Preisspekulationen haben Ukraine-Krieg, Brexit und Arabischer Frühling gemeinsam — der Freitag


Ukraine-Invasion, Brexit und Arabischer Frühling haben eine gemeinsame Ursache: Preise

Spekulation Der Soziologe und Dokumentarfilmer Rupert Russell macht für viele aktuelle Krisen eine gemeinsame Ursache aus: Preisspekulationen. In seinem Buch „Price Wars" führt er aus, wie Finanzspekulanten eine neue Ära des Chaos’ gesät haben
Entstehen hier an der Wall Street durch Preisspekulationen die Krisen der Welt?

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Ukraine-Invasion, Brexit, Arabischer Frühling, Donald Trumps „Kinder in Käfigen" und andere chaotische Ereignisse im vergangenen Jahrzehnt haben laut dem Soziologen und Dokumentarfilmer Rupert Russell eine „bestechend einfache" gemeinsame Ursache – Preise.

Im Jahr 2000 deregulierte US-Präsident Bill Clinton mit dem Commodity Futures Modernization Act die Rohstoffmärkte und ermöglichte der Wall Street damit deutlich mehr Spekulationen bei wichtigen Gütern wie Öl, Weizen, Metallen und Kaffee. In den darauffolgenden Jahren verwandelte der Zustrom der Investitionen die Rohstoffmärkte laut Russell in „Kasinos", in denen es zu wilden Preisspitzen und Preiseinbrüchen kam, losgelöst vom realen Verhältnis von Angebot und Nachfrage.

Für sein 2022 erschienenes Buch Price Wars reiste Russell um die Welt und besuchte von Preisschwankungen betroffene Regionen. Dabei machte er klare Verbindungen zwischen dem Chaos, über das er berichtete, den Rohstoffpreisen und der Deregulierung der Märkte aus.

In Ihrem Buch gehen Sie auf den Schmetterlingseffekt ein, die Vorstellung, dass scheinbar triviale, lokal verortete Ereignisse sehr weitreichende Konsequenzen haben können. Ein Beispiel waren die Waldbrände in Russland im Jahr 2010, von denen Spekulanten annahmen, sie könnten eine Weizenknappheit auslösen (was sie nicht taten). Wie trug das dazu bei, die Revolution in Tunesien, den Arabischen Frühling, den Krieg in der Ukraine und anderes Chaos im vergangenen Jahrzehnt auszulösen?

Der Arabische Frühling 2010 wurde von einem Anstieg der Lebensmittelpreise ausgelöst, hinter dem im Wesentlichen ein Ansturm auf Weizentermingeschäfte steckte. Auch zwei Jahre zuvor, 2008, gab es einen Preisanstieg, der eine globale Lebensmittelkrise und Unruhen in 48 Ländern auslöste. Das Interessante ist, dass es in beiden Fällen kleine Störungen in der realen Welt zu enormen Preisanstiegen führten, die aus diesen lokalen Missständen Revolutionen und Bürgerkrieg entstehen ließen.

Obwohl wir die Ereignisse in 2008 und 2010 „Lebensmittelkrisen" nennen, wurden in beiden Jahren mehr Lebensmittel denn je produziert. Tatsächlich waren es Jahre des Überflusses, so dass die „Lebensmittelkrisen" eigentlich „Lebensmittel-Preis-Krisen" waren, die weitestgehend allein vom Rohstoffmarkt geschaffen wurden.

Das Chaos beginnt also in den Finanzmärkten und verwandelt lokale kleine Krisen in globale Ereignisse mit steigenden Rohstoffpreisen. Dabei können Rohstoffpreise eine Gesellschaft unglaublich stark erschüttern.

Warum gibt es denn plötzlich diese Lebensmittel-Unruhen, Brot-Krawalle, rasant steigende Inflation, Lebenshaltungskostenkrisen, Flüchtlingskrisen? Wo kommt das alles her? In den 80ern und 90ern gab es das alles nicht. In meinem Buch argumentiere ich, dass es im Jahr 2000 diese Änderung gab, die im Wesentlichen wie der Einbau eines Verstärkungsmotors in den Rohstoffmarkt wirkte.

Wie haben die Lebensmittelpreiskrisen sich über das letzte Jahrzehnt hin ausgewirkt?

Der Brexit wurde zum Großteil von der globalen Flüchtlingskrise angetrieben, die von den Bürgerkriegen in Libyen, Syrien und dem Jemen verursacht wurde, die alle ihren Ursprung im Arabischen Frühling haben.

