Verhaltensforschung: Ein gutes Team - Spektrum der Wissenschaft
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Verhaltensforschung: Ein gutes Team
Verhaltensforschung Ein gutes Team
Lilly hört mit. Fällt an beliebiger Stelle eines Gesprächs das Wort »Keller«, flitzt unsere Eurasier-Hündin zur Tür des Untergeschosses. Sie weiß, dass dort ein Stück Trockenfleisch für sie abfällt, und hat offenbar eine Vorstellung vom Zusammenhang zwischen dem Keller und Leckerbissen. »Mentale Repräsentation« nennt man das in Psychologie und Kognitionsbiologie. Auch unsere mit Menschen sozialisierten Wölfe in den Gehegen des Wolfsforschungszentrums im österreichischen Ernstbrunn laufen erwartungsvoll zur Schleuse nach draußen, wenn wir von einem »Leinenspaziergang« sprechen (siehe »Wolf an der Leine«).
Oft heißt es, dass Hunde unsere Sprache verstehen und auf unsere Stimmungen empathisch reagieren – oder auch sauer, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen; dass sie Regeln verletzen, sobald sie sich unbeobachtet wähnen, unsinnige Anweisungen nicht befolgen und uns hin und wieder austricksen. Die Aufgabe der Forschung ist es, solche Volksweisheiten zu überprüfen.
Dieser Artikel ist enthalten in Gehirn&Geist Gedankenlesen
René Descartes und andere Philosophen der Aufklärung sahen Tiere als reine Reiz-Reaktions-Maschinen, ohne Bewusstsein und Schmerzempfinden. Einige hundert Jahre später erklärten der Österreicher Konrad Lorenz und der Niederländer Nikolaas Tinbergen die Basis des Verhaltens von Tieren und Menschen im Rahmen ihrer »Instinkttheorie« als nicht bewusste, angeborene »innere Impulse«, wofür sie 1973 den Nobelpreis erhielten. Mentale Prozesse als Erklärung für Verhalten sahen die beiden eher kritisch – eine Reaktion auf die entweder stark vermenschlichende oder vereinfachende lerntheoretische Psychologie ihrer Zeit. Im 21. Jahrhundert interessierten sich auch immer mehr Biologen für das Fühlen und Denken von Tieren.
In den letzten Jahrzehnten beschäftigten sich zahlreiche Verhaltens- und Kognitionsbiologen mit den mentalen Fähigkeiten von Hunden, vergleichsweise weniger mit denen von Wölfen. Kaum untersucht sind die Geistesleistungen anderer Verwandter von Hunden, etwa von Schakalen, Kojoten und Füchsen. Dieses Ungleichgewicht verführte sogar manche Fachleute zu der Behauptung, Hunde seien »einzigartig« in ihrer »fast menschenähnlichen Intelligenz«. Das ist ebenso unsinnig wie die Behauptung, sie seien bloß Reiz-Reaktions-Maschinen.
Jenseits solcher Voreingenommenheiten erforschen viele Biologen nüchtern und experimentell das Verhalten und die kognitiven Leistungen der Vierbeiner, etwa am 2008 gegründeten Wolfsforschungszentrum. Friederike Range, Zsófia Virányi und Sarah Marshall-Pescini von der Veterinärmedizinischen Universität Wien haben dort verschiedene Versuche mit Hunden und Wölfen durchgeführt, an denen auch ich beteiligt war.
Es braucht Vergleiche mit anderen Säuge- und Wirbeltieren, damit man Befunde einordnen kann. Das mündet beinahe automatisch in den Vergleich der Intelligenz. Um es vorwegzunehmen: Hunde sind eigentlich ganz normale, wenn auch sozial hochintelligente Säugetiere, die sich in ihrem Denken nicht allzu stark von ihren Wolfsvorfahren und sogar von Menschen unterscheiden – so provokant das klingen mag. Doch zumindest innerhalb der Säugetiere variieren Hirnstrukturen, Fühlen, geistige Prozesse und die Mechanismen der Entscheidungsfindung eher quantitativ als prinzipiell. Unsere Basisemotionen etwa sind mit denen der anderen Arten herkunftsgleich und ähneln diesen daher neurochemisch und funktionell, wie der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp in seinem 2004 veröffentlichten Werk »Affective Neuroscience« beschrieb.
