Prähistorie als Geschichte der Gegenwart? Ein Gespräch über… – Geschichte der Gegenwart
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Prähistorie als Geschichte der Gegenwart? Ein Gespräch über Anfänge von David Graeber und David Wengrow
Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit, geschrieben von dem Anthropogen David Graeber und dem Archäologen David Wengrow, hat große Wellen geschlagen. Kein Wunder, schließlich bieten sie eine neue Perspektive auf die Menschheitsgeschichte – und Aussichten auf herrschaftsfreie Gesellschaften.
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Jule Govrin
Jule Govrin ist Philosoph:in und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie, Feministischer Philosophie und Ästhetik, aktuell arbeitet sie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zur politischen Dimension von Körpern und zu Verwundbarkeit als Modus der Gleichheit. Zu ihren Publikationen zählen "Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosphische Studie" (de Gryuter 2020) und „Politische Körper. Von Sorge und Solidarität" ( Matthes & Seitz 2022). Neben ihrer Forschung ist sie als Redakteur:in bei Geschichte der Gegenwart tätig. -
Philipp Sarasin
Philipp Sarasin lehrte Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Er publizierte kürzlich "1977. Eine kurze Geschiche der Gegenwart" (Suhrkamp 2021) und ist Herausgeber von Geschichte der Gegenwart. -
Janosch Steuwer
Janosch Steuwer ist Historiker. Er forscht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus sowie zur Geschichte des Umgangs mit der extremen Rechten in Europa seit den 1960er Jahren und ist Herausgeber von Geschichte der Gegenwart.
Janosch Steuwer: Wir haben uns vorgenommen, über ein Buch zu sprechen, das international schon sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat: The Dawn of Everything. A New History of Humanity, in dem der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow auf überraschende Weise von den Anfängen der Geschichte der Menschheit berichten. Das Buch beginnt in der Eiszeit und behandelt dann vor allem stein- und bronzezeitliche Kulturen auf der ganzen Welt. Dabei bringen die beiden Autoren auf der einen Seite die Ergebnisse von zahlreichen archäologischen Diskussionen und Entdeckungen der letzten Jahre einem allgemeinen Publikum nahe. Auf der anderen Seite ist Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, wie die deutsche Übersetzung heißt, aber auch ein eminent politisches Buch, das aus der Betrachtung der Vorgeschichte Erkenntnisse für unsere Gegenwart gewinnen will. Das ist für uns als Macher:innen von Geschichte der Gegenwart natürlich interessant und vielleicht fangen wir unser Gespräch genau damit an. Inwiefern ist das Buch ein politisches?
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Jule Govrin: Es ist insofern politisch, als es gegen die Vorstellung anschreibt, Menschen müssten unweigerlich in Herrschaftsverhältnissen leben. Hierbei wollen die beiden nicht weniger als ein neues Verständnis von Menschsein und Vergesellschaftung eröffnen. Ihr Einsatzpunkt ist ja die Annäherung an eine transepochale Geschichte jenseits der Alternativen eines Hobbes’schen, bellizistischen und eines Rousseau’schen, romantischen Menschenbildes. Wobei ich – um etwas vorzugreifen – einräumen würde, dass sie mit ihrem Schwerpunkt auf Kooperation eine leicht Rousseau zugeneigte Schlagseite beibehalten. Doch dies nimmt ihrem Buch nicht die Wucht. Schließlich zeigen die beiden auf, dass andere, herrschaftsfreie Formen der Vergesellschaftung möglich waren. Menschen haben sich immer wieder anders organisiert, mit Herrschaft, ohne Herrschaft, gegen Herrschaft. Und das wirft eben unsere gesamte Perspektive um – gerade inmitten eines Wirtschaftssystems, das sich als alternativlos anpreist. Wie Graeber und Wengrow offenlegen: Die Geschichte der Welt und ihre Herrschaftsverhältnisse sind nicht festgeschrieben.
