So ungleich ist Deutschland: Löhne steigen stärker als Kapitaleinkommen - DER SPIEGEL


Verteilung des Wohlstands So ungleich ist Deutschland

Lange legten hierzulande nur die Vermögensgewinne zu, während die Löhne stagnierten. Das hat sich geändert – doch wer profitiert davon? Ein aktueller Verteilungsbericht zeigt es. Die wichtigsten Erkenntnisse.
23.01.2021, 19.12 Uhr

Monteurin bei ZF Friedrichshafen

Foto: Felix Kästle / dpa

Mit der Ankunft der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 endete für Deutschland eine lange Phase des Aufschwungs. Über eine Dekade war die Wirtschaft in jedem einzelnen Jahr gewachsen. Besonders stark war die Entwicklung am Arbeitsmarkt, im Schnitt entstanden Jahr für Jahr unter dem Strich rund eine halbe Million sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze neu.

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Noch ist unklar, ob und in welchem Ausmaß die Pandemie auch über ihr Ende hinaus die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verändern wird. Für den Arbeitsmarkt etwa sind Experten grundsätzlich optimistisch. Demnach beschleunige Corona zwar einige bereits zuvor bestehende Trends und erhöhe die damit verbundenen Herausforderungen – eine lange systemische Krise sei aber nicht zu erwarten. Auf mittlere und lange Sicht bleibe das größte Problem vielmehr das gleiche wie vor der Pandemie: Deutschland droht ein Mangel an passend qualifizierten Arbeitskräften.

Damit könnte sich nach Corona auch ein Trend fortsetzen, der in den Jahren zuvor eine starke Dynamik hatte: Die Arbeitnehmerentgelte haben 2019 die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen fast eingeholt, was das Wachstum seit dem Jahr 2000 betrifft – nachdem sie lange deutlich zurücklagen. Das geht aus dem aktuellen Verteilungsbericht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hervor, der dem SPIEGEL vorab vorlag.

Die Grafik zeigt die Entwicklung seit der Jahrtausendwende:

Die Experten des DGB haben auf mehr als 90 Seiten zahlreiche Daten amtlicher Statistiker und internationaler Organisationen zusammengetragen und eigene Berechnungen angestellt. Entstanden ist ein vielseitiger Überblick über die Verteilung des Wohlstands in Deutschland, die Ungleichheit im internationalen Vergleich oder die Geschlechtergerechtigkeit.

Arbeiter in Metallwerkstatt in Klitten

Foto: Florian Gaertner / imago images / photothek

Löhne: die Aufholjagd

Die Nullerjahre waren für die Beschäftigten in Deutschland in ihrer Gesamtheit mager: Wenn man die Inflation herausrechnet, lag die Summe aller Arbeitnehmerentgelte – zu denen außer den eigentlichen Bruttolöhnen auch die Sozialbeiträge der Arbeitgeber zählen – in jedem Jahr dieser Dekade unter der des Jahres 2000.

Gleichzeitig stiegen die Kapitaleinkommen stark: Unternehmensgewinne und Vermögenseinkünfte warfen stets deutlich mehr ab als im Vergleichsjahr 2000 – in der Spitze bis zu 38 Prozent mehr (im Jahr 2007). Seit 2010 jedoch konnten die Arbeitnehmerentgelte deutlich zulegen, mit zuletzt hoher Dynamik. Im Jahr 2019 hatten sie die Kapitaleinkommen bereits fast eingeholt: Preisbereinigt lagen sie um 25,9 Prozent höher als 2000, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 27,4 Prozent. Im ersten Halbjahr 2020 ließ der tiefe Wirtschaftseinbruch durch die Coronakrise die Kapitaleinkommen weit stärker abstürzen als die Arbeitnehmerentgelte – allerdings dürften sie sich im Aufschwung nach der Pandemie auch wieder deutlich stärker erholen.

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Diese Entwicklung bildet sich auch in der sogenannten Lohnquote ab. Sie bezeichnet den Anteil aller Arbeitnehmerentgelte am gesamten Volkseinkommen. Im Jahr 2019 erreichte sie mit 72 Prozent nahezu den Wert des Jahres 2000; zwischenzeitlich war sie auf 64,5 Prozent im Jahr 2007 gesunken.

Diese Kennziffer sagt aber an sich noch nicht viel darüber aus, ob sich auch die individuellen Löhne der Beschäftigten verbessert haben. Denn wenn jedes Jahr eine halbe Million neue Jobs entstehen, kann die Gesamtsumme der Entgelte steigen, ohne dass der oder die Einzelne sich mehr leisten können.

Allerdings sind auch die durchschnittlichen monatlichen Reallöhne der Beschäftigten zuletzt deutlich gestiegen. Im Jahr 2019 lagen sie um 12,5 (brutto) oder 12,2 Prozent (netto) über dem Niveau von 2000 – wohlgemerkt unter Herausrechnen der Inflation. Im Schnitt konnten sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer also vor der Coronakrise spürbar mehr leisten als noch zur Jahrtausendwende – während sie in der zweiten Hälfte der Nullerjahre effektiv weniger Kaufkraft hatten. In der Grafik können Sie sowohl die Entwicklung bei den Brutto- als auch bei den Nettolöhnen sehen:

Ein Grund für die positive Entwicklung liegt in der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015, schreiben die Autoren des DGB-Verteilungsberichts. Zudem konnten die Gewerkschaften gerade in der zweiten Hälfte der Zehnerjahre teils hohe Tarifabschlüsse erzielen, dadurch wurde der Verteilungsspielraum oft ausgeschöpft.

