Sklaverei und Terror gab es schon vor dem Aufstieg des Westens. Aber die in Europa so populäre Vorstellung, wonach Staatlichkeit und westliche Zivilisation die Gewalt gezähmt hätten, ist blanker Zynismus. | WOZ Die Wochenzeitung
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Sklaverei und Terror gab es schon vor dem Aufstieg des Westens. Aber die in Europa so populäre Vorstellung, wonach Staatlichkeit und westliche Zivilisation die Gewalt gezähmt hätten, ist blanker Zynismus.
Der Dschihad und der Westen
Sklaverei und Terror gab es schon vor dem Aufstieg des Westens. Aber die in Europa so populäre Vorstellung, wonach Staatlichkeit und westliche Zivilisation die Gewalt gezähmt hätten, ist blanker Zynismus.
Wir gegen die Barbaren: Angesichts der Gräueltaten des Islamischen Staats fällt auch die Linke in ein erschütternd geschichtsloses Denken zurück. An die «Dialektik der Aufklärung» scheint sich niemand mehr zu erinnern.
Von Raul Zelik
Was hat der religiöse und ethnizistische Irrsinn der Gegenwart mit den globalen ökonomischen Verhältnissen zu tun? Foto: Aura, Keystone; Montage: WOZ
Während der Islamische Staat (IS) im Irak und in Syrien vorrückt und seine Macht durch immer abgestumpftere Gewalthandlungen zu zementieren versucht, schreiben europäische Intellektuelle an einer Verteidigungslinie. Wie schon nach den Anschlägen vom 11. September 2001 errichten sie diese entlang der Erzählung von «der Zivilisation», die es gegen «die Barbarei» zu verteidigen gelte. Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter beispielsweise schreibt in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», das triebhafte «Böse» sei für das fundamentalistische Grauen verantwortlich. Sprich: Es ist der nicht ausreichend kulturalisierte, zu wenig durch moderne Staatlichkeit regulierte, animalische Mensch, der hier killt.
«Diese Männer», tönt es bei de Winter fast ein wenig patriarchatskritisch, «haben alle zivilisatorischen Hemmungen abgelegt, können ihren primitivsten Bedürfnissen und Impulsen nachgeben. Sie haben die ultimative Befreiung erreicht. Weil sie völlig gefühllos sind und andere Menschen auf Objekte von Lust und Unterwerfung reduzieren, haben sie den Zenit ihrer sexuellen Potenz erreicht und können sich ganz offen wie Bestien aufführen.» Damit sein Manifest denn doch nicht zu sehr auf die Männer-Frauen-Geschichte hinausläuft, stellt de Winter auch klar, dass «die Zivilisation» selbstverständlich ein Zuhause habe. Bei den Bildern der Dschihadisten, falle ihm der Film «Andrej Rubljow» (1966) von Andrei Tarkowski ein, der während der Tatareneinfälle in Europa spielt: «Sie töten, verstümmeln, vergewaltigen, stehlen. Meisterhaft zeigt Tarkowski, mit welchen Gefühlen diese asiatischen Horden dabei vorgehen – sie töten mit grosser Lust.»
Leon de Winter ist kein Einzelfall. Die Wiener Philosophin Isolde Charim, eigentlich eine Linke, stösst in der Berliner «taz» ins selbe Horn, wenn sie den dschihadistischen Terror als Folge mangelnder Staatlichkeit erklärt. In Anlehnung an den Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der schon vor zehn Jahren die irregulären Kriege des Südens für die Entgrenzung der Kriegsgewalt verantwortlich machte und im Anschluss daran für einen selbstbewussteren Imperialismus Deutschlands plädierte, schreibt Charim: «Das Machtmonopol des Staates – so problematisch es sein mag – ist zumindest an etwas gebunden: an Regulierungen. Irreguläre Kämpfer agieren jenseits davon.» Natürlich, so Charim weiter, werde immer wieder gegen das Kriegsrecht verstossen. «Aber beim Partisanen geht es nicht um eine Übertretung. Der Partisan ist die grundlegende Infragestellung des Kriegsrechts.»