Quelle: klett-cotta.de
Philipp Sarasin: Es ist wirklich ein erstaunliches Buch, dessen selbsterklärte Ansprüche nicht höher sein könnten. Besonders sprechend finde ich zum Beispiel die Bemerkung in der Einleitung, sie wollten "nicht nur eine neue Geschichte der Menschheit vorlegen (!), sondern den Leser" – und die Leserin: die deutsche Übersetzung lässt leider zuweilen etwas zu wünschen übrig – "zu einer neuen Geschichtswissenschaft einladen, durch die unsere Vorfahren ihre volle Menschlichkeit zurückerhalten". Gemeint ist damit, wie Du, Jule, eben schon angedeutet hast, dass Menschen seit dem ersten rekonstruierbaren Auftreten von homo sapiens, spätestens aber seit etwa 30’000 Jahren, ihre politischen Organisationsformen beziehungsweise die Formen ihres Zusammenlebens immer wieder frei und neu gestalten und verändern konnten, und zwar immer wieder in andere Richtungen. Die beiden Autoren stellen den Menschen als ein zoon politikon, als "politisches Tier" vor, wie Aristoteles sagte – aber natürlich nicht erst seit den Griechen.
JS: Politisch scheint mir das Buch aber auch noch auf einer zweiten Ebene: Es entwirft mit seiner Geschichte der Menschheit ein politisches Argument, über dessen Zielrichtung wir sicher gleich noch weitersprechen. Zugleich ist Anfänge ja aber auch ein empirisches Buch, das sich ausführlich mit einer Vielzahl von archäologischen Entdeckungen der letzten Jahre beschäftigt und sein gegenwartsbezogenes Argument aus einer fachlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickelt. Und auch darin ist das Buch ja politisch, weil es eine beständige Reflexion über die politische Dimension von Archäologie anstellt. Dies betrifft ganz praktische Fragen wie die, woran egalitäre und demokratische Gesellschaften der Vergangenheit im archäologischen Befund überhaupt identifiziert werden können. Hierarchische Herrschaft macht es einem mit ihren Herrschergräbern, Statuen und Palästen da sehr viel einfacher. Vor allem entwerfen Graeber und Wengrow aber ja eine historische Kritik der Archäologie bzw. ihres Denkens in Entwicklungsstufen, indem sie argumentieren, dass dieses Denken bei seiner Entstehung einen politischen Zweck erfüllen sollte: die mit der Kolonialisierung Amerikas aufkommende „indigene Kritik" an der europäischen Lebensweise zum Schweigen zu bringen.
PhS: Das ist in der Tat eine extrem spannende Verbindung: Zum einen argumentieren die beiden immer wieder, dass die politischen Organisationsformen nicht von irgendwelchen Evolutionsstufen, nicht von der Werkzeugentwicklung oder sonst einer "Logik der Geschichte" bestimmt werden, und auch nicht von "Strukturen", die allesamt die Menschen zu bloßen "Pappfiguren" degradieren würden. Also weder Darwin noch Marx noch Claude Lévy-Strauss und die Poststrukturalisten. Ich finde diese pauschale Zurückweisung aller strukturellen Ansätze zwar überhaupt nicht überzeugend und ihre Behauptung, Menschen könnten sich und ihre Welt immer wieder, salopp gesagt, ganz frei neu erfinden, letztlich naiv. Das soll aber nicht heissen, dass ich ihre Kritik an Theorien nicht plausibel finde, die postulieren, dass die Entwicklung von staatlichen Herrschaftsformen unvermeidlich sei, sobald die Kopfzahl menschlicher Gruppen eine gewisse Größe übersteigt – und die eben letztlich auf das westliche Staatsmodell hinauslaufen und es so rechtfertigen. Denn dazu gibt es, so zeigt das Buch ja eindrucksvoll, offenkundig Alternativen, nämlich, so Graeber/Wengrow, verschiedene Varianten indigener Lebensweisen und Gesellschaftsformen, deren nicht-hierarchische Organisation sich trotz der von Dir genannten Schwierigkeiten archäologisch und ethnographisch nachweisen lassen. Dazu kommt gleich zu Beginn des Buches ja auch ein richtiger Knaller: Nämlich die offenbar sehr gut begründbare These, dass die französischen Aufklärer ihre Ideen von Gleichheit und Freiheit nicht selbst erfunden haben, sondern dass das Ideen waren, die niemand anderer als indigene Intellektuelle und Staatsmänner, wie Graeber/Wengrow sagen, über Kontakte mit Kolonisten und Missionaren, zum Teil aber auch durch deren Reisen nach Frankreich zu "uns" nach Europa brachten…!
