Teilchenphysik: Gegen die Regeln - Spektrum der Wissenschaft
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Teilchenphysik: Gegen die Regeln
Teilchenphysik Gegen die Regeln
Es ist aufregend, gegen Regeln zu verstoßen, vor allem wenn sie lange Zeit gegolten haben. Das gilt nicht nur im Alltag, sondern ebenso in der Teilchenphysik. Ein besonders spannender möglicher Regelbruch ist eine Verletzung der Vorhersagen des Standardmodells. Dieses beschreibt alle bekannten Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen mit Ausnahme der Gravitation. Es wurde bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, und jahrzehntelang schien sich die Natur daran zu halten – zumindest innerhalb der Messgenauigkeiten, die sich bei Präzisionsexperimenten erreichen lassen.
Allerdings gab es immer wieder auch Unstimmigkeiten, etwa 2004 bei einem Experiment namens E821 am Brookhaven National Laboratory auf Long Island. Dabei ging es um die Vermessung einer als g-Faktor bezeichneten Eigenschaft des Myons, einer schwereren Variante des Elektrons. Die Ergebnisse entsprachen nicht den Vorhersagen des Standardmodells. Myonen und Elektronen gehören beide zu einer Klasse von Teilchen, die Leptonen genannt werden, zusammen mit dem noch schwereren Tauon sowie drei Sorten von Neutrinos. Die Regel der Leptonuniversalität besagt: Elektronen und Myonen sollten auf die gleiche Weise mit anderen Teilchen wechselwirken (abgesehen von kleinen Unterschieden, die mit dem Higgs-Teilchen zu tun haben). Doch das unerwartete Messergebnis des g-Faktors deutete auf ein deutlich unterschiedliches Verhalten hin, eine Verletzung der Leptonuniversalität.
Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum – Die Woche, Gegen die Regeln
Inzwischen ist längst klar, dass das Standardmodell nicht die ultimative Naturtheorie sein kann. Denn es erklärt mehrere experimentelle Befunde nicht: weder, warum Neutrinos Masse haben, noch die Existenz der unsichtbaren Dunklen Materie im Weltall noch, weshalb sich im frühen Universum die Materie gegenüber der Antimaterie durchgesetzt hat. Daher kann das Standardmodell lediglich eine unvollständige Beschreibung der Welt liefern und muss durch neue Teilchen und Wechselwirkungen ergänzt werden. Vorschläge für solche Erweiterungen gibt es reichlich, doch höchstens einer davon kann richtig sein. Noch hat sich keine dieser Theorien direkt bestätigen lassen. Aber jede Verletzung der Vorhersagen des Standardmodells, die in einem Experiment gemessen wird, könnte bei der Suche nach einer besseren Theorie den Weg weisen. Das E821-Experiment mit seinen Hinweisen auf ein mysteriöses Verhalten der Myonen fand statt, bevor ich selbst zur Teilchenphysik kam.
Meine erste Berührung mit dem Thema der Leptonuniversalität hatte ich Ende Mai 2012 als Postdoc an der Universität Bern. Seinerzeit wurde ich zu einer Tagung zu einem neuen geplanten Teilchenbeschleuniger namens SuperB eingeladen, der in Tor Vergata bei Rom gebaut werden sollte. Konferenzort war die Insel Elba – ebenso malerisch wie schwer zu erreichen. Die Einladung kam sehr kurzfristig; ich buchte rasch einen Zug nach Pisa, verpasste aber dort den bereitgestellten Konferenzbus. Glücklicherweise boten mir zwei der Organisatoren an, mich im Auto nach Elba mitzunehmen. Das erwies sich als Glücksfall.
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Die gegenwärtige Theorie beschreibt überaus erfolgreich die bekannten fundamentalen Teilchen und ihre Wechselwirkungen. Dennoch lassen sich manche Phänomene damit nicht erklären.
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Es gibt inzwischen etliche Messungen, die von den Vorhersagen der Modelle abweichen. Ursache könnten unbekannte Teilchen und Kräfte sein.
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Bislang sind die Hinweise nicht stark genug, um abschließend Schlüsse ziehen zu können. Neue Ergebnisse sollten allerdings bald verfügbar sein.
