen, die nach wie vor virulent sind und die genannten revisionistischen Mächte hervorgebracht haben: Russland und Serbien. Interessant ist, dass in diesem Fall nicht der Zweite Weltkrieg, den wir normalerweise bei der Suche nach den historischen Wurzeln von Konflikten auf dem Schirm haben, sondern der Erste Weltkrieg und die Ordnungsideen der Pariser Friedensordnung die Gegenwart bestimmen – und es in hundert Jahren nicht gelungen ist, diese Probleme aufzulösen.

Das hat Gründe: Die Siedlungsweise dort ist nicht so beschaffen, dass sich Nation und Staat so ohne weiteres zur Deckung bringen lassen. Beispiel Ungarn: Nach dem Frieden von Trianon, also dem Vertrag der Pariser Friedensordnung mit Ungarn, leben bis heute 40 Prozent derer, die sich Ungarn nennen, außerhalb des Gebiets des ungarischen Staates. Deswegen führten die Ungarn 1920 auch einen Krieg gegen Rumänien, den sie allerdings klar verloren. Der Schal, den Viktor Orbán bei einem Fußball-Länderspiel im November 2022 demonstrativ trug, war eine Erinnerung an das einstige „Groß-Ungarn". Aber auch die Polen führten in der Zwischenkriegszeit, also von 1919 bis 1939, mindestens vier Kriege gegen die Sowjetunion, in denen es wesentlich um die Frage ging, zu wem die Westukraine gehört: zu Polen oder zu Sowjetrussland? Zu Beginn der 1920er Jahre siegten die Polen und die Westukraine wurde daraufhin zu einem Teil des polnischen Staatsgebiets. Im Hitler-Stalin-Pakt kam sie zur Sowjetunion, was nach dem Zweiten Weltkrieg dann mit der „Westverschiebung" Polens nicht rückgängig gemacht, sondern festgeschrieben wurde.

Türken gegen Griechen: Die Jahrhundertwende 1922/23

Die eigentliche Katastrophe dieses Raums war jedoch in den Jahren 1922/23, also vor exakt hundert Jahren, der Krieg zwischen Griechen und Türken, in dem es um die Frage ging, wem die kleinasiatische Ägäisküste gehöre und dazu auch Teile der südlichen Schwarzmeerküste. Die Griechen hatten damals die Vorstellung, so etwas wie ein großes Griechenland errichten zu können, so wie die Polen dachten, ein großes Polen, orientiert am polnisch-litauischen Reich des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, aufbauen zu können. Die Griechen verfolgten die Idee, jenen Raum, den Byzanz einmal beherrscht hatte, zumindest Teile davon, als Großgriechenland zu vereinen. Das ging aber schief, woraufhin es zu den gewaltigen Vertreibungen kam: von 300 000 „Thrakern", die in die Türkei vertrieben wurden, wie von 1,5 Millionen Griechen, die aus der Türkei nach Griechenland umgesiedelt wurden. Diese Konflikte sind nach wie vor da – und bloß stillgestellt dadurch, dass heute beide Staaten Mitglied der Nato sind. Und trotzdem haben uns die Konflikte um die Gasfelder in der Ägäis in den letzten Monaten massiv beschäftigt.

Kurzum: Im Raum um das Schwarze Meer hat der Erste Weltkrieg eine Fülle von Problemen hinterlassen, die jetzt wieder auftauchen. Zweifellos ist das ein Raum, der die Europäer in der Zukunft noch sehr viel Geld kosten wird. Und zwar nicht nur infolge des Wiederaufbaus der Ukraine, sondern auch dann, wenn sie ihrer Strategie folgen, Räume durch Wohlstandstransfer zu befrieden. Das aber führt zum zweiten Punkt, den es in diesem Kontext zu behandeln gilt: das Comeback revisionistischer Mächte.