Das Verdienstgefälle in Konzernen ist riesig

Die DGB-Experten machen in ihrem Bericht zudem deutlich, dass die Verdienste innerhalb von Unternehmen oft sehr ungleich verteilt sind. Das ist insbesondere in großen Konzernen der Fall, wo die Gehälter von Topmanagern und einfachen Beschäftigten weit auseinanderklaffen. So verdiente etwa Frank Appel, der Vorstandschef der Deutschen Post, im Jahr 2019 das 162-fache wie der oder die durchschnittliche Post-Angestellte. Auf das gesamte Vorstandsgremium bezogen, war die Kluft beim Volkswagen-Konzern besonders groß.

Relativ klein waren die Abstände zwischen Spitzenmanagern und Beschäftigten hingegen beim Chemiekonzern Covestro, dort verdiente ein Vorstandsmitglied im Jahr 2019 im Schnitt 17-mal so viel wie die Beschäftigten.

Einkommen: hohe Ungleichheit – aber wirkungsvolle Umverteilung

Allgemein ist die Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen in Deutschland vergleichsweise hoch. Das gilt zumindest, wenn es um die sogenannten Markteinkommen geht – also das, was jemand brutto durch Erwerbsarbeit verdient oder was ihm als Unternehmensgewinn oder Vermögensertrag zufließt.

Als eine Kennziffer dient hier der Gini-Koeffizient, der Werte zwischen 0 und 100 Prozent erreichen kann. Bei 0 Prozent hat jeder und jede ein gleich hohes Einkommen, bei 100 Prozent hat eine einzige Person das gesamte Einkommen und alle anderen nichts.

Im Schnitt der unter dem Dach der OECD zuammengeschlossenen Industrieländer liegt dieser Gini-Koeffizient für die Markteinkommen bei 46,8 Prozent – in Deutschland aber bei exakt 50 Prozent.

Allerdings gelingt es in Deutschland relativ effektiv, die hohe Ungleichheit bei den Markteinkommen durch Umverteilung zu senken. Betrachtet man die verfügbaren Einkommen – also nachdem Steuern und Sozialbeiträge gezahlt sowie staatliche Sozialleistungen empfangen wurden – liegt der Gini-Koeffizient in Deutschland bei 28,9 Prozent und damit unter dem OECD-Durchschnitt von 31,5 Prozent.

In der folgenden Grafik sind ausgewählte OECD-Staaten nach der Wirksamkeit ihrer Umverteilung sortiert: Staaten, die Einkommensungleichheit stark reduzieren, stehen oben – Staaten mit geringer Dämpfung der Ungleichheit stehen unten.

Demnach wird Ungleichheit etwa in Finnland oder Frankreich noch stärker ausgeglichen, in Spanien, Japan oder den USA hingegen schwächer als in Deutschland. Ins Auge fällt die Schweiz: Dort ist die Ungleichheit der Markteinkommen zwar kleiner als in fast jedem anderen Industrieland – aber die im Alltag wichtigeren verfügbaren Einkommen sind ungleicher verteilt als in Deutschland.

Gehobenes Wohnviertel in Heidelberg

Foto: imago images / Westend61

Vermögen: Extrem ungleich verteilt – und kaum besteuert

Gerade im internationalen Vergleich ist die Situation bei den Vermögen in Deutschland eine deutlich andere als bei den Einkommen: In der Bundesrepublik sind die Vermögen stärker beim wohlhabendsten Prozent der Bevölkerung konzentriert als in den meisten anderen Industriestaaten der Welt. Dieses eine Prozent besitzt mehr Nettovermögen als 87,6 Prozent der Bevölkerung zusammen.

Zwar ist diese Vermögenskonzentration bei den Superreichen etwa in den USA – und kurioserweise auch im sozialdemokratisch geprägten Schweden – sogar noch höher. Aber selbst in Großbritannien oder der Schweiz, die als wirtschaftsliberal gelten, vereint das oberste Prozent keinen solch hohen Anteil des Gesamtvermögens auf sich.

Gleichzeitig werden Vermögen in Deutschland kaum zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen. Insgesamt tragen die Steuern auf Vermögen – etwa durch Erbschaft- oder Grundsteuer – lediglich 2,7 Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei. In Großbritannien und den USA sind es hingegen jeweils mehr als zwölf Prozent, in der Schweiz 7,6 Prozent. Der DGB fordert daher eine stärkere Besteuerung unter anderem von Vermögen: »Starke Schultern müssen mehr zum Gemeinwesen und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. Das ist schon deshalb geboten, um die Lasten der Coronakrise gemeinsam zu meistern«, sagt DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell.

Seniorin in Stuttgart

Foto: Franziska Kraufmann / dpa

Frauen: Im Alter weit weniger Geld

Einen hinteren Platz im internationalen Vergleich nimmt Deutschland auch bei der Geschlechtergerechtigkeit, insbesondere bei den Einkommen im Alter ein. Nimmt man die Einkünfte aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Rente zusammen, erhielten Frauen 2019 im Schnitt 37,4 Prozent weniger als Männer.

Zwar liegen die Alterseinkünfte von Frauen in vielen EU-Staaten erheblich unter denen der Männer, doch zumeist ist die Kluft kleiner. In Dänemark bekommen Seniorinnen im Schnitt immerhin 92,6 Prozent dessen, was Rentner aus ihrer Vorsorge erhalten.

Anmerkung: In der Grafik zur Umverteilung wurde der Wert für den OECD-Durchschnitt zu niedrig angegeben. Die Grafik wurde korrigiert.