Während der Fahrt durch wunderschöne Landschaften unterhielten wir uns über unser Fachgebiet. Einer der Wissenschaftler, der Experimentalphysiker Eugenio Paoloni, fragte mich, was ich von den neuesten Analysen von Daten des kalifornischen BaBar-Experiments hielt. Dort deuteten B-Meson-Zerfälle auf eine mögliche Verletzung der Leptonuniversalität hin.
B-Mesonen sind Teilchen, die ein so genanntes Beauty-Quark enthalten. Sie sind als Untersuchungsobjekte äußerst beliebt, weil ihre vielfältigen Zerfälle einige Geheimnisse bergen könnten. Ich hatte nichts von dem BaBar-Ergebnis gehört, wohl weil es zu dem Zeitpunkt noch wenig Aufmerksamkeit erregt hatte. Doch mir kam schnell eine mögliche Erklärung in den Sinn: Ein weiteres Higgs-Boson, zusätzlich zu dem bereits bekannten, könnte die beobachteten Phänomene verursachen. Mein Interesse für Verletzungen der Vorhersagen des Standardmodells war geweckt.
Sonst verlief der Workshop für mich ohne besondere Ereignisse. Er drehte sich um die Konstruktion des Beschleunigers, und als Theoretiker verstand ich kaum etwas von den Vorträgen der Experimentatoren. Also nutzte ich stattdessen die inspirierende Atmosphäre Elbas und arbeitete meine Idee zum Higgs-Boson zu einem Artikel aus, den ich kurz nach meiner Rückkehr nach Bern fertig stellte. Leider wurde das SuperB-Projekt aufgegeben, und auch die Reaktionen meiner Fachkollegen auf den veröffentlichten Artikel fielen nicht gerade begeistert aus. Eine typische Aussage lautete, in einem Jahr würde ohnehin nichts mehr übrig sein, was man mit neuer Physik erklären müsste. Das bedeutet, viele hielten die Ergebnisse für einen statistischen Zufall und glaubten, die Anomalie würde mit weiteren Daten von selbst verschwinden.
Diese blieben zunächst aus, und so wurde es vorerst ruhig um die BaBar-Messungen. Doch 2013 beobachtete das LHCb-Experiment am Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf eine Abweichung von der Vorhersage des Standardmodells bei einer komplizierten Größe namens P5'. Sie hängt mit dem Zerfall von B-Mesonen zusammen. Oberflächlich betrachtet hat der Wert nichts mit der Leptonuniversalität zu tun, und ich fand die Messung zunächst nicht sehr interessant. Meine Meinung änderte sich jedoch ein Jahr später, als LHCb das Verhältnis »R(K)« analysierte. Es ist ein Maß für die Verletzung der Leptonuniversalität. Hier gab es eine Abweichung von den Erwartungen auf Basis des Standardmodells, und sie passte zu den P5'-Resultaten. Nun deutete mehr darauf hin, dass es sich hier um ein neuartiges Phänomen handeln könnte.
Bald darauf wurde ich erneut Zeuge, wie die Geschichte eine Wendung nahm – wieder im Verlauf einer Konferenz und wieder in Italien, dieses Mal im Alpendorf La Thuile in der Nähe des Mont Blanc. Zwei erstaunliche Dinge passierten: Während der Tagung fand eine partielle Sonnenfinsternis statt, und zudem gab das LHCb-Team ein Ergebnis bekannt, das die vorherige P5'-Messung statistisch untermauerte – und die mit mir befreundeten Theoretiker Joaquim Matias (genannt Quim) und David Straub stimmten darin überein, wie die Daten zu interpretieren seien. Dabei waren sie sich zuvor noch nie einig gewesen! Nach ihren Redebeiträgen in der Session, die ich moderierte, wandte ich mich ans Publikum: »Wir waren heute Zeugen eines seltenen Ereignisses, einer partiellen Sonnenfinsternis; doch noch denkwürdiger ist, dass Quim und David zum ersten Mal einer Meinung sind.«
Danach haben sich die Hinweise auf eine Verletzung der Leptonuniversalität erst einmal weiter verdichtet, bis es dann im Dezember 2022 zu einer ernüchternden Überraschung kam. Mehr dazu später.