Revisionistische Mächte sind dadurch definiert, dass sie nicht einverstanden sind mit der bestehenden Ordnung, vor allem mit den gegenwärtigen Grenzziehungen, die sie revidieren wollen. Man kann also sagen: Die Kunst bei der Schaffung von Friedensordnungen besteht darin, einen Frieden herzustellen, der keine revisionistische Macht aufweist. Das aber gelang eigentlich nur 1648 in Münster und Osnabrück, nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, und vielleicht noch einmal 1815 beim Wiener Kongress. Das ist der ewige Ruhm der österreichischen Diplomatenschule: Trauttmannsdorff und Metternich. Graf Trauttmannsdorff, der in vierjährigen Verhandlungen den Westfälischen Frieden schuf, hatte begriffen, dass – indem er alle Probleme nacheinander verhandeln ließ – am Schluss kein Akteur da war, der die Vorstellung hatte: Bei nächster Gelegenheit muss diese Ordnung wieder umgeworfen werden. Und Ähnliches gilt auch für Metternich und den Wiener Kongress. Aber danach gab es, sieht man vom „innerdeutschen" Krieg und Frieden von 1866 einmal ab, keine revisionistenfreien Friedensverträge mehr. Im Frankfurter Frieden von 1871 war klar, dass Frankreich eine revisionistische Macht ist. In der Pariser Friedensordnung von 1919 war klar: Nicht nur Deutschland ist eine revisionistische Macht, sondern auch Sowjetrussland, weil dem Zarenreich erhebliche Teile seines früheren Gebiets weggenommen wurden, vor allem durch die Schaffung der „kleinen Entente", die vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer reichte und einen Cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland bildete.

Aber auch Italien war nach 1919 eine revisionistische Macht, wiewohl es auf der Siegerbank saß. Man sprach dort vom beschädigten Sieg, und eben das verhalf Mussolini an die Macht. Vielleicht beließ man es deswegen im Jahr 1945 bei den Vereinbarungen von Jalta und Potsdam, und zwar mit dem Argument: Wir machen erst gar keinen Friedensvertrag, weil ein solcher so viele Unzufriedene hervorbringt. Und das Ganze wurde 1990 dann auch nicht wieder aufgeschnürt, wiewohl es die Forderung nach einem abschließenden Friedensvertrag durchaus gab. Aber die Befürchtung, dass dies zwangsläufig dazu führen würde, dass erneut revisionistische Mächte entstehen, war schlicht zu groß.

Allerdings ist nun, auch ohne dass es einen Friedensvertrag gegeben hätte, eine revisionistische Macht entstanden, nämlich mit dem Zerfall der Sowjetunion. Eigentlich war bereits am 31. Dezember 1991 klar, dass Russland ein revisionistischer Akteur werden würde. Nur weil das Land zu Beginn viel zu sehr mit sich beschäftigt war, begriff es dies selbst noch nicht. Dazu bedurfte es erst der berüchtigten Rede Putins im Jahr 2005, in der er sagte, der Zerfall der UdSSR sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Von diesem Zeitpunkt an war die Sache klar, da hatte Putin die Karten auf den Tisch gelegt: Russland ist auf Revisionen aus. Und die Türkei? Sie ist inzwischen – jedenfalls mit der AKP und ihrem neo-osmanischen Kurs – seit 15 Jahren ebenfalls ein revisionistischer Akteur. Und wenn man genau hinschaut, gilt das auch für Serbien. Es fühlt sich als der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege und möchte einiges an den Ergebnissen dieser Kriege ändern. Damit stellt sich also die Frage: Wie pazifiziert man revisionistische Mächte?

Erste Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Wohlstandstransfer

Die erste Lösungsstrategie, sicher nicht historisch, sondern systematisch betrachtet, lautet Wohlstandstransfer. Man bindet die revisionistischen Mächte in eine Wirtschaft ein, die prosperiert, in der es den Leuten gut geht, sodass die Ressentiments, die Erinnerungen an die einstige „große Vergangenheit", mehr und mehr an Bedeutung verlieren, bis man den gegenwärtigen Wohlstand höher schätzt als die historisierenden Narrative, wie sie etwa von Putin zuletzt fortdauernd ins Spiel gebracht worden sind. Dass speziell die Deutschen das Projekt der Pazifizierung durch Wohlstandstransfer gut finden, ist historisch durchaus nachvollziehbar. Denn in gewisser Hinsicht fuhr vor allem die alte Bundesrepublik, die Bonner Republik, genau auf dieser Schiene. Nicht sogleich, zugegeben, denn bis Ende der 1960er Jahre spielten die Vertriebenenverbände mit ihren Rückkehrforderungen eine größere Rolle. Aber das veränderte sich zunehmend. Die Brandt-Wahl von 1972 war ein Zeichen dafür, dass der Revisionismus sich in Folklore verwandelt hatte, dass die verschiedenen Landsmannschaften in ihren Trachten sich zwar noch trafen und Dicke-Backen-Musik hörten, die Vertriebenentreffen aber kein wirklicher politischer Appell zur Änderung der Grenzen mehr waren. Und so richtete sich die alte Bundesrepublik dann auch mit der Anerkennung der deutschen Grenze zu Polen in diesen Verhältnissen ein und ließ den Revisionsimpuls hinter sich.