Diese Bürgerkriege schufen nicht nur Flüchtlingskrisen, die zu einem Anstieg des Rechtspopulismus in Europa führten, sie brachten auch Chaos, das in den Markt eingepreist wird. Chaos auf dem Markt schafft Chaos in der realen Welt, das zu mehr Chaos am Markt führt. Es entsteht eine Rückkoppelungsschleife.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Wenn es Krieg gibt, steigen fast automatisch die Ölpreise. Aber was passiert, wenn die Ölpreise steigen? Venezuelas früherer PräsidentHugo Chávez borgt sich genau vor seiner Wahlkampfkampagne einen Haufen Geld, das er großzügig verteilt, unter anderem in Form von Fernsehern und Waschmaschinen. Putin füllt seine Kriegskasse und modernisiert sein Militär. Und ein großer Teil dieses Ölgeldes wird in westliche Vermögensgüter verwandelt, insbesondere in Immobilien in San Francisco, London oder New York. Und das schafft eine Krise.

Faszinierend ist, dass die Spekulanten häufig falsch liegen, etwa bei den russischen Weizenernte-Befürchtungen, aber das gar nichts macht. Spekulanten, die als erste auf Preisbewegungen setzen, bekommen ihr Geld, selbst wenn die Preise abgelöst von Angebot und Nachfrage sind. Unterdessen zahlt die Bevölkerung häufig höhere Preise.

Es ist nicht wichtig für die Spekulanten, ob sie recht haben. Das liegt an der paradoxen Art und Weise, in der wir diese Märkte angelegt haben.

Ein weiteres gutes Beispiel ist der Islamische Staat (IS). Sie beschreiben, wie die Ölpreise 2014 anstiegen, als die islamistische Terrororganisation die nordirakische Stadt Mossul einnahm. Dabei hatte der IS, der eine sunnitische Gruppierung ist, eine sunnitische Stadt überrannt, in deren Nähe kein Ölfeld liegt. Die Schiiten und Kurden hatten die Kontrolle über die Ölfelder. Zudem weisen Sie darauf hin, dass es nie eine reale Ölknappheit gab, die der Preis ja suggerierte.

Wenn es Krieg in einem Ölland gibt, wird automatisch angenommen, dass das Angebot zurückgeht und die Preise steigen werden. Dabei gibt es keinen rationalen oder historischen Grund zu denken, dass das der Fall ist. Abgesehen von der physischen Zerstörung von Infrastruktur hält nichts ein Ölfass auf. Selbst wenn der IS Syrien oder Iraks Ölfelder erobern würde, dann fördert er das Öl und verkauft es über die Türkei. Schon ist das Öl zurück auf dem Weltmarkt – zu diesem Zweck erobert man ein Ölfeld.

Mehr Artikel zum Thema

Energiekrise und Inflation: Warum die deutsche Regierung so zögerlich ist

„Das Prinzip Hoffnung": SPD, Grüne und FDP haben sich lange gewehrt, etwas Wirksames gegen die Folgen der Energiepreissteigerung zu tun. Warum? Andere europäische Staaten sind da schon viel weiter

Gaspreis außer Kontrolle: Was regelt der Markt und was die Spekulation?

Der Anstieg der Preise für Rohstoffe und Gas hat mit Knappheit zu tun und mit politischen Entscheidungen. Dabei sollte man aber die Rolle der Spekulanten nicht vergessen

Die Agrarindustrie nutzt den stockenden Welthandel, um Preise hochzutreiben

30 Prozent der Weltbevölkerung fehlt ein ausreichender Zugang zu Lebensmitteln. Das war schon vor dem Krieg in der Ukraine so. Die Vereinten Nationen schlagen Alarm

Gute Argumente kriegen eine Bühne. Und Sie den Freitag wöchentlich.

Jetzt abonnieren

Im März 2003 beschlossen die USA unter Präsident George W. Bush die Invasion des Iraks und die Ölpreise fielen. Damals hatten die Spekulanten den Markt noch nicht übernommen. Noch dominierten Händler, die in der langweiligen Welt des Kaufens und Verkaufens von Ölfässern verwurzelt waren und die wussten, dass Bushs höchste Priorität war, Öl zu fördern.

Dabei tragen hohe Ölpreise zur Destabilisierung bei. Sie zitieren Forschungsergebnisse der University of Denver, die einen starken Zusammenhang zwischen der Zahl der globalen Konflikte und höheren Ölpreisen ergaben. Nach dem Ölpreisanstieg 2008 folgte die russische Invasion Georgiens. Und nach den durch Spekulation angetriebenen Ölpreisanstiegen in den Jahren 2014 und 2021 marschierte Russland in die Ukraine ein.

Das ist die ganze Zeit über zu beobachten, nicht nur in Russland. Als 2008 die Ölpreise hoch waren, kam es in Südamerika zur so genannten „rosa Flut", als Venezuela sein Nachbarland Kolumbien tyrannisierte. Im selben Jahr feuerten mit dem Iran verbündete Gruppen Raketen auf Israel ab. Tatsächlich werden Ölstaaten-Regime gestärkt, Dinge zu tun, die sie immer schon tun wollten, aber sich vorher nicht leisten konnten.