De Winter, Charim, Münkler – sie alle singen hier das gleiche Lied, nämlich den alten Song von Carl Schmitt, dem juristischen Vordenker des Dritten Reichs. Sie lassen keinen Zweifel daran, was die «destruktiven Energien junger Männer in organisierte Bahnen» (de Winter) lenken und damit der menschlichen Gewalt Grenzen setzen sollte: der Aufbau moderner Armeen, zivilisierte Staatlichkeit und nicht zuletzt ganz allgemein der Westen.
Doch was ist das für eine Erzählung, die hier dargeboten wird? Zunächst einmal eine erschütternd geschichtslose. Moderne Staatlichkeit soll der Entmenschlichung von Kriegen Grenzen gesetzt haben? Wer hat im Zweiten Weltkrieg die Gewalt systematisch gegen die Zivilbevölkerung zu richten begonnen: die weissrussischen und jugoslawischen Partisanen oder die Wehrmacht, die «die destruktiven Energien junger Männer» so erfolgreich zu kanalisieren verstand? Und wer hat davor den Terror im Globalen Süden – Zwangsarbeit, sexuelle Sklaverei, die Zertrümmerung gemeinschaftlicher Sicherungssysteme – so erfolgreich verbreitet: die europäischen Kulturnationen oder die archaischen «Horden» Asiens und Afrikas?
Selbstverständlich ist die Gegenerzählung, die den «dekadenten Westen» zum Hort des Bösen macht, nicht weniger idiotisch. Sklaverei, Terror und bestialische Gewalt gab es auch schon vor dem Aufstieg des Westens und immer auch unabhängig von ihm: im kolonisierten Süden ebenso wie in der muslimischen Welt. Aber die in Europa so populäre Vorstellung, nach der Staatlichkeit und westliche Zivilisation die Gewalt gezähmt hätten, ist blanker Zynismus. Nicht nur Auschwitz, sondern auch die Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts oder die Aufstandsbekämpfung von Franzosen, Briten und US-Amerikanern nach 1945 sprechen hier eine eindeutige Sprache. Mag sein, dass Staaten mit «weniger Lust» morden und verstümmeln als de Winters «asiatische Horden», aber dafür tun sie dies mit grösserer administrativer Effizienz.
Dialektik der Aufklärung
Es ist seltsam, dass derartige Einwände in der aktuellen Debatte keine Rolle spielen. Immerhin ist es gerade einmal fünf Wochen her, seit dieselben Feuilletons, die jetzt zur Verteidigung der Zivilisation trommeln, den 70. Jahrestag der Ersterscheinung von «Dialektik der Aufklärung» bejubelten. Offensichtlich haben sich nur wenige RedaktorInnen die Mühe gemacht, das Buch von Max Horkheimer und Theodor Adorno noch einmal zur Hand zu nehmen. Die Schrift von 1944 steht im radikalen Widerspruch zum Zivilisationsdiskurs des Mainstream. Horkheimer und Adorno ziehen darin eben gerade keinen Graben zwischen Aufklärung und religiösem Wahn, zwischen Barbarei und Zivilisation. Im Gegenteil: Sie zeigen, dass Europas Aufklärung in der Logik des Mythos gefangen blieb.
Ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist die Aufklärung ein emanzipatorisches Gegenprojekt zu Fremdbestimmung und Aberglauben. Der Mensch, der im religiösen System der Willkür göttlicher Mächte unterworfen ist, beginnt die Welt mithilfe seiner Vernunft zu durchdringen, Zusammenhänge zu erkennen und sich dadurch aus Unmündigkeit und Fremdbestimmtheit zu befreien. Horkheimer und Adorno machen die Zivilisationsgeschichte als Expansionsprozess einer unkritischen, rein instrumentellen Vernunft kenntlich. Um diese Entwicklung nachzuzeichnen, greifen sie zunächst auf den griechischen Mythos zurück, den sie als Urerzählung der westlichen Zivilisation betrachten, und konkret auf das Homer-Epos «Odyssee». In diesem irrt der griechische Kriegsheld Odysseus als Spielball der Götterwelt zehn Jahre lang über die Meere, bis er endlich nach Hause zurückfindet.