Putin und die europäische Rechte

Vielleicht liebt die politische Rechte in Europa Putin ja auch deswegen, weil sie so ähnliche Narrative ins Spiel bringen will wie er. Dürfte man in Europa ähnliche Narrative lancieren, wie Putin dies tut, würde das in Deutschland oder auch sonst in Europa zu einer Explosion von Revisionismen führen. Dann würde alles wieder zur Debatte stehen. Dann würden wir noch einmal über „Strasbourg bleibt Straßburg" reden und natürlich auch über Ost- und Westpreußen, Hinterpommern, die verschiedenen Schlesiens und vieles mehr. Man kann also sagen: Die europäische Ordnung von der Montanunion bis heute ist, und zwar nicht nur, was die Deutschen anbetrifft, ein Projekt der Pazifizierung von Räumen durch Wohlstand oder Wohlstandstransfer. Das gilt auch für die Osterweiterung, die ja für die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) auch deshalb keine leichte Entscheidung war, weil man sich damit eine Reihe von Nettoempfängerstaaten und potenziellen Veto-Spielern in die Union holte. Trotzdem galt: Es war zu verhindern, dass die Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 in Ostmitteleuropa wiederkehrt. Und dieses Projekt war durchaus erfolgreich.

Die komplementäre Funktion zu Wohlstandstransfers ist wirtschaftliche Verflechtung. Also war es naheliegend zu sagen: Wir versuchen, Russland als den großen potentiell revisionistischen Akteur zu pazifizieren, indem wir dessen Energieträger und Rohstoffe kaufen, weil die für uns viel billiger, ja sogar ökologisch verträglicher sind als die Alternativen, weil sie über Pipelines transportiert werden. Und wir verkaufen im Gegenzug dafür den Russen fortgeschrittene Technologie.

Auf diese Weise schaffen wir einen Wohlstandstransfer nach Russland, auf den die Herrn im Kreml angewiesen sind, weil die aus Europa kommenden Gelder dazu dienen, die Pensionäre, die Staatsbediensteten und weitere bezahlen zu können. Zugleich hoffen wir darauf, dass es ebenso gut funktioniert, wie es in Europa und vorher bei den Deutschen funktioniert hat. Das war – so kann man es vereinfacht sagen – der Steinmeier-Plan, der von Angela Merkel umgesetzt worden ist.

Das Problem dabei ist: Man benötigt auf der Gegenseite an der politischen Spitze einen homo oeconomicus, der kalkülrational an die Dinge herangeht, der sich fragt, was er verliert, wenn er ein solches Projekt aufgibt oder ruiniert, und was er gewinnt, wenn er es weiterführt. Einen, der nicht den Ressentiments aus historischer Erinnerung folgt, der sich also nicht von imperialen Phantomschmerzen leiten lässt. Das war – und ist – das eine Problem dieser Form der Einbindung eines Revisionisten. Das andere Problem waren die nicht zustande gekommenen Trickle down-Effekte, also das fehlende Durchsickern der Wohlstandstransfers bis zur einfachen Bevölkerung. Dass viele der transferierten Gelder direkt bei den Oligarchen ankamen, hat uns im Westen freilich nicht so furchtbar geärgert, weil viele dieser Oligarchen hier unter anderem ihre Yachten haben bauen lassen. Dadurch wurden hier Arbeitsplätze geschaffen, während die Wohlstandseffekte bei großen Teilen der russischen Bevölkerung nicht ankamen. Das aber hatte strategische Folgen: Putin konnte westliche Sanktionen politisch in Kauf nehmen, da diese das Leben der Menschen in Russland gar nicht sogleich und auch nicht grundlegend verändert hatten.

Zweite Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Appeasement

Die zweite Option, einen revisionistischen Akteur einzubinden, ist das Appeasement. Dabei kommt man dem Revisionisten entgegen und fragt ihn, was er denn geändert haben wolle. Und gibt nach, um ein Nachgeben des Revisionisten zu erreichen. Nun hat Appeasement wegen des Münchner Abkommens keinen guten Ruf. Aber auch nach 1938 kam Appeasement nicht außer Gebrauch. Das Camp-David-Abkommen, der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten von 1978, beruht auf einem solchen Appeasement: Wir Israelis geben euch Ägyptern den Sinai zurück und ihr unterschreibt dafür den Friedensvertrag. Land gegen Frieden, lautete die Devise, die auch einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern begründen sollte, was aber letztlich nicht geklappt hat. Appeasement war auch im Minsker Abkommen enthalten: Wir, die für die EU beteiligten Frankreich und Deutschland, anerkennen die Annexion der Krim völkerrechtlich nicht, aber thematisieren das Problem auch nicht – und zwar dafür, dass Russland in den Separatistengebieten des Donbass für Ruhe sorgt, sodass sie zu einer frozen conflict zone werden. Aber das hat Putin nicht genügt. Im Gegenteil: Es hat ihn, wie der 24. Februar 2022 bewiesen hat, nur noch hungriger gemacht, anstatt ihn zu beruhigen – wie in München 1938.