Zunächst ist es wichtig, das Standardmodell und dessen Teilchen und Wechselwirkungen etwas näher zu betrachten. In diesem Modell heißen die Bauteile der Materie Fermionen, nach dem 1954 verstorbenen italienischen Physiker Enrico Fermi. Sie existieren in drei Varianten, den so genannten Generationen (oder Flavours), die abgesehen von ihrer Masse in jeder Hinsicht gleich sind. Neben dem Elektron gibt es beispielsweise die schwereren Myonen und Tauonen; das Up-Quark hat die Charm- und Top-Quarks als massereichere Verwandte; zum Down-Quark gesellen sich die Strange- und Beauty-Quarks. Nur die Teilchen aus den leichtesten Generationen sind stabil. Sie bilden die gewöhnliche Materie, aus der unsere Welt aufgebaut ist: Atome mit ihrer Hülle aus Elektronen und Kernen aus Protonen und Neutronen. Protonen bestehen jeweils aus zwei Up-Quarks und einem Down-Quark, das Neutron enthält ein Up-Quark und zwei Down-Quarks.
Drei Kräfte lassen die Fermionen miteinander in Wechselwirkung treten. Das ist erstens die »schwache«, zweitens die »starke« und drittens die elektromagnetische Wechselwirkung (nicht berücksichtigt wird die Gravitation, die im subatomaren Bereich extrem schwach ist). Jeder Kraft entsprechen Teilchen, die sie übertragen. Für die schwache Kraft heißen sie W- und Z-Bosonen, für die starke Kraft Gluonen und für die elektromagnetische Kraft Photonen. Wichtig ist, dass keine dieser Wechselwirkungen eine der drei Generationen von Fermionen bevorzugt behandelt.
Jede bestätigte Abweichung vom Standardmodell würde dessen Erweiterung erzwingen
Und dann haben wir noch das mittlerweile berühmte Higgs-Teilchen, welches 2012 am LHC entdeckt wurde. Es verleiht allen anderen fundamentalen Teilchen und sich selbst die Masse. Daher ist es das einzige Objekt im Standardmodell, dessen Wechselwirkungen einen Unterschied zwischen den Generationen machen können. Damit ist das Standardmodell der Teilchenphysik komplett. Jede bestätigte Abweichung von seinen Vorhersagen und insbesondere die direkte Entdeckung eines neuen Teilchens würde seine Erweiterung erzwingen.
b → c l υ
Der erste Hinweis auf Verletzungen der Leptonuniversalität stammt aus der Beobachtung eines Beauty-Quarks, das in ein Charm-Quark (c), ein Lepton (l) und ein Neutrino (υ) zerfällt. Dabei sollten Tauonen wegen ihrer großen Masse weniger häufig auftreten als Myonen oder Elektronen. Bei Experimenten wie BaBar in Kalifornien, LHCb in der Schweiz oder Belle in Japan kommen Zerfälle zu Tauonen jedoch häufiger vor als gedacht. Hier könnten »virtuelle« Teilchen, die kurzzeitig auftauchen, die normalen Prozesse stören. Zum Beispiel könnte das Beauty-Quark mit einem virtuellen geladenen Higgs-Teilchen wechselwirken, wie ich es 2012 vorgeschlagen habe (wenngleich dieses Modell inzwischen einige Probleme bereitet), oder mit einem anderen hypothetischen Teilchen, das als Leptoquark bezeichnet wird.
Cabibbo-Winkel-Anomalie
Ein weiteres faszinierendes Signal stammt von bestimmten radioaktiven Zerfällen, den so genannten Betazerfällen, die auch einen Großteil der natürlichen Radioaktivität verursachen. Sie kommen bei einigen Experimenten seltener vor als erwartet. Der Vorgang findet in Atomkernen statt, wenn sich Down-Quarks in Up-Quarks umwandeln oder umgekehrt. Dabei wird ein Neutron zu einem Proton oder ein Proton zu einem Neutron. Im ersteren Fall werden ein Elektron und ein Anti-Neutrino ausgesandt, im letzteren ein Positron (das Antiteilchen des Elektrons) und ein Neutrino.
Wenn man die Messungen mit verbesserten theoretischen Berechnungen kombiniert, scheinen die Teilchen in den Kernen eine längere Lebensdauer zu haben als gedacht. Hier spielt der so genannte Cabibbo-Winkel eine Rolle, der Übergänge zwischen den Quark-Generationen beschreibt. Sein Wert kann auch aus Zerfällen von Kaonen (K-Mesonen; Quark-Bindungszustände, die ein Strange-Quark enthalten) bestimmt werden. Hier gibt es ebenfalls Ungereimtheiten bei den Messergebnissen.