JS: Genau. Und ein Knaller ist diese These, weil sie ebenso das bestehende Bild von der Aufklärung herausfordert wie darauf gestützte politische Deutungen. Die lange Diskussion darum, ob Menschenrechte ihrem Anspruch nach jetzt etwas Universelles oder etwas Partikulares, weil im aufgeklärten Europa Entstandenes sind, könnte man auf dieser Basis nochmal anders führen. Zugleich ist diese Geschichte aber auch eine Parabel für das Kernanliegen des Buches: sich nicht länger wie die Europäer im 17. und 18. Jahrhundert zu verhalten, sondern mit Hilfe der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Erkenntnisse von Archäologie und Ethnologie heute ein intellektuelles Gespräch mit Menschen aus "vormodernen Gesellschaften" über Grundfragen des Zusammenlebens zu suchen.
JG: Es gibt ja zahlreiche Ansätze post-und dekolonialer Kritik, wie etwa von Susan Buck-Morss oder Serene Khader, die herausarbeiten, dass Universalismus kein Alleinstellungsmerkmal der europäischen Aufklärung ist, sondern dass universalistische Ideen quer durch alle Kulturen und Epochen auffindbar sind. Dennoch geben Graeber und Wengrow der Rekonstruktion der aufklärerischen Universalismusgeschichte einen neuen Dreh, denn sie enttarnen die europäische Projektionsleistung, durch die kritisches Wissen als per se europäisch markiert wird. Meist wurden ja die indigenen Gesprächspartner*innen, die in der kolonialen Reiseliteratur auftauchen, als bloße Fiktionen erachtet, als europäische Selbstkritik über die Bande der Alterität. Graeber und Wengrow zeigen hingegen auf, dass es sich bei vielen Gesprächspartner*innen nicht um reine Fantasiefiguren europäischer Schriftsteller handelt, sondern um indigene Intellektuelle, die in engem Dialog mit Europäer*innen standen und bisweilen selbst nach Europa reisten. Obwohl sie sicherlich die naturrechtlichen Traditionen und frühe antike Denkspuren von Freiheit- und Gleichheitsmodellen ein wenig in den Hintergrund spielen, machen sie ein gutes Argument: Woher sollten christlich habitualisierte Menschen, deren höchster Ausdruck von Freiheit vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis zum Beginn der Moderne auf den Ausnahmezustand des Karnevals begrenzt war, von egalitären, freiheitlichen Praktiken wissen? Hingegen zeigen die beiden Autoren die basisdemokratischen Habitualisierungen und Organisationspraktiken in indigenen Gesellschaften auf, das heißt deren Kulturen des Diskutierens und Argumentierens, frei von Autoritätsgläubigkeit. Angesichts dessen scheint es überaus schlüssig, dass Ideen von Gleichheit und Freiheit nicht allein aus den Gedankenkreisen der europäischen Aufklärung entstanden.
JS: Und es ist schon ziemlich clever von Graeber und Wengrow, das an den Anfang ihres Buches zu stellen, weil man danach die langen Ausflüge in die ferne Vergangenheit der Menschheit tatsächlich anders liest: Nicht mehr vor allem mit einem Staunen darüber, zu welchen "kulturellen Leistungen" die Menschen "damals schon fähig" waren, einem Impuls, auf dem ja der gesamte Antiken-Tourismus gründet: "Seht her, die Pyramiden! So groß und so alt!" Sondern man beginnt in den tastenden, weil am spärlichen Befund orientierten Erkundungen "vorzeitlicher" Gesellschaften, andere Modelle gesellschaftlicher Organisation zu erkennen. Da finde ich schon, dass der Anspruch gelingt, Menschen der "Vorzeit" tatsächlich als Menschen sichtbar zu machen, die über ähnliche Probleme nachdachten wie wir, aber ganz andere Lösungen fanden, die unseren Denkhorizont erweitern können.
PhS: Zugleich zeigen Graeber und Wengrow ja nicht nur die politische Bedeutung archäologischer Befunde auf. Sie haben ohne Frage auch selbst ein politisches Programm – es ist offenkundig anarchistisch.
