Science-Fiction-Autor Stanisław Lem - Das Geheimnis der Sterntagebücher
Published by The Internett,
Lange Nacht | Beitrag vom 04.09.2021
Science-Fiction-Autor Stanisław LemDas Geheimnis der Sterntagebücher
Von Markus Metz und Georg Seeßlen
Stanisław Lem gilt als Klassiker der Science-Fiction: virtuelle Realität, neuronale Netze und Nanotechnologie beschrieb er schon vor Jahrzehnten. Er war Visionär, Autor, Philosoph und Gesellschaftskritiker. Vor 100 Jahren wurde er geboren.

Der  Universalgelehrte in seinem Metier: Stanislaw Lem in seiner Bibliothek  in Krakau am 16. Februar 1975.  (picture-alliance / dpa / Forum  Jalosinski)
Stanisław Lem gilt als Klassiker  der Science-Fiction: virtuelle Realität, neuronale Netze und  Nanotechnologie beschrieb er schon vor Jahrzehnten. Er war Visionär,  Autor, Philosoph und Gesellschaftskritiker. Vor 100 Jahren wurde er  geboren.
Stanisław Lem zählt neben den Brüdern Strugatzki zu den wenigen, auch im Westen bekannten und gefeierten Science-Fiction-Autoren  aus dem früheren Ostblock. Romane wie „Solaris" und „Die Astronauten"  wurden Klassiker ihres Genres, daneben schrieb er Kurzgeschichten und  technikphilosophische Schriften.
Geboren wurde der polnische  Schriftsteller vor 100 Jahren, am 12. September 1921, in Lemberg. Sein  Vater Samuel ist Arzt, medizinische Gerätschaften wie ein Stethoskop  erregen schon früh das Interesse des Jungen. Nach einer behüteten  Kindheit beginnt er im Jahr 1940 in Lemberg Medizin zu studieren. 
Aber  schon im Jahr darauf marschieren deutsche Truppen in die Stadt ein. Die  Familie Lem überlebt mit Hilfe von gefälschten Papieren, erlebt aber  die ganze Ghettoisierung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung  Lembergs. (*)
Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee  wird Lemberg eine sowjetische Stadt und es folgt die Zwangsumsiedlung  der polnischen Bevölkerung in die Volksrepublik Polen. Lem geht mit  seinen Eltern nach Krakau und muss sich mit 25 Jahren eine neue Existenz  aufbauen.
Anfänge als Schriftsteller
Die späte  Stalin-Zeit ist auch die Zeit der rigidesten Zensur. Der sozialistische  Realismus ist ein absolutes ästhetisches Dogma und es gibt eigentlich  kaum Möglichkeiten, für Lem so zu schreiben, wie er will.
Gleichzeitig  gibt es in dieser extrem zensierten medialen Wirklichkeit die  Populärwissenschaften. Lem interessiert sich für Naturwissenschaften und  fängt an, sowjetische populärwissenschaftliche Zeitschriften zu lesen.  Unter anderem entdeckt er Berichte über den Tunguska-Meteorit,  abgestürzt 1908 im Osten Sibiriens, und Spekulationen, ob das nicht ein  atomar getriebenes interplanetarisches Raumschiff gewesen sein könnte.

Verwüstungen  in der Tunguska-Region. Auf einem Gebiet, das etwa der Fläche von  London entspricht, waren nahezu alle Bäume umgeknickt.  (Imago/Ann Ronan  Picture Library/Photo 12)
Die Vorstellung,  Meteoriteneinschläge könnten auch von einer außerirdischen Intelligenz  stammen, bildete eine faszinierende Lücke in den geschlossenen  Weltbildern jener Jahre, eine Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und  Fantasie..
Science-Fiction und Gesellschaftskritik
Für  diese Schnittstelle erfand Lem seine Romanfiguren, insbesondere den Held  der „Sterntagebücher", Ijon Tichy. Tichy ist kosmischer Reisender,  großer Märchenerzähler, grenzenlos Neugieriger und das Alter Ego von  Lem. Auch in den Romanen „Der futurologische Kongress", „Lokaltermin"  und „Frieden auf Erden" ist Tichy präsent
Lems Erzählungen und  Romane sind voller ironischer Anspielungen, im Kern aber steckt ein  pessimistisches Weltbild: So erlebt Ijon Tichy auf seinen Reisen etwa  nie eine gleichzeitig funktionierende und glückliche Gesellschaft.

  (Imago/Collection Christophel Mosfilm)
Auch das Radio setzte sich mit Stanisław Lems fantastischen Welten immer wieder auseinander.  So etwa Robert Brammer 2001 im Deutschlandradio mit seinem  hörspielartigen Radioessay „Stanisław Lems Solaris", der mit Elementen  aus Tarkowskijs berühmter Verfilmung über die philosophischen  Implikationen in Lems Science-Fiction-Klassiker nachdenkt. In unserer  Sendung „Aus den Archiven" haben wir Brammers Essay wieder zugänglich  gemacht, genau wie O-Töne aus einer RIAS-Lesung von 1975. Beides können Sie hier hören [AUDIO].