Das genau ist immer das Risiko einer Appeasementpolitik. Man kann die Seite aber auch umblättern und stellt fest: Was Chamberlain 1938 in München gegen Hitler gewann, war vor allen Dingen Zeit. Und in dieser Zeit kurbelte er die Produktion von Spitfires in England an. Ohne die ab dann gebauten Jagdflugzeuge hätten die Briten die Luftschlacht über England 1940 nicht gewonnen.

In gewisser Hinsicht hat auch die Ukraine durch das Minsker Abkommen Zeit gewonnen und diese genutzt. Das seither weit professionellere Agieren der ukrainischen Armee, von der Art der Führung, dem taktischen Gebrauch elektronischer Waffensysteme bis zur flexiblen Reaktionsweise, ist das Ergebnis ihres Trainings durch amerikanische Sicherheitsfirmen von 2014 bis 2022. Denn zunächst einmal ging es nach Kriegsbeginn gar nicht um die Frage der schweren Waffen, die geliefert wurden oder auch nicht, sondern um den Gebrauch von elektronisch gesteuerten, relativ kleinen Waffensystemen zur Bekämpfung von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Auf dieser Grundlage – durch Zeitgewinn infolge von Appeasement – haben die Ukrainer die Schlacht um Kiew in der ersten Phase des Krieges gewonnen.

Dritte Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Abschreckung

Die dritte Form, mit einem revisionistischen Akteur umzugehen, ist deterrence, also Abschreckung durch Aufbau eigener militärischer Fähigkeiten. Damit dem Revisionisten klar ist: Wenn du versuchst, deine Ziele in Form von Krieg zu erreichen, wirst du mehr verlieren, als du im günstigsten Fall gewinnen kannst. Dahinter steht die Logik: Lass lieber die Finger davon, es wird dir nichts bringen.

Das aber ist ausgesprochen kostspielig auch für diejenigen, die eine solche Politik der Abschreckung betreiben. Denn während sie vom Prinzip des Wohlstandstransfers selber profitieren, etwa durch die ökonomische Verflechtung der russischen und der europäischen Wirtschaftskreisläufe, ist der Aufbau entsprechender Fähigkeiten zum Zwecke der Abschreckung richtig teuer. Und schon taucht die Frage auf, was man eigentlich davon hat. Der Revisionist agiert ja zunächst noch gar nicht revisionistisch, sondern verhält sich ruhig. Aufrüstung würde dagegen die Möglichkeit nehmen, die so entstandene Friedensdividende zu konsumieren. Folglich gibt es gerade in Demokratien keine große Neigung, in Abschreckung zu investieren.

Man denke nur an die seit Jahren geführte Debatte darüber, ob tatsächlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Militär zu investieren seien. Diese zwei Prozent bedeuten eine erhebliche Einschränkung der Möglichkeiten eines Landes. Oder anders gesagt: Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass der Sozialetat weit höher ist als der Militäretat, während es noch zu meiner Studentenzeit exakt umgekehrt war. Daraus folgt: Solange der Revisionist sich noch nicht wirklich revisionistisch gezeigt hat und entsprechend agiert, ist es in Demokratien ausgesprochen schwierig, auf Abschreckung zu setzen. Scholz‘ Zeitenwende-Rede ist insofern eine Reaktion auf das, was am 24. Februar 2022 unübersehbar geworden war: Der Versuch, Putin mit wirtschaftlicher Macht einzubinden, ist gescheitert. Das Appeasement hat nicht funktioniert. Also muss radikal umgestellt, müssen 100 Milliarden und mehr für die Bundeswehr aufgewandt werden.

Das aber wird uns für lange Zeit weiter beschäftigen, denn es hat gravierende Folgen für Deutschland und Europa insgesamt: Sie werden den Höhepunkt ihres Wohlstandes auf Jahrzehnte überschritten haben, nicht nur wegen der Entkoppelung des russischen und des europäischen Wirtschaftskreislaufes, sondern auch wegen des Erfordernisses, dass die beiden kostengünstigen Lösungen der Revisionisteneinbindung, wirtschaftliche Verflechtung und Appeasement, nicht mehr greifen, und wir auf die sehr viel teureren militärischen Lösungen zurückgreifen müssen – entweder auf Abschreckung oder gar, wie gegenwärtig, auf einen heißen Krieg.