Meine Kolleginnen Friederike Range und Sarah Marshall-Pescini haben die Erkenntnisse experimenteller Studien 2022 im Buch »Wolves and Dogs« zusammengefasst. Demnach sind Hunde wie Wölfe kluge, lernfähige Tiere mit ausgeprägtem räumlichem Vorstellungsvermögen und gutem Kurz- und Langzeitgedächtnis. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wölfe in ihrem Verhalten flexibler und besser im Abschätzen von Mengen sind als Hunde. Auch können sie Probleme offenbar innovativer lösen. Vor allem aber verfolgen Wölfe ihre Ziele hartnäckiger als Hunde. Konfrontiert man beide mit einer unlösbaren Aufgabe – beispielsweise mit Futter in einem fest verschlossenen Behälter –, geben die meisten Hunde rasch auf und schauen den neben ihnen stehenden Menschen an. Mit Menschen sozialisierte Wölfe dagegen wollen das Problem selbst lösen und mühen sich meist lange vergeblich, bevor sie sich schließlich, genau wie die Hunde, der vertrauten Person zuwenden.
Keine dummen Wölfe
In einem Experiment von 2013 ließen Friederike Range und Zsófia Virányi ihre vierbeinigen Probanden zwei darin trainierte Hunde dabei beobachten, wie diese eine Futterkiste öffneten. Die Wölfe lernten durchs Zuschauen und begriffen anscheinend auch die Kausalität des Mechanismus, während fast alle Hunde daran scheiterten. Das mag den falschen Eindruck erwecken, Hunde seien dümmere Wölfe. Solche Unterschiede lassen sich allerdings ebenso als sinnvolle Anpassungen der Hunde an ein Leben mit Menschen interpretieren – und nicht alle Versuchsbedingungen mögen Hunden und Wölfen in gleicher Weise entgegenkommen.
Die beiden von mir betreuten Doktorandinnen Kim Kortekaas von der Universität Wien und Hillary Jean Joseph von der Veterinärmedizinischen Universität Wien waren zunächst überrascht, als sie 2020 anhand des nichtinvasiv gemessenen Herzschlags zeigten, dass Wölfe wesentlich entspannter schlafen als Hunde. Das passt aber ins Bild der an ein Leben mit Zweibeinern adaptierten Hunde: Sie bleiben auch in Ruhe reaktionsbereit auf die für sie oft schwer vorhersehbaren menschlichen Aktivitäten und Absichten. Wölfe dagegen leben zwar in potenziell gefährlicheren, für sie jedoch besser einschätzbaren Naturumgebungen. Außerdem können sie sich darauf verlassen, dass immer wenigstens ein Rudelmitglied gerade wach ist und im Notfall warnt.
Im Jahr 2008 gründeten Friederike Range, Zsófia Virányi und Kurt Kotrschal das Wolfsforschungszentrum im oberösterreichischen Grünau, siedelten aber bald ins niederösterreichische Ernstbrunn um. Das Ziel: Wölfe und Hunde miteinander vergleichen, vor allem im Hinblick auf ihre geistigen Fähigkeiten. Die Biologen wollten wissen, inwiefern sich die Reaktionen der Vierbeiner auf die verschiedenen Herausforderungen des Lebens unterscheiden. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist, die Basis menschlicher Kooperationsbereitschaft am »Modelltier« Wolf zu untersuchen.