Elektronen und der g-Faktor der Myonen
Das CMS-Experiment am LHC untersucht unter anderem Teilchenkollisionen, bei denen aus zwei Protonen sehr energiereiche Elektronen hervorgehen (q q → e+ e–). Im Vergleich zu Myonen werden hier mehr Elektronen erzeugt, als zu vermuten wäre. Die Ergebnisse eines weiteren Experiments namens ATLAS sind bisher weniger genau, zeigen aber in dieselbe Richtung.
Der eingangs erwähnte g-Faktor beschreibt, wie stark ein Myon mit einem Magnetfeld wechselwirkt. Er lässt sich im Standardmodell sehr genau vorhersagen. Doch die Ergebnisse von E821 in Brookhaven und des darauf basierenden, jüngeren »Muon g-2«-Experiments am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) bei Chicago weichen davon ab. Bei den Versuchen werden Myonen auf einer Kreisbahn durch Magnetfelder geschickt. Dabei verändern sich ihre Spins, gewissermaßen ihre quantenmechanischen Drehimpulse. Bei ungestörten Myonen würde der Spin in diesem Experiment gleich bleiben; aber virtuelle Teilchen, die um sie herum entstehen und vergehen, zerren an den Myonen und bringen ihren Spin ins Wanken. Einerseits handelt es sich dabei um virtuelle Versionen der bekannten Vertreter aus dem Standardmodell, und der Effekt lässt sich berechnen. Andererseits können unbekannte Teilchen einen zusätzlichen Einfluss ausüben – und das scheint der Fall zu sein.
Die 2021 veröffentlichten Messungen von Muon g-2 des Fermilabs ergeben, kombiniert mit den Daten aus Brookhaven, eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 0,01 Prozent dafür, dass diese Anomalie auf einem statistischen Zufall beruht. Neue quantenfeldtheoretische Simulationen mit Supercomputern, die ebenfalls 2021 publiziert wurden, passen eher zu den Daten zum g-Faktor. Inzwischen wurde zudem eine Messung eines Experiments in Nowosibirsk veröffentlicht, die als Eingabe für die Standardmodell-Berechnung benötigt wird. Sie stimmt mit älteren Resultaten nicht überein und bringt die Vorhersage ebenfalls näher an die Messung des g-Faktors heran. Im August 2023 hat das Experiment Muon g-2 die Analyse weiterer Daten bekannt gegeben und damit seine bisherigen Ergebnisse untermauert. Die entscheidende Frage, die das Schicksal dieser Anomalie bestimmen wird, scheint also zu sein, wie zuverlässig die Vorhersage aus dem Standardmodell überhaupt ist. Können neue, verbesserte Berechnungen die Diskrepanz beseitigen?
b → s l+ l–
Ein weiteres Indiz stammt aus Messungen von Teilchenzerfällen mit der allgemeinen Bezeichnung b → s l+ l–, wobei b für ein Beauty-Quark, s für ein Strange-Quark und l für ein geladenes Lepton steht (das ist entweder ein Elektron oder ein Myon). Das heißt, bei dem Prozess verwandelt sich das Beauty- in ein Strange-Quark und erzeugt ein Lepton und dessen Antimaterie-Partner. Man würde als Produkte dieses Zerfalls etwa gleich häufig Myonen wie Elektronen erwarten. Doch Experimente wie LHCb, wo der Vorgang verfolgt wird, beobachten mehr Elektronen als Myonen. Wenn man alle Daten kombinierte, war das Ungleichgewicht statistisch betrachtet nur mit einer Wahrscheinlichkeit von höchstens 0,0001 Prozent auf einen Zufall zurückzuführen. Allerdings enthalten solche Wahrscheinlichkeiten nicht den menschlichen Faktor, das heißt die Möglichkeit, dass ein Messfehler gemacht wurde. Und dies war dann tatsächlich der Fall. Es kam zu der eingangs erwähnten Überraschung, als das LHCb-Team im Dezember 2022 eingestand, dass es bei der Auswertung einen Einfluss des Hintergrunds vergessen hatte. Zwar ist die Abweichung bei P5' und anderen Beobachtungsgrößen immer noch sehr signifikant, jedoch deuten die Diskrepanzen nicht mehr auf eine Verletzung der Leptonuniversalität hin. Sie lassen sich zum Beispiel mit einer schweren Version des Z-Bosons (Z' genannt) erklären. Auch eine Verbindung zu den Anomalien b → c l υ über Leptoquarks ist immer noch möglich.