Wie jede religiöse Erzählung ist auch der Mythos bereits eine Rationalisierung: Für mächtige Naturerscheinungen werden Begründungen gesucht, nämlich Gottheiten, die für Blitz und Donner zuständig sind. Die Rationalisierung im Odysseus-Epos geht aber darüber hinaus. Bei ihr, so Horkheimer/Adorno, handle es sich um eine sachbezogene, auf den eigenen Vorteil bedachte Vernunft. Odysseus ist in diesem Sinn der «Prototyp des bürgerlichen Individuums». Sein Wissen setzt er nicht etwa ein, um die Fremdbestimmtheit infrage zu stellen, wie es eine emanzipatorische Kritik tun würde, sondern um die höheren Mächte auszutricksen, ohne sie hinterfragen zu müssen. Odysseus geht es – bereits ganz der moderne Fachidiot – um konkrete, handhabbare Problemlösungen. Ausserdem hat er das Tauschprinzip gänzlich verinnerlicht: Opfer werden nur dargebracht, um den nächsten Reiseabschnitt in Ruhe absolvieren zu können.
Bei seinen Abenteuern ist Odysseus letztlich deshalb erfolgreich, weil es ihm gelingt, die innere und äussere Natur zu unterwerfen – auch hierin zeigen sich die Grundlagen der Moderne. Niedere, anarchisch daherkommende Barbaren wie die Zyklopen, deren Anarchie so weit reicht, dass sie weder über politische Gesetze noch über eine ordentliche Gesichtsanordnung verfügen, werden überlistet und getötet. Hexenhafte Frauen, die mit ihrem sexuellen Genuss bewirken, dass Männer zu Tieren, sprich Schweinen werden, bricht Odysseus mithilfe seiner Willenskraft. Die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Triebe – etwa das Verlangen, zu den Sirenen in die Fluten zu springen – bändigt er, indem er sich an einen Mast fesseln lässt. (In «Pirates of the Caribbean» auferstehen diese Sirenen als das, was sie eigentlich sind, nämlich Sexsymbole.) Odysseus setzt sich also seinem Begehren aus, um es zu beherrschen. Und die Lotophagen schliesslich, die dem Müssiggang frönen und Lotusblüten essen, obwohl diese nur gut schmecken und gar keinen Nährwert besitzen, werden von den griechischen Kriegern vollends verachtet.
Auch Horkheimer und Adorno beschreiben die Zivilisationsgeschichte also als eine Prozedur zur Zähmung von Wünschen, Trieben und Bedürfnissen. Anders aber als der bürgerliche Mainstream, der die Menschen auch heute noch mit Autorität, Disziplinierung und herrschaftlicher Regulation vor den Artgenossen und dem eigenen Körper schützen zu müssen glaubt, wird dieser Prozess in «Dialektik der Aufklärung» als Entfremdungsprozess beschrieben. Die westliche Zivilisation sei eben kein Bildungsroman und keine Emanzipationsstory, so die «Dialektik der Aufklärung», sondern die Weiterentwicklung von fremdbestimmter Beschränktheit: Die soziale Verrohung wurde technisch und organisatorisch entfaltet.
Ganz ähnlich wie in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen bemühen sich Horkheimer/Adorno also um einen fortschritts- und technikkritischen (aber keineswegs -feindlichen) Marxismus, der das auf Eigentums- und Verteilungsfragen reduzierte Befreiungsversprechen der Zweiten Internationalen radikal erweitert. Die «Dialektik der Aufklärung» ist in diesem Sinn ein frühes feministisches, grünes und in seiner Zivilisationskritik sogar antikoloniales Buch. Die bürgerliche Gesellschaft wird als Projekt zur Unterwerfung der inneren und äusseren Natur dechiffriert.
Dementsprechend sind auch Mitleid und Mitgefühl, so Horkheimer/Adorno weiter, kein Ausdruck der Zivilisation. Zwar gewinnt mit der Aufklärung die Morallehre im gleichen Mass an Bedeutung, wie die Religion an Einfluss verliert. Doch die Moral des bürgerlichen Zeitalters wird von innen zerrissen, denn sie lässt sich nicht rational begründen, ist historisch von traditionellen Autoritäten gesetzt und widerspricht der Handlungsvernunft marktförmiger, auf Konkurrenz getrimmter Gesellschaften. Diesen Zusammenhang aufgedeckt zu haben, darin besteht für Horkheimer/Adorno die Leistung des Marquis de Sade und Nietzsches. Die rücksichtslose Grausamkeit von de Sades Juliette im gleichnamigen Roman ist völlig folgerichtig. Diese Frau verkörpert, psychologisch ausgedrückt, weder unsublimierte noch regredierte Libido, sondern intellektuelle Freude an der Regression», mit anderen Worten: «die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen».