Um auf genetisch bedingte Unterschiede zwischen Wölfen und Hunden schließen zu können, sollten ihre Lebenserfahrungen möglichst identisch sein. Außerdem muss man sicherstellen, dass alle Tiere angstfrei und gerne mit den Forschern kooperieren. Deshalb werden bereits ab dem zwölften Lebenstag jeweils zwei Welpen aus Würfen von Mischlingshunden und kanadischen Timberwölfen entnommen. Die übrigen bleiben bei ihrer Mutter. In Welpengruppen von jeweils etwa sechs Hunden beziehungsweise Wölfen werden sie nun von Hand aufgezogen (Hunde und Wölfe sind dabei also in separaten Gruppen). Das bedeutet eine intensive, menschliche Betreuung – und zwar rund um die Uhr für sechs Monate, bis zur Eingliederung der Tiere in Gruppen von erwachsenen Artgenossen.
Durch diese Sozialisierung entwickeln Wölfe vertraute Beziehungen zu »ihren« Menschen und binden sich an sie. Das wäre durch bloßes Habituieren, eine Gewöhnung an die Anwesenheit von Menschen, nicht möglich. Ab der vierten Woche wird die Zusammenarbeit anhand einfacher Kommandos wie »Sitz!« oder »Platz!« geübt. Die Tiere beginnen, die ersten Schritte an der Leine zu gehen. Im Erfolgsfall gibt es eine Belohnung – genauso, wie es auch bei jedem privat gehaltenen Hundewelpen der Fall sein sollte. Das Kooperationstraining geht lebenslang weiter und schließt regelmäßige Leinenspaziergänge mit den Hunden und den ähnlich leinenführigen Wölfen außerhalb der großen Gehege ein. Die Zusammenarbeit mit allen Tieren beim Training und in den Tests ist immer freiwillig – sie werden nie zurechtgewiesen oder gar dominiert. Informationen für Besucher sowie die Publikationen des Wolfsforschungszentrums finden sich auf der Website www.wolfscience.at .
Eine Anpassung an uns Menschen ist vermutlich auch, dass Hunde ihre Impulse besser als Wölfe kontrollieren können. Sie warten länger geduldig vor einem Stück Trockenfutter, wenn sie wissen, dass es dann ein (begehrteres) Stück Fleisch gibt. Hunde konzentrieren sich zudem besser auf menschliche Anweisungen. Man kann ihnen beibringen, an einem Platz zu bleiben, bis ihr Frauchen oder Herrchen zurückkommt. Bei Wölfen funktioniert das nicht: Sie gehen weg, sobald ihr menschlicher Partner sie nicht mehr anschaut. Und weil Hunde weniger geneigt sind, gemeinsam zu fressen, kann man ihnen problemlos Respekt vor Essen auf Tischen beibringen. Sie verhandeln auch seltener um Futter, weshalb Auseinandersetzungen mit Artgenossen bei ihnen eher eskalieren, wenn ein rangniederes Tier mal eine Grenze überschreitet. Wölfe hingegen sind derart auf Kooperation und Teilen eingestellt, dass sie es als unfreundlichen Akt empfänden, schlösse man sie von Mahlzeiten aus.
Außerdem übernehmen sozialisierte Wölfe bei der Zusammenarbeit mit Menschen gern die Führung, während sich Hunde eher darauf verlassen, geführt zu werden – ebenfalls eine wichtige Anpassung. Man stelle sich einen Alltag mit Hunden vor, die wie Wölfe stets selbst entscheiden wollen, sich kaum davon abbringen lassen, das umzusetzen, was sie sich gerade in den Kopf gesetzt haben, und jegliche Anweisung hinterfragen, um sie anschließend freundlich zu ignorieren. Das akzeptieren Menschen allenfalls von ihren Katzen. Allerdings: Nach 35 000 Jahren Domestikation besteht die DNA von Hunden immerhin noch zu etwa 95 Prozent aus Wolfsgenen.