W-Boson-Masse, Top-Quark-Zerfälle und Photonenpaare
Im Standardmodell kann man die Masse des W-Bosons vorhersagen, wenn man die Masse des Z-Bosons, eine Fermi-Konstante genannte Größe sowie die Stärke der Wechselwirkung von Photonen mit Elektronen kennt. Diese Werte sind sehr präzise gemessen worden. Hier gibt es eine Diskrepanz zwischen der theoretisch ermittelten W-Masse und deren Messung durch das CDF-Experiment am Fermilab in den USA aus dem Jahr 2022. Die statistische Signifikanz ist hier außerordentlich hoch. Allerdings passt die CDF-Messung obendrein nicht besonders gut zu Messungen am LHC – die wiederum näher am Standardmodell liegen.
Das Top-Quark ist das schwerste Teilchen des Standardmodells. Er zerfällt fast ausschließlich in ein Bottom-Quark und ein W-Boson. Am LHC werden sehr viele Paare von Top-Quarks produziert und ihr Verhalten wird anschließend aus den Zerfallsprodukten rekonstruiert. Hier gibt es starke Abweichungen zwischen den Messungen der Leptonen aus den W-Zerfällen und der Standardmodell-Vorhersage. Diese ließe sich noch verbessern, und solch eine präzisere Berechnung wäre wünschenswert. Wenn sich die Abweichungen bestätigen sollten, wäre das ein Hinweis auf neue Higgs-Teilchen.
Mittlerweile mehren sich nicht nur indirekte Hinweise, sondern außerdem direkte Anzeichen für neue Teilchen. Sowohl beim ATLAS- als auch beim CMS-Experiment gab es rätselhafte Ausschläge bei der Messung von Photonenpaaren. Nur »skalare« Teilchen können in Photonen zerfallen, also solche ohne Spin – wie das Higgs. Das könnte auf zusätzliche Varianten dieses Teilchens hindeuten. Interessanterweise sind die Massen, die zu der Erzeugung entsprechender Paare von Photonen passen würden, kompatibel zu denjenigen, mit denen die Abweichungen bei den Top-Quark-Messungen erklärt werden könnten.
Neue Physik?
Gesetzt den Fall, wir müssten das Standardmodell erweitern, um diesen Anomalien Rechnung zu tragen, wie sollten wir das tun? Wie wären die Gleichungen zur Beschreibung der Natur zu verändern, um Theorie und Experiment wieder in Einklang zu bringen? Wie oben schon erwähnt, sind Leptoquarks eine viel versprechende neuartige Klasse von Teilchen. Sie verbinden ein einzelnes Quark direkt mit einem Lepton. Dieses könnte sich beispielsweise in ein Quark verwandeln, indem es ein Leptoquark aussendet. Das stünde im Widerspruch zum Standardmodell, das keinen solchen unmittelbaren Austausch vorsieht.
Ein Leptoquark wäre etwas radikal Neues. Es wurde in der Vergangenheit im Rahmen von »großen vereinheitlichten Theorien« vorgeschlagen, mit deren Hilfe sich die verschiedenen Kräfte des Standardmodells bei hohen Energien zusammenführen lassen. Solche Energien würden jedoch sehr schweren Teilchen entsprechen. Ein Leptoquark, das die hier vorgestellten Messungen beeinflussen kann, wäre leichter, und entsprechend müssten die bestehenden Modelle verändert werden.
Eine weitere Möglichkeit sind andere hypothetische Teilchen wie schwere Fermionen, skalare Teilchen ohne Spin (einschließlich neuer Higgs-Bosonen) oder Eichbosonen (ähnlich den W- und Z-Bosonen). Eine faszinierende Methode zur Vorhersage solcher Objekte ist die Verwendung von Theorien, die zusätzlich zu unseren vier Dimensionen (drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension) mindestens eine weitere enthalten. Sie wäre kompakt zusammengefaltet und deswegen innerhalb der uns bekannten Dimensionen verborgen.
