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Krankheitserreger: Uralte Pathogene aus dem Permafrost sind reale Gefahr

Der Klimawandel lässt den Permafrost schmelzen und fördert »zeitreisende« Mikroben zu Tage. Was passiert, wenn solche längst vergessenen Organismen auf die moderne Welt treffen?
© AleksandrLutcenko / Getty Images / iStock (Ausschnitt)
Im Jahr 2016 wurde ein Milzbrand-Ausbruch unter Rentieren in Sibirien darauf zurückgeführt, dass Sporen von Bacillus anthracis aus dem tauenden Permafrost entweichen konnten.

Nach Ankunft der Europäer in Amerika starben große Teile der Urbevölkerung durch eingeschleppte Infektionskrankheiten wie Pocken, Masern, Mumps oder Grippe. Ihr Immunsystem war nicht in der Lage, sich gegen die unbekannten Erreger zu wehren. Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt, was passiert, wenn eine hinsichtlich ihrer Immunabwehr naive Bevölkerung mit einem neuartigen Virus konfrontiert ist. Der Klimawandel könnte nun die Freisetzung von »zeitreisenden« Krankheitserregern aus dem schmelzenden Permafrost beschleunigen – mit derzeit noch kaum absehbaren Folgen für die Menschheit und die globalen Ökosysteme. In einer neuen Studie, veröffentlicht im Fachjournal »PLOS Computational Biology«, haben Wissenschaftler von der Universität Helsinki in Finnland und der Flinders University in Australien die ökologischen Risiken berechnet, die entstehen könnten, wenn uralte Mikroben auf die moderne Welt treffen.

Die Computersimulationen zeigen, dass die Freisetzung von schlafenden Krankheitserregern große Umweltschäden und den Verlust zahlreicher Wirtsorganismen verursachen könnte. Die Forscher fanden heraus, dass einige der von ihnen virtuell erzeugten Krankheitserreger in der Lage wären, in einer modernen Welt zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Etwa drei Prozent konnten sich in ihrer neuen Umgebung durchsetzen und etablierte Gemeinschaften verdrängen. Zwar hatten die Eindringlinge in aller Regel vernachlässigbare Auswirkungen – in gut einem Prozent der Fälle sorgten sie jedoch dafür, dass bis zu ein Drittel der Wirtsorganismen ausstarb. Das reicht aus, um irreversible Schäden zu verursachen.

Noch gehören solche Szenarien weitgehend ins Reich der Fiktion. Die Daten zu den tatsächlich im Eis konservierten Mikroben sind zu spärlich, als dass sich Hypothesen testen und gesicherte Aussagen treffen lassen würden. Und doch ist das Risiko realer, als es klingt. Im Jahr 2003 etwa wurden Bakterien wiederbelebt, die aus dem 750 000 Jahre alten Eis des Qinghai-Tibet-Plateaus stammten. Im Jahr 2014 erwachte ein riesiges »Zombie«-Virus aus dem 30 000 Jahre alten sibirischen Permafrostboden zu neuem Leben. Und im Jahr 2016 wurde ein Milzbrand-Ausbruch unter Rentieren in Westsibirien darauf zurückgeführt, dass Sporen von Bacillus anthracis aus dem tauenden Permafrost entweichen konnten.

Um sich der realen Situation so genau wie möglich anzunähern, nutzte das Team um Giovanni Strona und Corey Bradshaw »Avida«, eine von der Michigan State University entwickelte Softwareplattform für künstliches Leben, die die Evolution komplexer Gemeinschaften virtueller Mikroorganismen simuliert. Die Welt von Avida besteht aus einem zweidimensionalen Gitter, in dem digitale Organismen mit der Umwelt interagieren: Sie führen logische Operationen aus, die wiederum ihren Phänotyp definieren.

Wie realistisch sind die virtuellen Experimente?