Das größte Problem, das sich für 2023 stellt, ist, wie man zwei Akteure dazu bringt, miteinander zu verhandeln, während beide Ziele haben, die sie mit militärischen Mitteln verfolgen und für die sie bereits erhebliche Opfer gebracht haben. Mit etwas mehr Platz ließe sich das anhand von Clausewitz‘ Klassiker „Vom Kriege" diskutieren, und zwar entlang der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen dem Zweck des Krieges und den Zielen des Krieges. Der Zweck bedeutet, was wir „mit dem Krieg" erreichen wollen. Die Ziele beschreiben, was wir „in dem Krieg" erreichen wollen. Daran kann man sehen, dass der Angreifer, also Russland, zunächst einmal weitreichende Ziele hatte, während er einen zentralen Zweck verfolgte, nämlich die Ausschaltung der Ukraine als eigenständiger politischer Akteur.

Um diesen Angreifer an den Verhandlungstisch zu bringen, muss man ihm klar machen, dass er seine Ziele nicht erreichen kann, oder dass die Erreichung dieser Ziele für ihn so teuer und so desaströs sein wird, dass er als politischer Akteur darüber möglicherweise zusammenbricht. Das aber läuft auf die Stärkung der ukrainischen Durchhaltefähigkeit hinaus, sei es durch die Lieferung von Waffen oder sei es, was letzten Endes genauso wichtig ist, durch die Garantie der Zahlungsfähigkeit des ukrainischen Staates.

Wie gelingt ein Verhandlungsfrieden?

Inzwischen hat die russische Armee einige schwere Niederlagen erlitten, insbesondere die Rückeroberung von Cherson ist hier zu nennen, sodass man davon ausgehen kann, dass die Russen tatsächlich irgendwann bereit sein werden, zu verhandeln – auf welcher Grundlage auch immer. Aber wie kann man die Ukraine dazu bringen, ihrerseits zu verhandeln, solange ein Teil des Landes ihr abgenommen ist, sie aber inzwischen recht erfolgreich operiert und im Rahmen der Gegenoffensive Gelände zurückgewinnt? Die Frage lautet also: Wieviel Gelände muss – aus unserer Sicht als Beobachter des Geschehens, aber auch als Unterstützer der Ukraine – zurückgewonnen sein, damit die politisch Verantwortlichen der Ukraine Verhandlungen aufnehmen können?

Die Deutschen und die Franzosen setzen offenbar auf die Wiederherstellung des Status quo vom 23. Februar 2022. Sie schließen also nicht die Krim und auch nicht die kleinen Gebiete Donezk und Luhansk in die Wiederherstellung des Status quo ein. Die englische Position ist ein bisschen anders: Sie zielt auf die Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen, in denen sie 1991 entstanden ist. Das hat zu tun mit dem Budapester Memorandum von 1994: In diesem wurde der Ukraine – für die Abgabe der Atomwaffen, die ihr aus der Konkursmasse der Sowjetunion zugefallen waren, an Russland – die Unversehrtheit ihrer Grenzen garantiert. Unterschrieben wurde es von den Amerikanern und Briten wie von den Russen und Ukrainern. Weil aber die Briten nicht ernstlich etwas unternahmen, als 2014 mit der Krimannexion das Memorandum massiv verletzt wurde, nehmen sie wenigstens heute eine etwas andere, rigorosere Position als Franzosen und Deutsche ein.

Die Amerikaner wiederum scheinen eine ganz andere Vorstellung zu haben, nämlich die eines lange zu führenden Krieges gegen Russland mit dem Ziel, die Tiefe der russischen Logistik und vor allen Dingen die Breite ihres Offizierskorps aufzuzehren und auf diese Weise sicherzustellen, dass die Russen in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht mehr in der Lage sind, einen Krieg dieses Ausmaßes zu führen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat sich klar in diese Richtung geäußert, und auch einige Äußerungen von Außenminister Antony Blinken legen diese Einschätzung nahe.

Heißt das also, dass es auf absehbare Zeit gar keine Verhandlungen geben wird? Das ist noch nicht ausgemacht. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn Russland weiß, dass dies die amerikanischen Ziele sind, weil das sein Einschwenken auf die Zielsetzungen der Deutschen und Franzosen wahrscheinlicher macht. Denn wenn die Herrn im Kreml noch irgendeine Kalkülrationalität besitzen, ist ihnen klar, dass ein unendlicher Krieg auf eine für sie katastrophale Entwicklung hinausläuft. Sie müssen diesen Krieg bald beenden, weil sie sonst die Tiefe ihrer Logistik und die Tiefe ihrer militärischen Personalbestände verlieren werden.