Die «Dialektik der Aufklärung» kommt zugegebenermassen als düsterer Text daher. Doch anders als der reaktionären Rechten geht es Horkheimer/Adorno eben nicht um die Idealisierung eines Naturzustands oder irgendwelcher Traditionen. Sie wollen keine Abkehr vom Emanzipationsversprechen der Aufklärung, sondern dessen Radikalisierung. Ihr Vorhaben lautet, die Aufklärung von den mythologischen und fremdbestimmten Anteilen zu befreien – was ihrer Ansicht nach nur gegen den Kapitalismus und dessen Waren- und Verdinglichungslogik möglich ist. Denn das Mittel der instrumentellen Vernunft wird in der Zivilisationsgeschichte zum Fetisch, zum sinnentleerten Ziel.
Kritik im imperialen Zeitalter
Was aber nützt dieser radikal-kritische Ansatz heute, da angeblich die Verteidigung der Zivilisation auf der Tagesordnung steht? Zunächst einmal erinnert er daran, dass sich die bürgerlich-imperiale Öffentlichkeit falsche Gegensätze zusammendichtet.
Der österreichische Politologe Farid Hafez, der zur Islamophobie forscht und in Internetforen mit Hasskommentaren bombardiert wird, verweist darauf, dass der Dschihadismus unter anderem ein zeitgenössisches, europäisches Problem sei. Es sind laut Hafez nicht irgendwelche anderen Kulturen, die zum Schwert greifen, sondern ganz normale, unter «ordentlichen» staatlichen Verhältnissen aufgewachsene Jugendliche aus der Nachbarschaft: «Wie viele andere Jugendkulturen, die subversive Elemente in sich tragen, ist auch die Jugendkultur des globalen Jihadismus gegen den Westen gerichtet, wobei sie sich in der Praxis im Sinne des postmodernen Paradigmas von jeder Eindeutigkeit verabschiedet hat. Diese Jugendkultur, der sich vor allem junge Männer zugezogen fühlen, verspricht maskuline Identifikationsbilder: starke Krieger mit Waffen, die töten. Sie verspricht jener Schicht junger Menschen Macht, die sich angesichts rassistischer Ausgrenzung, mit der sich viele junge Muslime und Musliminnen oft herumschlagen müssen, ohnmächtig fühlen.»
Wenn Hafez mit diesem Hinweis darauf hinauswill, dass der Dschihadismus nichts mit dem Islam zu tun hat, hat er natürlich unrecht. So wenig wie sich das Christentum ohne Inquisition und Kreuzzüge verstehen lässt, so wenig kann man die reaktionäre Todes- und Frauenverachtung der Dschihadisten vom Islam abtrennen. Nur, das Gleiche gilt eben auch für die westliche Zivilisationsgeschichte: Zur Aufklärung gehören neben Kant und Descartes auch massenhafte Sklaverei, die terroristisch-administrative Inbesitznahme des Globalen Südens, die zur Aufsprengung traditioneller Gesellschaft bewusst in Kauf genommenen Hungersnöte im britischen Empire, die bürokratisch verwaltete Vernichtungsindustrie von Auschwitz, unzählige Ressourcenkriege und ein Imperialismus, der heute zwar weniger nationalstaatlich daherkommt als vor hundert Jahren, aber nichts von seiner ökonomisch-militärischen Aggressivität eingebüsst hat.
Eigenartigerweise wird das nicht nur vom Mainstream, sondern auch von einem grossen, sich als proisraelisch verstehenden Teil der deutschsprachigen Linken ausgeblendet, der die Frankfurter Schule gern für sich in Anspruch nimmt, aber sich um die in der «Dialektik der Aufklärung» verhandelten Probleme offensichtlich wenig schert. Kaum jemand scheint sich daran zu erinnern, dass sich die beissende Kritik von Horkheimer / Adorno in erster Linie gegen die bürgerlichen Verhältnisse richtete und damit gegen den Kern dessen, was wir heute als «den Westen» bezeichnen. Wenn in «Dialektik der Aufklärung» das Adjektiv «totalitär» auftaucht, dann ist von der Verdinglichung sozialer Beziehungen, der Ware als Fetisch oder der industriellen Kolonisierung des Lebens die Rede. In diesem Sinn wird der Faschismus, den Horkheimer und Adorno in den vierziger Jahren als Feind vor Augen hatten, denn auch nicht als Rückfall in die Barbarei bejammert, sondern als logische Kontinuität und Steigerung modern-bürgerlicher Handlungsrationalität interpretiert.