Lem  war skeptisch gegenüber allen Organisationsformen, skeptisch gegenüber  der Idee, die Menschen wären in der Lage, ihr Schicksal in die eigenen  Hände zu nehmen. Schließlich hatte er keine guten Erfahrungen gemacht,  weder mit dem deutschen Faschismus, dem Stalinismus, dem  Realsozialismus, dem Liberalismus, der polnischen Diktatur, die ihn 1982  ins Exil trieb, noch mit dem Post-Sozialismus.
Die Begegnung des  Raumfahrers Ijon Tichy mit den Indioten der Stadt Debilia auf seiner 24.  Reise liest sich wie eine kurze Geschichte von Technologie und  Kapitalismus:
»O fremder Wanderer! Die  Bevölkerung dieses Planeten ist seit Urzeiten in Spiriten, Erlauchte  und Minderlinge aufgeteilt. Die Erlauchten setzten die Abgaben fest,  legten die Staatsgrenze aus und nahmen sich der Fabriken an, in denen  die Minderlinge bescheiden ihr Tagewerk verrichteten. Im Laufe der  Jahrhunderte bauten die Erfinder Maschinen, die die Arbeit  erleichterten. Ein gelehrter Konstrukteur hatte Neue Maschinen  geschaffen, so vortrefflich, daß sie ganz selbständig zu arbeiten  vermochten, ohne jede Kontrolle. Und da fing die Katastrophe an. Je mehr  Neue Maschinen in den Fabriken auftauchten, desto mehr Minderlinge  verloren ihren Arbeitsplatz, und da nun der Lohn ausblieb, waren die  Massen vom Hungertode bedroht...«
»Erlaube mir eine Frage, Indiote. Was geschah mit dem Gewinn, den die Fabriken brachten?«
»Der Gewinn fiel den rechtmäßigen Eigentümern zu, den Erlauchten.«
»Aber  es hätte doch genügt, die Fabriken in gemeinschaftliches Eigentum zu  überführen, und die Neuen Maschinen wären ein Segen für euch geworden!«
»Mache  dich nicht zum Sprecher dieser entsetzlichen Ketzereien, die einen  schändlichen Anschlag auf unsere unveräußerlichen Freiheiten bedeuten!  Daß niemand zu einer Sache genötigt, gezwungen oder auch nur veranlaßt  werden darf, die er nicht wünscht. Wer hätte da gewagt, den Erlauchten  die Fabriken zu nehmen, wenn es ihr Wille war, sich des  Eigentümerstandes zu erfreuen?«
»Aber du willst doch nicht  behaupten, die Minderlinge handelten aus freien Stücken so? Wo blieben  da eure Freiheit, eure Bürgerrechte?«
»Die Rechte blieben weiter  unangetastet, aber sie besagen ja auch nur, daß der Bürger mit seiner  Habe und seinem Geld machen kann, was ihm beliebt, aber nicht, woher er  beides nehmen soll. Die Minderlinge wurden von niemandem unterdrückt,  keiner übte Zwang auf sie aus, im Gegenteil, sie waren völlig frei und  konnten tun und lassen, was sie wollten; statt aber diese  uneingeschränkte Freiheit zu genießen, starben sie wie die Fliegen.«
Literatur im Kino
Zu  den bekanntesten Romanen von Lem gehört „Solaris" von 1961. Solaris ist  ein Planet, den ein gewaltiger Ozean bedeckt, dessen Formen und Farben  sich immer wieder völlig verändern. Von einer Raumstation im Orbit über  Solaris aus versuchen Wissenschaftler, die Geheimnisse des Planeten zu  ergründen.
Schließlich entdecken sie, dass dieser Ozean in  Wahrheit ein lebendes und intelligentes Wesen ist. Gleichzeitig leiden  die Besatzungsmitglieder unter unerwarteten psychischen Problemen, es  kommt zu Selbstmorden: Der Ozean kann die Erinnerungen und Wünsche,  Obsessionen und Ängste der Wissenschaftler zum Leben erwecken.
Redaktionell empfohlener externer Inhalt
Hier  wird Ihnen ein externer Inhalt gezeigt, wenn Sie die Schaltfläche  aktivieren. Damit erklären Sie sich einverstanden, dass Ihnen externe  Inhalte angezeigt werden und personenbezogene Daten an Drittplattformen  übermittelt werden. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres  dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige jederzeit wieder deaktivieren.
Bekannt  geworden ist das Buch auch durch verschiedene Verfilmungen, etwa durch  die des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski von 1972 oder durch eine  jüngere von Steven Soderbergh.
Seine  intellektuelle Prosa ist vielschichtiger und doppeldeutiger, als man es  in einem audiovisuellen Produkt hätte festhalten können.
Einblicke in das, was kommen mag
Stanislaw  Lem gilt als begnadeter Schriftsteller, seinen Pessimismus paart er mit  Ironie, seine erkenntnistheoretischen Einsichten vermittelt er in  Prosa. Literatur und Wissenschaft verschmelzen bei ihm zu einer Melange.