Die Kooperationsbereitschaft von Hunden ist offenbar ein direktes Wolfserbe und wurde über Jahrtausende von den Artgenossen auf Menschen umgeleitet. Bereits als Welpen sind Hunde stark auf Menschen fokussiert. Zwar binden sie sich an bestimmte Personen, generalisieren allerdings ihre Sozialisierung auf Menschen insgesamt und können deshalb nach kurzer Gewöhnungsphase auch ihnen zunächst Fremden vertrauen. Unsere Wölfe im Forschungszentrum Ernstbrunn dagegen unterscheiden strikt zwischen denjenigen Menschen, bei denen sie aufgewachsen sind, und anderen, zu denen Vertrauen zu bilden ihnen schwerfällt. Doch die Domestikation hat Hunde nicht in unterwürfige Duckmäuser verwandelt. Man sollte ihre Freundlichkeit nicht als Schwäche auslegen. Hunde sind Partner auf Augenhöhe, die aber sichere Führung und positive Ermunterung erwarten und zu ihrem Wohlbefinden benötigen. Gerade in Krisenzeiten fördern Hunde Gesundheit und mentale Resilienz ihrer Halter.
Gute Beobachtungsgabe
Die Vierbeiner beobachten uns genau: 2015 zeigte ein Team um Corsin Müller, damals an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, dass Hunde menschliche Mimik lesen können. Sie registrieren sogar, wie wir mit einander umgehen. Esteban Freidin, derzeit tätig am Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung in Buenos Aires (Argentinien), und seine Kollegen demonstrierten 2013, dass Hunde Leckerlis häufiger von fremden Personen nahmen, wenn sie gesehen hatten, dass diese ihr Essen zuvor mit anderen Menschen geteilt hatten. Und Akiko Takaoka von der Rissho-Universität in Tokio und ihr Team zeigten 2015, dass Hunde einer Zeigegeste eher folgten, wenn sie auf einen Behälter deutete, von dem die Hunde wussten, dass er einen Leckerbissen enthielt. War ihnen bekannt, dass er leer war, folgten sie dem Hinweis seltener.
In einer weiteren Studie von 2016 untersuchten Marianne Heberlein und andere Wissenschaftler von der Universität Zürich und dem Wolfsforschungszentrum, wem 8 Wölfe und 13 Hunde vertrauten. Im Versuch reichten Menschen den Tieren entweder ein Stück Wurst – oder sie verspeisten es vor ihren Augen. Es stellte sich heraus, dass die Hunde Letztere anschließend seltener zu für sie unerreichbaren Futterbehältern führten. Die sozialisierten Wölfe verhielten sich ähnlich. Das legt nahe, dass auch die artübergreifende, soziale Beobachtungsgabe der Hunde ein Wolfserbe ist. Hunde können sogar tricksen, wie Heberlein ein Jahr später feststellte: Menschen, die sie zuvor als unkooperativ kennen gelernt hatten, führten sie ganz gezielt zu leeren Futterbehältern.
Und weil Hunde die Beziehungen Dritter durchschauen, verwundert es nicht, dass sie auf Ungleichbehandlung beleidigt reagieren. Geben sie etwa abwechselnd im Duett Pfötchen und nur einer der beiden wird dafür belohnt, stellt der andere nach wenigen Durchgängen die Zusammenarbeit ein, wie ein Team um Friederike Range 2009 in einem Experiment mit 29 Hunden zeigte. Nach einer Reihe von Kontrollversuchen blieb als einzig möglicher Schluss, dass tatsächlich die Anwesenheit des belohnten Hundes ausschlaggebend war.
Eine Vorstellung von Bewegungen
Wenn sie einmal begriffen haben, was man von ihnen will, können Hunde Menschen sehr gut imitieren. József Topál von der Budapester Eötvös-Lorand-Universität brachte seinem Hund Philip in 2006 veröffentlichten »Do as I do«-Versuchen bei, sein Verhalten nachzumachen. Rollte Topál etwa auf dem Boden liegend um seine eigene Achse oder sprang über ein Hindernis, tat Philip das ebenfalls. Doch der Hund imitierte nicht jeden Unsinn: Als sein Vorbild über ein nicht vorhandenes Hindernis sprang, stutzte Philip kurz, um dann über die reale Hürde zu springen. Topál konnte das Nachmach-Kommando auch eine Viertelstunde später geben – es klappte immer noch.