Sie geben in „Price Wars" ein absurdes Beispiel dafür, wie Algorithmen dazu beitragen, Preise von der Realität abzutrennen. Es geht dabei um die Verbindung zwischen der US-Schauspielerin Anne Hathaway zum Aktienkurs des US-amerikanischen Unternehmenskonglomerats Berkshire Hathaway. Schlechte Nachrichten für die Schauspielerin werden zu Nachrichten für das Unternehmen, obwohl sie nur der gleiche Name verbindet!

Spekulanten, mit denen ich gesprochen habe, sagten, wenn ich wirklich verstehen wolle, wie Märkte funktionieren, müsse ich verstehen, wie Berkshire Hathaway mit Anne Hathaways Filmkarriere zusammenhängt.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Wann immer ein Film mit Anne Hathaway herauskommt, macht die Aktie von Berkshire Hathaway einen Sprung nach oben. Und wenn Anne Hathaway etwas Negatives zustößt, etwa als sie in einen Autounfall verwickelt war, fällt Berkshire Hathaways Aktie.

Die Spekulanten verweisen auf von ihnen verwendete Algorithmen, die Schlagzeilen lesen – etwa von Reuters- oder Bloomberg-Meldungen -, die in den Computer eingespeist werden. Die Algorithmen können negative oder positive Meldungen unterscheiden und kaufen oder verkaufen entsprechend.

Sie argumentieren, dass letztlich auf den Kaffeemarkt wettende Hedgefonds zu Trumps „Kinder in Käfigen"-Politik führte, im Rahmen der mehr als tausend Kinder von Migrant:innen ohne Ausweispapieren an der USA-amerikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt wurden. Können Sie das näher ausführen?

In Guatemala kamen in den Jahren 2018/2019 zwei verschiedene Schocks zusammen. Zentralamerika wird seit langem als eine der Regionen betrachtet, die am stärksten vom Klimawandel betroffen ist. Ich interviewte dort Kaffeebauern, die mir von Veränderungen im Regenfallmuster, bei Feuchtigkeit und Temperaturen erzählten. Die neuen Bedingungen förderten demnach das Wachstum eines als „Kaffeerost" bezeichneten Pilzes, der die Kaffeepflanzen stark schädigt. Infolge müssen die Bauern mehr Geld für Dünger ausgeben, um den Rostpilz zu bekämpfen. Daher borgten sie sich zu enorm hohen Zinssätzen Geld von örtlichen Geldverleihern. Sie machten also Schulden, holten die Ernte ein, versuchten sie auf dem Markt zu verkaufen. Doch dann fielen 2018/2019 die globalen Kaffeepreise enorm bis auf ein Niveau, an dem die Bauern nur Verluste machten.

Was war denn die Ursache für das Einbrechen des Kaffeepreises?

Es wurde von einer steigenden Produktion in Brasilien und neuen Produktionsländern geredet, die eine globale Kaffeeschwemme produzieren würden. Viele Rohstoffhändler hatten historische Short-Positionen auf dem Kaffeemarkt, also Wetten darauf, dass der Preis fallen wird ... und all diese Märkte, insbesondere der Kaffeemarkt, sind sehr klein. Ein Rentenfonds allein kann schon größer sein als der gesamte Kaffeemarkt. Also, ja, das globale Kaffeeangebot war gestiegen, aber das Einbrechen der Kaffeepreise wurde von dieser einseitigen Wette der Hedgefonds angetrieben, die die Märkte zerstörte.

So verlieren hunderttausende Bauern und Dörfer, die von ihrem Einkommen abhängig sind, das Geld, das sie in die Ernte gesteckt haben, und gehen praktisch Bankrott. Sie verlieren alles – ihr Haus, ihr Land. Am Ende machen sie sich deswegen auf den Weg dahin, wohin sie seit Jahrzehnten in Krisenzeiten gehen – in die USA. Wieder sehen wir Rohstoffmärkte, die einen lokalen Klimaschlag verstärken und zu einem internationalen globalen Ereignis machen, nämlich der Krise an der US-Grenze.

Man hörte 2019 wenig darüber, was die Wall Street mit den Kindern in Käfigen zu tun hat. Warum geht ein Großteil der Berichterstattung an den eigentlichen Ursachen vorbei?

Monster sind die bessere Geschichte. Das ist es, worüber berichtet wird, was geteilt wird und was die Verbraucher:innen mögen. Wir neigen dazu, uns Monstergeschichten zuzuwenden, und das ist es, wogegen ich ankämpfen möchte.

Trump ist ein Monster, und Kinder in Käfige zu sperren, ist eine ungeheuerliche Sache. Aber am Ende wird nur darüber debattiert. Dabei dürfen wir nicht vergessen, wo das Chaos seinen Ursprung eigentlich hat.

Übersetzung: Carola Torti
04:00 01.10.2022
Geschrieben von

Tom Perkins | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian
Schreiber 0 Leser 5697