Wenn man das Erbe einer kritischen Tradition ernst nehmen will, dann müsste es heute um etwas Ähnliches gehen, nämlich um die Frage, inwieweit der religiöse und ethnizistische Irrsinn, der global auf dem Vormarsch ist, nicht einfach nur eine Gegenreaktion auf die kapitalistische Globalisierung oder Ausdruck von deren Scheitern, sondern diesem ökonomischen Prozess direkt eingeschrieben ist. Man müsste fragen, ob die Verachtung für das eigene und fremde Leben nicht auch etwas mit der soziophoben Utopie globaler freier Märkte zu tun haben könnte; ob sich in der kindlichen Begeisterung der IS-Neubürger für öffentliche Hinrichtungen nicht die Gleichgültigkeit des westlichen TV-Publikums gegenüber den globalen Opfern der imperialistischen Kriegsmaschinen spiegelt und ob der ethnizistisch und religiös begründete Zerfall von Staaten nicht einfach die logische Umsetzung des liberalen Programms allgemeiner Konkurrenzbeziehungen ist.
Sicherlich ist der globalisierte, neoimperialistische Kapitalismus nicht die einzige Ursache des sich ausbreitenden Schreckens. Fest steht aber, dass sich mit der «Dialektik der Aufklärung» sicher keine Verteidigung «der Zivilisation» gegen «die Barbarei», der «Aufklärung» gegen den «Islamofaschismus» oder von Israel gegen die Hamas begründen lässt. Horkheimer und Adorno richteten ihre Faschismuskritik gegen die Grundlagen kapitalistischer Vergesellschaftung: den Utilitarismus, die Unterwerfung von Natur, Weiblichkeit und des Sozialen im Rahmen eines grossen (Selbst-)Erziehungsprogramms, die kompetent-verrohte Idiotie effizienzorientierter Rationalität.
Folglich wäre es einer Tradition der kritischen Theorie angemessen, die rassistisch unterfütterten Ressentiments gegen den Islam und das «orientalische Andere» nicht einfach zu bedienen, sondern stattdessen zu fragen, was der religiöse und ethnizistische Irrsinn der Gegenwart mit den globalen ökonomischen Verhältnissen zu tun haben könnte. Das wäre auch politisch hilfreich, denn der militante Islamismus besetzt (genauso wie die ethnizistische Rechte) heute jene Felder, die die Linke weitgehend aufgegeben hat: die Position einer radikalen Alternative, des Widerstands gegen eine totale Inwertsetzung. Dschihadisten planieren heute medienwirksam die vom Kolonialismus gezogene Grenze zwischen Syrien und dem Irak. Wenn diese hysterisierten Kinder ankündigen, «Amerika in Stücke zu schneiden», vollziehen sie damit eigentlich nur das nach, was die kapitalistische Ressourcenökonomie seit siebzig Jahren im Mittleren Osten veranstaltet. Und die Sittenpolizei des IS im syrischen Rakka schliesslich profiliert sich dadurch, dass sie dem Markt Grenzen setzt und gegen ungerechte Preise vorgeht.
Wir leben in einer durchgeknallten Welt. Aber dieses Durchgeknalltsein kommt weder von aussen noch aus der Vergangenheit – es kommt von innen und ist mit der «westlichen Zivilisation» nicht minder eng verschränkt, als es vor siebzig Jahren Aufklärung und Faschismus waren. Ein kritischer Marxismus und ein Feminismus, der patriarchale Beziehungen nicht in erster Linie beim «orientalischen Anderen» erkennt, sind unerlässlich, um in dieser Lage wieder ein paar vernünftige Standpunkte entwickeln zu können.
Raul Zelik ist Fellow des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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