Noch ist schwer zu sagen, wie das Ringen letztlich enden wird. Aber eins ist klar: Kiew wird sich auf Friedensverhandlungen oder auf Verhandlungen über einen stabilen Waffenstillstand nur dann einlassen, wenn die Europäer der Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien geben. Das müssen die Freunde des Friedens wissen, die lautstark „Verhandlungen jetzt!" fordern. Denn Sicherheitsgarantien zu geben heißt: Beim nächsten Angriff der Russen – oder auch der Ukrainer – sind die Europäer dann selbst Kriegspartei.

Konsequenzen für die Weltordnung

Zum Abschluss sei noch kurz die Frage beleuchtet, welche globalen Konsequenzen sich aus dem Beobachteten ableiten lassen. Oft wird gesagt, das alles sei zunächst nur ein europäisches Problem und es gebe doch auch noch viele andere Probleme auf der Welt, wie Klimawandel und Artensterben, die in globaler Hinsicht wichtiger seien. Das aber verkennt die Dimension der Ereignisse. Denn das Konzept, einen Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen, also auf der Grundlage von wirtschaftlicher Verflechtung als Pazifizierungsinstrument, ist nicht nur gegenüber Russland gescheitert, sondern zugleich ist auch der Traum ausgeträumt, eine weitgehend pazifizierte Weltordnung durchzusetzen, in der Krieg durch Schiedsgerichte abgelöst wird. Und das gilt auch für die Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen, die ja substitutiv für Kriegführung stehen.

Dieses Konzept ist global gescheitert. Es ist vielleicht nicht erst am 23. oder 24. Februar 2022 gescheitert, sondern vermutlich schon mit dem Rückzug aus Afghanistan und der damit einhergehenden Aufgabe eines Konzepts der Transformation, das dem Westen auf Dauer zu teuer geworden ist.

In der islamischen Welt scheiterte die Strategie der pazifizierenden Transformation durch Wohlstandstransfer an der Versiegelung der Mentalität eines großen Teils der Bevölkerung durch die Religion. Das war und ist die politische Funktion des Islams, andere Werte zu setzen als die Mehrung des Wohlstandes. Die Religion hat verzögert, dass das globale und universelle Konzept des Westens wirksam geworden ist. Am Ende wurde es schlicht zu teuer und zu anstrengend; und die Hüter, sprich: vor allen Dingen die USA, waren überfordert. Wenn wir genauer hinschauen, so war bereits Donald Trumps Formel America first die Verabschiedung der USA aus der Rolle des Hüters dieser globalen Ordnung.

Ein Blick in die Zukunft: Fünf große Mächte dominieren die Welt

Nun war ursprünglich ja auch nie daran gedacht, dass die USA diese Rolle übernehmen sollten, sondern die UNO. Aber die UNO ist eben nur so stark, wie ihre Mitgliedsländer bereit sind, dem Generalsekretär Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Und diese Bereitschaft war von Beginn an sehr eingeschränkt. Der UN-Generalsekretär hat bis heute keine Standby Forces zur Verfügung, die er – wie in der UN-Charta eigentlich vorgesehen – im Falle einer Krise selbstständig einsetzen kann, sondern er muss die USA oder die EU darum bitten. Oder er muss feststellen, dass finanzschwache Länder, die überdimensionierte Armeen ohne echte Kampfkraft, besitzen, ihm gerne Truppen zur Verfügung stellen, die dann mit blau gestrichenen Helmen das Problem eher vergrößern, als es zu lösen.

Weil es aber heute keinen Hüter der Weltordnung gibt, wird es auch nicht möglich sein, eine normativ ausgerichtete Weltordnung durchzusetzen, da diese auf einen solchen Hüter angewiesen ist. Die Alternative dazu ist die Rückkehr zu quasiphysikalischen Modellen, also zu Gleichgewicht, Übergewicht und derlei mehr.