Einige  seiner phantastischen Ideen sind inzwischen Wirklichkeit geworden: Lem  hat das Internet vorausgesagt, die Virtual reality, die Migrationsströme  und die neue Form der Ausbeutung und der Arbeitslosigkeit in der  post-industriellen Welt.
Er selbst schreibt dazu:
„Es  passierte mir schon mehrmals, wenn ich mir dachte, etwas  hundertprozentig Phantastisches auszusagen, dass sich dies oder das  davon später teilweise bewahrheitet hat. Wogegen wenn ich mir im Voraus  denke, dass ich etwas ganz Diskursives schreiben will, was Teil einer  wissenschaftlichen Hypothese ist, dann darf ich nicht so frech sein. Das  ist dieses subjektive Zerren bei mir im Kopf, das vorgeht. Eigentlich  versuche ich doch immer zu trennen: das Fantastische, die Literatur –  und dieses andere, die Philosophie des Menschen, der Technologie, also  etwas, was schon eher mit der Wissenschaft verwandt ist als mit der  schönen Kunst."
Seinen letzten Roman, „Fiasko", schrieb Lem 1987.  Seine Einblicke in das, was kommen mag, nahmen die Form von Sachtexten  und Essays an.
1990 etwa veröffentlichte er die Schrift „Die  Vergangenheit der Zukunft", in der er mutmaßt, was uns zu Beginn des 21.  Jahrhunderts erwartet. Hier einige seiner Thesen:
„Es  wird nicht nur eine ‚postindustrielle Gesellschaft‘ entstehen und nicht  nur eine Dienstleistungsgesellschaft, sondern eine qualitativ neue, die  ihre größten Probleme mit den Errungenschaften der Biotechnologie haben  wird.
Es wird legale, halblegale und illegale Versuche geben, das Bevölkerungswachstum zu drosseln und abzuschwächen.
Zu  beachten ist, dass Deutschland, bisher im Westen die Bundesrepublik,  sich für einen friedliebenden Staat ausgibt, was auch nicht bezweifelt  werden soll, gleichzeitig aber gibt es auf dem Territorium dieses  Staates Hunderte Produktionsanlagen, die Raketen, Giftgase, Kanonen,  Unterseeboote herstellen, ganze Fabriken von todbringenden Mitteln und  last but not least Maschinenteile und Know-How, die zum Bau von Anlagen  dienen, welche Atombomben oder andere Kernspaltungswaffen produzieren  können.
Das Automobil wird in vielen Ländern in peinigenden Staus  seinen technischen Tod erleiden. Es wird neue Kommunikationsmittel und  neue Betriebsformen geben. Das elektrische Auto ist kein Ausweg aus dem  Dilemma der Verkehrsstaus, genauso wenig wie ein lokal betriebener  Luftverkehr (nur naive Menschen stellen sich vor, jeder Bürger könnte  seinen Hubschrauber haben wie heute seinen Wagen).
Es wird künstliches Leben und synthetische Bioprodukte geben.
Insgesamt aber wird sich die Kluft zwischen den Armen und den Reichen weiter vergrößern."
Eine Flucht in die Zukunft
Wirklich ermutigend ist das nicht. Nicht umsonst gilt Lem, der 2006 verstarb, als Pessimist.

Stanislaw Lem 2005. (imago / Eastnews)
In seiner Schrift „Das kreative Vernichtungsprinzip. The World as Holocaust", schreibt er 1983 die ernüchternden Sätze:
„Ich  glaube, dass der Holocaust noch nicht beendet ist. Also in gewisser  Weise war er mit dem Zweiten Weltkrieg beendet, aber er taucht immer  wieder auf, in den verschiedensten Formen und Masken, an den  unterschiedlichsten Orten."
So gesehen sind Lems literarischen  Schriften auch eine Flucht in die Zukunft, die einzige Hoffnung, der  ‚Welt als Holocaust‘ zu entkommen. Die Hoffnung, dass dort draußen in  Zeit und Raum etwas wirklich Anderes wartet, etwas, das jenseits der  Grenzen von Phantasie und Logik wirkt.
Auswahlbiographie Science-Fiction-Romane
1946 Człowiek z Marsa (dt. Der Mensch vom Mars, 1989)
 1951 Astronauci (dt. Der Planet des Todes 1954)
1957 Dzienniki gwiazdowe (dt. Die Sterntagebücher des Weltraumfahrers Ijon Tichy, 1961) 
1961 Solaris (dt. Solaris, 1972) 
 1964 Niezwyciężony (dt. Der Unbesiegbare, 1967)
1968 Opowieści o pilocie Pirxie (dt. Pilot Pirx, 1978)
1971 Kongres futurologiczny (dt. Der futurologische Kongreß, 1974)
1987 Fiasko (dt. Fiasko, 1986)
Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine inhaltliche Korrektur vorgenommen.