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Hirnevolution: Umfunktionierte RNA ließ das menschliche Gehirn wachsen

Ein neuer Mechanismus der Gen-Entstehung spielte bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns eine Schlüsselrolle. Entscheidend dafür war eine neue Rolle der RNA.
© kirstypargeter / Getty Images / iStock (Ausschnitt)
Bei Menschen und Menschenaffen sind diverse Gene neu entstanden, die besonders im Gehirn aktiv sind.

Ein bisher unbekannter Mechanismus, wie neue Gene entstehen, steckt hinter der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Das berichtet eine Arbeitsgruppe um Baoyang Hu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und Chuan-Yun Li von der Universität Peking. In ihrer nun in »Nature Ecology & Evolution« erschienenen Studie zeigte die Gruppe, dass bei Menschen ein neues Gen für das Hirnwachstum entstand, indem schon vorhandene funktionslose RNA die Fähigkeit erhielt, den Zellkern zu verlassen. Dadurch konnte sie in ein Protein übersetzt werden, das in Versuchen an Mäusen deren Gehirn deutlich größer werden ließ. Nach Ansicht der Arbeitsgruppe ist das ein wichtiger Mechanismus, wie völlig neue Gene und damit völlig neue Eigenschaften entstehen.

Das Erbgut von Menschen und anderen Säugetieren besteht nur zum Teil aus Genen, die von der Zelle in Proteine übersetzt werden. Dabei wird zuerst die DNA des Gens im Zellkern gelesen und in RNA übersetzt. Diese mRNA verlässt dann den Zellkern und gelangt ins Zellplasma. Lediglich im Zellplasma gibt es die Ribosomen, die nach dem Bauplan in der mRNA Proteine erschaffen. Doch keineswegs nur Gene durchlaufen den ersten Schritt, die Übersetzung in RNA: Auch nicht in Proteine übersetzte Teile des Genoms werden als RNA kopiert. Die entstehende Abschrift bezeichnet man als lange, nicht codierende RNA (lncRNA). Der Unterschied zur mRNA, die Proteine herstellt: lncRNA bleibt weit überwiegend im Zellkern.

Bisher gelten Verdopplungen existierender Gene als wichtigste Quelle neuer Gene. Die Gruppe von Hu und Li jedoch sieht in den lncRNA ebenfalls eine bedeutsame Quelle völlig neuer Gene und Eigenschaften. Dazu müssen lncRNA die Fähigkeit bekommen, den Kern zu verlassen und zu mRNA zu werden. Um diesen Mechanismus zu verstehen, verglich das Team insgesamt 74 Gene, die im Gehirn von Menschen und Menschenaffen völlig neu aufgetreten sind, mit ihren Gegenstücken bei Makaken, aus denen dort nur lncRNA entsteht. Dabei identifizierte es mehrere Elemente, die regulieren, wie gut ein RNA-Strang den Zellkern verlassen kann. Als entscheidend erwiesen sich zwei Arten von RNA-Abschnitten: einerseits Erkennungssignale, über die die RNA an DNA gebunden bleibt, und andererseits Elemente, die das Spleißen verbessern, die Reifung der RNA zu mRNA.

Diesen Mechanismus verdeutlichen Li und Hu an einem neu entstandenen Gen – und belegten gleichzeitig, dass dessen Entstehung dramatische Auswirkung auf die Hirnentwicklung hatte. In Versuchen mit menschlichen neuronalen Vorläuferzellen zeigten sie zuerst, dass die RNA mit der eingängigen Bezeichnung ENSG00000205704 die gegenüber Makaken veränderten Genabschnitte braucht, um aus dem Zellkern ins Zellplasma zu gelangen. Dann testeten sie, welche Auswirkungen es hat, wenn man das Gen an- oder abschaltet. Mäuse, denen sie das menschliche Gen einsetzten, entwickelten tatsächlich größere Gehirne.

Es ist schon länger bekannt, dass ein Großteil der beim Menschen neu entstandenen Gene etwas mit dem Gehirn zu tun hat. Die aktuelle Studie zeigt jedoch erstmals die dramatischen Auswirkungen auf das Gehirn und seine Entwicklung – und macht gleichzeitig plausibel, woher die Gene ursprünglich kommen. Demnach enthalten schon die Hirne von Affen die Vorläufer jener Gene, die den Menschen zum Menschen machten, ohne allerdings ihr Potenzial zu verwirklichen. Dabei sind jedoch noch viele Details des Prozesses unbekannt. Nicht zuletzt ist unklar, ob lncRNA graduell hin zum funktionalen Gen evolvieren oder ob es spezielle Gruppen von lncRNA gibt, die von vornherein genähnlich sind und deswegen den Sprung leichter schaffen. Auch wie die anschließende Evolution eines so entstandenen neuen Proteins hin zu einer bestimmten biologischen Funktion im Detail abläuft, ist noch ziemlich offen.

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Der Chemiker arbeitet als Journalist und Redakteur bei »Spektrum.de«.