Darum an dieser Stelle nun eine abschließende Prognose: Die neue Weltordnung dürfte von fünf Akteuren bestimmt werden. In der Geschichte der internationalen Systeme ist „Fünf" die Zahl, die immer dann auftaucht, wenn es nicht um unipolare oder bipolare, sondern um multipolare Ordnungen geht. Die Italiener praktizierten das erstmals während des 15. Jahrhunderts im Frieden von Lodi, und fünf waren es auch in der Westfälischen Ordnung nach dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück: der Kaiser in Wien, Spanien, Frankreich und England, dazu Schweden als Militärmacht. Doch mit der Schlacht von Poltawa 1709, als Peter der Große den Schwedenkönig Karl XII. schlug, womit Russland zu einer Großmacht aufstieg, war die Geschichte Schwedens als europäische Großmacht vorbei. An seine Stelle trat Preußen, das so ähnlich strukturiert war wie Schweden: ökonomisch nicht besonders stark, dafür aber militärisch, mit einem ausgezeichneten Offizierskorps. Auch Spanien schied aus, weil es sich mit anderen Fragen und Regionen, insbesondere in Lateinamerika, beschäftigte und in der europäischen Politik nicht mehr mitspielen wollte. Es wurde durch Russland ersetzt.

So waren es wieder fünf wichtige, große Player. Und so waren es eigentlich immer fünf, genau wie heute im UN-Sicherheitsrat bei den ständigen Mitgliedern. Und diese sind sehr bedacht darauf, dass es nicht mehr werden, weil das ihre Vetoposition schwächen würde.

Wer werden die großen Fünf sein?

Wer aber werden die großen Fünf der derzeit sich herausbildenden neuen Weltordnung sein? Mit ziemlicher Sicherheit die USA und China auf derselben Ebene. Das heißt, wir sollten die Vorstellung schleunigst verabschieden, das amerikanische Zeitalter gehe zu Ende und ein chinesisches Zeitalter beginne. Es wird keine Staffelholzübergabe stattfinden, so wie einst von London nach Washington oder New York. Die USA und China werden sich die Position der ersten Macht teilen. Daneben, als Juniorpartner der Chinesen, vermutlich Russland. Nicht aufgrund seiner wirtschaftlichen Fähigkeiten, sondern aufgrund des Umstandes, dass Russland über mehr als 50 Prozent der weltweiten Atomwaffen verfügt. Und dazu auch über die erforderlichen Trägersysteme. Zudem aufgrund seiner geopolitischen Lage, der nordasiatischen Landbrücke.

Auch die Europäer könnten dazugehören, als Juniorpartner der USA, angewiesen auf den amerikanischen Nuklearschirm oder auch selbstständig, wenn sie über eine eigene nukleare Komponente verfügen. Derlei ist im Augenblick aber nicht erkennbar. Es wird aber in der Tat eine spannende Frage sein: Werden die Europäer eine eigene nukleare Komponente aufbauen, um nicht mehr so „blank" dazustehen, wenn andere, so wie jetzt Putin, die nukleare Eskalationsdominanz ins Spiel bringen? Oder werden sie es lassen? Gerade mit Blick auf eine weiterhin mögliche Präsidentschaft Donald Trumps oder eines Ron DeSantis und eine mögliche Abkopplung der USA von Europa ist diese Frage von anhaltender Brisanz.

Und vor allem stellt sich die Frage, ob es den Europäern gelingt, von einem bloßen Regelbewirtschafter zu einem politisch handlungsfähigen geostrategischen Akteur zu werden? Man könnte sagen, die von-der-Leyen-Kommission geht die ersten Schritte in diese Richtung. Aber das ist ausgesprochen mühselig. Und vermutlich funktioniert es sowieso nur, wenn es innerhalb der EU, die ja ein Kreis aus Kreisen oder eine Ellipse aus Ellipsen ist, noch einmal einen eigenen Kreis der außenpolitisch handlungsfähigen Akteure geben wird. Berlin, Paris, Madrid, Warschau, vielleicht auch Rom. Und noch ein paar andere. Das wäre dann ein handlungsfähiger Akteur, der nicht mehr durch einen Veto-Spieler oder die Einstimmigkeitsregel blockiert wäre.

Der Anreiz für die Europäer, sich darauf einzulassen, besteht im Umbau der Weltordnung, nämlich in der Frage: Spielt Europa dabei eine Rolle oder nicht? Wenn die Europäer diesen Übergang nicht schaffen, spielt Europa keine Rolle, ist es bloßes Objekt – und nicht Subjekt – der Entwicklung. Dann tritt eben eine andere Macht für Europa in das System der Fünf ein.

Der Fünfte der großen Fünf ist Indien. Indien wird die Rolle des „Züngleins an der Waage" spielen, was es bereits im Augenblick tut. Auf der einen Seite verkauft es sich als die größte, jedenfalls zahlenmäßig größte Demokratie der Welt. Aber auf der anderen Seite steckt dahinter das hässliche Gesicht des Hindu-Nationalismus. Und gleichzeitig unterstützt Indien nicht die Sanktionen gegen Putin, sondern gibt sich als nach allen Seiten offen.