Das sagt etwas über das Gedächtnis von Philip aus und zeigt zudem, dass Hunde Erfahrungen in Form mentaler Repräsentationen abspeichern und diese als Basis für künftige Handlungen und Entscheidungen nutzen. Sie entwickeln also eine Vorstellung von den Bewegungen, die der Mensch vormacht, übertragen sie auf ihren Körper und überprüfen anhand von abgespeicherten Informationen, ob die jeweiligen Kommandos sinnvoll sind.
Damit verwenden Hunde ähnliche Mechanismen des Denkens wie Menschen. Das erstreckt sich sogar auf die menschliche Sprache. Der Psychologe John W. Pilley hat seiner Border-Collie-Hündin die Bedeutung von rund 1000 Wörtern beigebracht. Hunde reagieren demnach nicht nur auf den Klang und die Tonalität der Stimme. Manche Individuen können Hunderte von Begriffen als passiven Wortschatz anlegen.
Die auf Aristoteles zurückgehende »Scala Naturae«, die Lebewesen nach ihren geistigen Fähigkeiten von »stammesgeschichtlich ursprünglich« bis »hoch entwickelt« einstuft, ist überholt. Dieser Stufenleiter zufolge begann die Entwicklung der Wirbeltiere vor mehr als 500 Millionen Jahren mit den Fischen, aus denen etwas intelligentere Amphibien und Reptilien hervorgingen, daraus die bereits viel gescheiteren Vögel und Säugetiere und schließlich Homo sapiens.
Doch die Intelligenz von Menschen, Wölfen, Hunden, Raben und sogar Putzerfischen in Korallenriffen ist als Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen zu verstehen. Trotzdem ist die »Scala Naturae« nach wie vor in den Köpfen präsent. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn wir Tiere vermenschlichen, ihnen also unsere Eigenschaften, Wertvorstellungen oder Motive unterstellen.
Ähnliche Selektionsbedingungen
Wölfe sind lohnende Forschungsmodelle, um mehr über die evolutionäre Basis der Kooperationsbereitschaft von Menschen zu erfahren. Zwar lebte der gemeinsame stammesgeschichtliche Vorfahre der Fleischfresser (Karnivoren) und Primaten vor mehr als 60 Millionen Jahren als weder sonderlich soziales noch intelligentes Säugetier, das wohl am ehesten einer heutigen Spitzmaus glich. Dennoch haben Wölfe und Menschen sehr ähnliche Verhaltens- und Denkmuster entwickelt. Die erstaunlichen kognitiven, ökologischen und sozialen Gemeinsamkeiten sind das Ergebnis paralleler Evolution: Vergleichbare Selektionsbedingungen ließen komplexe soziale Organisationen und leistungsfähige Gehirne entstehen (siehe »Kluge Köpfe«).
Möchte man Verhalten und geistige Fähigkeiten von Hunden, Wölfen und Menschen verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Entstehungsgeschichte unseres Gehirns, von einer Nervenansammlung am vorderen Körperende vor etwa 600 Millionen Jahren bis zur jüngsten Größenexplosion der Großhirnrinde. Der US-Amerikaner Max S. Bennett, Experte für künstliche Intelligenz, beschrieb in einer Veröffentlichung von 2021, wie das Wirbeltiergehirn immer wieder aus- und umgebaut wurde. Mit den ersten Säugetieren vor 220 Millionen Jahren entstand der modulare Säulenbau der Großhirnrinde – und damit die Fähigkeit, Umweltreize nicht nur zu verarbeiten, sondern sogar zu antizipieren und zu simulieren. Vor 80 Millionen Jahren ermöglichte mit der Entwicklung der Primaten vor allem der Stirnanteil des Großhirns eine kognitive und soziale Revolution: Es war nun möglich, sich in andere einzufühlen und einzudenken. In den letzten paar hunderttausend Jahren entstanden schließlich die komplexen, symbolsprachlichen Fähigkeiten des Homo sapiens.