In der simulierten Welt konkurrieren die Organismen um Berechnungszyklen – die Energiequelle, die es ihnen ermöglicht, sich zu vermehren – und um Raum. Die Zeit in Avida wird in Aktualisierungen gemessen, wobei die Organismen der Population bei jeder Aktualisierung durchschnittlich 30 einzelne Zyklen ausgeführt haben. Um sich fortzupflanzen, müssen die Organismen ihren genetischen Code, der aus einfachen Computeranweisungen besteht, an eine andere Stelle im Speicher kopieren, bevor sie einen neuen, nahezu identischen Nachkommen hervorbringen.

Während sie sich selbst kopieren, können Organismen Fehler machen. Die meisten dieser Fehler sind schädlich und führen zu Nachkommen, die sich nicht fortpflanzen können. In einigen Fällen jedoch beeinträchtigen die Fehler die Wettbewerbsfähigkeit des neuen Organismus nicht oder können ihm sogar einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen verschaffen. In solchen Fällen kann der neue Genotyp eine höhere Chance haben, sich in der Population zu etablieren.

»Die Ergebnisse zeigen, dass das Risiko nicht mehr nur ein Hirngespinst ist, sondern eines, gegen das sich die Menschheit wappnen sollte«Giovanni Strona, Ökologe und Datenwissenschaftler

Die Wissenschaftler schauten, wie sich die komplexen virtuellen Gemeinschaften unter einer Vielzahl von Umweltbedingungen über viele Generationen hinweg entwickelten, und verfolgten die Veränderungen im Lauf der Zeit. Anschließend verlagerten sie Krankheitserreger aus den alten Gemeinschaften in deren jeweilige moderne Entsprechungen. Daraus leiteten sie abschließend das Ergebnis ab, dass die wenigen Fälle, in denen eindringende Krankheitserreger hartnäckig sind und dominant werden, bereits eine erhebliche Gefahr für das Leben auf diesem Planeten darstellen können – zumindest in der Form, wie wir es derzeit kennen.

Das Autorenteam weist darauf hin, dass sich Avida bei der Simulation von evolutionären und ökologischen Prozessen zwar als bemerkenswert realistisch erwiesen habe, es aber dennoch grundlegende Unterschiede zwischen der digitalen Welt von Avida und der echten gebe. Wie überzeugend also können die Schlussfolgerungen der Forscher sein, die sie aus den vollständig virtuellen Experimenten ziehen? »Obwohl wir keine endgültige Antwort auf diese Frage geben können, können wir die Mutationsabstände in ein realistisches Zeitmaß übersetzen«, schreiben sie. »Wir schätzen, dass die Länge unserer Simulationen ungefähr zwei bis vier Millionen Generationen mikrobieller Evolution entspricht. Wenn man bedenkt, dass lebensfähige Bakterien aus 750 000 Jahre altem Gletschereis geborgen wurden und dass natürliche mikrobielle Populationen in der Regel kurze Generationszeiten haben, fallen unsere Simulationen in einen mehr als vernünftigen (ko)evolutionären Zeitrahmen.«

Es sei extrem schwierig, echte Daten zu sammeln oder Experimente zur Ausarbeitung und Prüfung von Hypothesen zu konzipieren, erklärte Erstautor Giovanni Strona von der Universität Helsinki laut einer Pressemitteilung. »Wir haben zum ersten Mal eine umfassende Analyse des Risikos vorgelegt, das diese ›zeitreisenden‹ Krankheitserreger für moderne ökologische Gemeinschaften darstellen, und zwar mit Hilfe fortschrittlicher Computersimulationen.« Die Ergebnisse zeigten, dass das Risiko nicht mehr nur ein Hirngespinst sei, sondern eines, gegen das sich die Menschheit wappnen solle.

Was wird Ihrer Einschätzung nach in den nächsten zehn Jahren zur größten Bedrohung der Menschen?

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Die Redakteurin schreibt rund um Technik, Umwelt, Natur und Quantenphysik für Spektrum der Wissenschaft.