Diese fünf Großen sind wiederum in sich strukturiert: auf der einen Seite die liberalen Rechtsstaaten, Europa und die Vereinigten Staaten, und auf der anderen autoritäre Regime, autoritär-autokratisch in Russland, autoritär-technokratisch in China. Auch in den Zweierbeziehungen knirscht es also gelegentlich, wird es keine reine Freundschaft werden – weder zwischen den USA und der EU noch zwischen China und Russland.

Innerhalb dieses neuen globalen Systems werden die Menschheitsaufgaben – Klimawandel, Artensterben, Hunger im Globalen Süden, Migration – zurücktreten und zur Verhandlungsmasse dieser fünf werden. So wie die Chinesen es schon lange halten, beispielsweise auf der Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich im November 2022: Ja, wir erhöhen unsere Bereitschaft, in Fragen der Klimapolitik mitzugehen, aber nur unter der Bedingung, dass ihr eure Sanktionen aufhebt und uns weiter als Entwicklungsland kategorisiert. Wenn euch das so viel wert ist, dann müsst ihr dafür aber auch etwas geben, so sehen die Verhandlungsspiele aus. Das heißt nicht, dass Umweltschutz oder Klimawandel damit zwingend schlechter dastehen. Es heißt nur, dass sich die Akteure verschieben und die bislang dominierenden NGOs ins zweite Glied zurücktreten.

Auf die zweite Reihe kommt es an

Und bei all dem wird es zunehmend auf die „zweite Reihe" ankommen – ein Thema, das der indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler Parag Khanna bearbeitet hat. Die Frage der zweiten Reihe umfasst alle diejenigen, die nicht zu den fünf Großen gehören: Lateinamerika, Afrika, Teile Asiens. Mit wem geht die zweite Reihe? Das ist in Zukunft eine ganz entscheidende Frage. Zum G7-Treffen in Elmau im Juni 2022 lud der Bundeskanzler ganz bewusst die Staats- und Regierungschefs Indiens, Indonesiens, Südafrikas und Argentiniens ein, offensichtlich um sie an den Westen heranzuziehen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hielt dann bei der UNO in New York dagegen und sagte, es sei ganz selbstverständlich, dass die Russen Schutzgarantien für alle möglichen Länder übernehmen. Doch beim G20-Gipfel im November 2022 spielte nicht zuletzt die Position des Gastgebers Indonesien eine enorm wichtige Rolle bei der Verurteilung Russlands in der abschließenden Resolution. Die zweite Reihe mit ihren unklaren, wenig festgelegten Präferenzen ist das unruhige Element innerhalb dieses Systems der Fünf – mit ihren Zwei-zu-Zwei-Konstellationen und Indien als Zünglein an der Waage.

Mit wem geht zukünftig Brasilien? Mit wem gehen die Afrikaner? Mit wem gehen die zentralasiatischen Republiken? Und natürlich wird dabei auch die Frage der Einflussgebiete wieder zurückkehren. Oder genauer gesagt: Sie ist ja längst zurückgekehrt, etwa in der Seidenstraßen-Strategie, mit der China sich große Einflussgebiete verschafft hat. Russland kann das nicht, weil es nicht über genug Geld verfügt. Es muss immer gleich zu militärischen Mitteln greifen. Insofern ist der Ukrainekrieg auch eine Sicherung von Einflussgebieten. Und das ist etwas, was dann irgendwann die anderen auch tun werden.

All das ist nicht sonderlich erfreulich. Aber es ist unerlässlich, dass man sich bereits jetzt auf das einstellt, womit in Zukunft zu rechnen ist. Wer das nicht tut, wird in jedem Fall zum Verlierer der sich jetzt vollziehenden Veränderungen werden.

Es handelt sich um die verschriftlichte Fassung eines Vortrags, der in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten wurde.

Aus: »Blätter« 1/2023, S. 61-74

Aktuelle Ausgabe Februar 2023

In der Februar-Ausgabe kritisiert Paul Schäfer die linken Legenden über den Ukrainekrieg. Corinna Hauswedell fragt nach der Zukunft des Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Ulrich Brand und Markus Wissen erklären, warum Lützerath ein Fanal für die Klimabewegung ist. Robin Celikates und Dieter Rucht diskutieren die Bedeutung des zivilen Ungehorsams mit Blick auf die Letzte Generation. Und Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beleuchten einen neuen Protesttypus: den libertären Autoritären.

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