So spannend die Hinweise auf neue Phänomene sind, müssen wir sie doch unbedingt noch mit zusätzlichen, genaueren Daten und besseren Berechnungen untermauern. An dieser Herausforderung arbeiten weltweit eine Reihe von experimentellen und theoretischen Kollaborationen. Dazu gehören die Experimente ATLAS, CMS und LHCb am LHC, bei dem die Datensammlung mit dem Neustart im Sommer 2022 wieder begonnen hat.
Das Belle-II-Experiment in Japan führt seine Untersuchungen zu B-Meson-Zerfällen ebenfalls fort. Sollte sich nur eine der Anomalien bestätigen, wäre das der Beweis für die Existenz unbekannter Teilchen und Wechselwirkungen. Darüber hinaus hätten die neuartigen Teilchen Massen, die sich am LHC oder einem zukünftigen Beschleuniger vermessen ließen. Die Teilchen würden sich außerdem auf andere beobachtbare Phänomene auswirken, mittels derer man die Eigenschaften besser bestimmen könnte.
Künftige Beschleuniger sollen weitere Erkenntnisse liefern. Eine Maschine, die Elektronen und Positronen kollidieren lässt, wie der vom CERN anvisierte Future Circular Collider (FCC-ee) oder der von China geplante Circular Electron Positron Collider (CEPC), dürfte eine große Anzahl von Z-Bosonen erzeugen. Diese sind in mehrfacher Hinsicht nützlich, um Abweichungen vom Standardmodell zu beobachten. Erstens würden sich die meisten Anomalien, insbesondere beim magnetischen Moment des Myons, auf die Z-Zerfälle auswirken. Das ist etwa der Fall, wenn aus einem Z-Boson ein Myon und dessen Antimaterie-Partner werden. Außerdem würden die im FCC-ee zu erwartenden Z-Bosonen eine beispiellose Menge von Beauty-Quarks und Tauonen erzeugen. Deren Zerfälle könnte man dann präzise untersuchen, und hier erwarten wir ebenso Auswirkungen von neuartigen Teilchen – Effekte, die derzeit nicht hervortreten, weil wir nicht genügend Daten für ein deutliches Signal haben. Sollten sich die Hinweise auf neue Higgs-Teilchen bestätigen, ließen sich deren Eigenschaften an einem solchen Elektron-Positron-Beschleuniger sehr genau vermessen.
Ein Elektron-Positron-Speicherring wie der FCC-ee könnte um 2040 in Betrieb gehen. Später sollen dann im selben Tunnel Protonen aufeinanderprallen wie heute bereits im kleineren LHC (die Maschine würde dann FCC-hh heißen). Dabei wären wesentlich höhere Energien möglich, und die Teilchen würden möglicherweise direkt erzeugt.
Eine solche Maschine ginge jedoch wohl nicht vor 2060 in Betrieb. Ich müsste sehr lange leben, um damit noch eines der Modelle, an denen ich gearbeitet habe, bestätigt zu sehen, und hoffe darum sehr, dass die neuen Teilchen leicht genug sind, damit sie am LHC gefunden werden können.
Bisherige Ergebnisse werden ständig aktualisiert und in Frage gestellt
Wir befinden uns auf jeden Fall in einer sehr spannenden Situation. Bisherige Ergebnisse werden ständig aktualisiert und in Frage gestellt. Während die Hinweise auf eine Verletzung der Leptonuniversalität in b → s l+ l– 2022 verschwunden sind, wurden die beim Prozess b → c l ν im Jahr darauf von einer neuen LHCb-Messung bestätigt, und das BELLE-II-Experiment in Japan hat im Juli 2023 eine Abweichung beim Zerfall B → K* ν ν (also mit Neutrinos statt geladenen Leptonen) gefunden. Darüber hinaus verdichten sich die direkten Hinweise auf neue Higgs-Bosonen.
Wir alle warten gespannt auf mehr Daten und weiter verbesserte theoretische Vorhersagen. Dies könnte dann endlich die Existenz von Teilchen beweisen, welche nicht im Standardmodell enthalten sind und Antworten zu einigen der größten Fragen über die Natur liefern – vom Ursprung der Neutrinomasse bis zur Dunklen Materie und dem Verbleib der Antimaterie im Universum.
© Springer Nature Limited
Scientific American, Rule-Breaking Particles Pop Up in Experiments around the World, 2022