Abgesehen von diesem Alleinstellungsmerkmal teilen Menschen alle anderen Strukturen und Funktionen des Gehirns – allerdings mit unterschiedlichen Größenverhältnissen – mit anderen Säuge- und sogar Wirbeltieren insgesamt. Das erklärt, weshalb Menschen so gut mit Hunden und anderen Tieren zusammenleben können, wenn diese als Jungtiere mit Menschen sozialisiert wurden. Sehr gut klappt das mit domestizierten Tieren, die auch genetisch an ein Leben mit Menschen angepasst sind. Vergleiche zwischen verschiedenen Arten haben ergeben, dass absolute und relative Hirngröße mit Intelligenz grob zusammenhängen.
Ein besser geeignetes Maß ist laut Suzana Herculano-Houzel von der Vanderbilt University (USA) jedoch die Zahl der Nervenzellen in der Großhirnrinde und im Kleinhirn. Es zeigte sich, dass gerade kleine Gehirne, etwa jene von Vögeln oder winzigen Knochenfischen, sehr viele Nervenzellen enthalten können. Die zu den Karnivoren zählenden Bären, Löwen und Hyänen haben zwar größere Gehirne als Hunde, diese enthalten jedoch weniger Nervenzellen. Hunde wiederum haben – wie andere domestizierte Arten – zwar kleinere Gehirne als ihre Vorfahren, was aber keine Verringerung der Nervenzellen bedeuten muss. Genaue Untersuchungen stehen hier noch aus.
Nicht eindeutig geklärt ist, welche Selektionsfaktoren die Evolution von Intelligenzleistungen vorantrieben. Spielte soziale Komplexität die entscheidende Rolle? Für viele Primaten – einschließlich Homo sapiens – scheint das zuzutreffen, ebenso für die Hyänenartigen. Intelligenz könnte jedoch auch als Anpassung an die sich ständig verändernden Herausforderungen einer variablen Umwelt entstanden sein, was ebenfalls für Primaten und zudem für Vögel und jene Tierarten, die sich zunehmend in Städten ansiedeln, diskutiert wird. Bei einigen Primaten und den meisten Karnivoren war womöglich ökologische Komplexität der ausschlaggebende Faktor, also die zahlreichen, interagierenden Umweltfaktoren, auf die die Individuen reagieren müssen.
Bleibt noch die Frage, wie die kleinen, aber feinen Unterschiede im Verhalten von Wölfen und Hunden zu Stande kamen. Bei fast allen domestizierten Tieren findet man eine Kombination bestimmter äußerlicher Merkmale. Dazu zählen kleinere Köpfe, Gehirne und Zähne, außerdem eine veränderte Fellfarbe, kürzere Schnauzen und Schlappohren. Dieses »Domestikationssyndrom« entsteht anscheinend allein durch die Auslese sehr umgänglicher Tiere über Generationen. Die besonderen Verhaltensweisen von Hunden könnten ein Nebeneffekt der Selektion auf Zahmheit sein. Sie könnten sich aber auch als direkte Anpassung an Umweltbedingungen ergeben haben. Die Diskussion ist noch nicht beendet, doch vermutlich spielten beide Faktoren eine Rolle. Zu Beginn der Domestikation überwog wohl die Selektion auf Zahmheit als Hauptmechanismus, während später, etwa bei den Dorfhunden, die Anpassung an lokale Gegebenheiten wichtiger wurde.
Demnach entstanden die Hunde in zwei Schritten: Zunächst wurden Wölfe über viele Generationen hinweg sanfter und aufmerksamer, als Anpassung an Menschen als Rudelgefährten. Gleichzeitig kam es zu den für das Domestikationssyndrom typischen Veränderungen im Aussehen und Verhalten. Als die Menschen sesshaft wurden, formten vor allem ihre jeweiligen Lebensumstände die hundetypischen Eigenarten.
Beide Prozesse erlauben es den Hunden bis heute, sich an wechselnde kulturelle und sozioökonomische Verhältnisse anzupassen. Die außergewöhnliche Flexibilität der Hunde, die die enorme soziokulturelle Variabilität der Menschen spiegelt, ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg dieser uralten Partnerschaft.