David Wengrow und David Graeber, der kurz nach Abschluss der Arbeit an „Anfänge" starb; Quelle: lithub.com
JG: Sie schließen direkt an den anti-autoritären Ansatz von anderen Anthropolog*innen wie Pierre Clastre an. In ähnlicher Weise liegt ihr Angriffspunkt bei der Bürokratie. Durch die Formalisierung, Institutionalisierung und eben Bürokratisierung von Gesellschaftsstrukturen der Ungleichheit werden diese sedimentiert, sie verlieren den spielerischen Charakter, der menschliche Sozialisation – transepochal betrachtet – ausweist, so das zentrale Argument von Graeber und Wengrow. Daran richtet sich ihre Kritik an modernen Gleichheitsideen aus: Gleichheit wird über Autorität vermittelt, ob über Gott oder später in der säkularen Moderne über das Gesetz und den Staat – so ihre Kernkritik. Daher ist für sie die Forderung nach Gleichheit fehlgeleitet, stattdessen heben sie Freiheit hervor. An dieser Stelle sehe ich politisch, aber auch philosophisch immense Schwierigkeiten. Zum einen heben die beiden Freiheit hervor, in der Linie einer anarchistisch-libertären Ausrichtung, wie sie in den USA beliebt ist. Zum anderen verwerfen sie vorschnell den Gedanken von Gleichheit, die sie mit bürokratischer Gleichmachung in eins setzen. Auf diese Weise verschließen sie sich der Möglichkeit, Gleichheit anders zu denken. Als Gleichheit, die eben nicht von oben gewährt oder verweigert wird, sondern als Gleichheit von unten, als egalitäre Praxis, die entsteht, wenn sich Menschen herrschaftsfrei organisieren. Solch ein Gedanke einer Gleichheit von unten, als brüchige, kontingente Praxis, würde meiner Einschätzung nach ihre politische Perspektive entscheidend erweitern.
PhS: Ich glaube, ich muss dir da widersprechen. Die politische Perspektive von Graeber und Wengrow ist, wie du richtig sagst, eine anarchistische – daher die Ablehnung aller marxistischen Vorstellungen von einem "notwendigen" Gang der Weltgeschichte, von unveränderlichen "Strukturen" etc. Aber das ist keine "libertäre" Vorstellung von Freiheit. Sie zeigen doch an unzähligen bronzezeitlichen Siedlungen bis hin zu ganzen Städten, dass diese als selbstregierte Gemeinschaften organisiert waren, in der die "Bürger", wie sie sagen, in relativer Gleichheit zusammenleben und ihre gemeinsamen Angelegenheiten regelten, was ganz offensichtlich ihr Ideal menschlichen Zusammenlebens darstellt. Du hast sicher recht: Der Begriff der Freiheit ist für sie der allerwichtigste, sie plädieren ständig dafür, in der Freiheit des Menschen zur Selbstorganisation das eigentlich "Menschliche" zu sehen. Aber weil diese Freiheit für sie nicht nur die Freiheit einiger weniger sein kann, kommt sie ohne die Gleichheit nicht aus, vielmehr ist die – relative – Gleichheit für sie geradezu das Kriterium, an dem gleichsam das Gelingen der Freiheit gemessen wird. Das ist doch das, was du monierst: Nicht von oben, sondern von unten organisierte Gleichheit, die aber eben deshalb, weil sie lokal und von unten kommt, nicht flächendeckend und homogen "gleich" sein kann.
JG: Selbstverständlich zeigt ihre Analyse auf, wie sich Menschen miteinander organisieren, meine Kritik zielt allerdings auf ihren fehlenden Gedanken solch einer Gleichheit ab, denn diese relative Gleichheit, wie Du sie nennst – ich würde sie als relationale Gleichheit bezeichnen –, wird zwar in ihren Beschreibungen sichtbar, doch sie arbeiten sie nicht konzeptuell aus. Das Konzept, auf das sie sich affirmativ berufen, ist Freiheit. Wenn man sich die jüngere Geschichte des Anarchismus in den USA anschaut, gibt es durchaus diese Tendenz, Freiheit gegenüber Gleichheit hervorzuheben. Und in diese aktuelle Strömung würde ich sie einordnen. Sicherlich denken die beiden Freiheit als soziale, bedingte Freiheit und nicht als liberale Fassung negativer Freiheit. Mein Einwand zielt darauf ab, dass ihre berechtigte Kritik an modernen Gleichheitsideen die Gelegenheit verpasst, einen Gedanken von Gleichheit einzubringen, der praxeologisch und materialistisch ist. Statt also allein auf den spielerischen Charakter sozialer Rollen zu setzen – und Freiheit der Gleichheit vorzuziehen –, wäre hier ein guter Einsatzpunkt, um Gleichheit in praxeologischer Perspektive von unten zu denken, gerade im Blick auf die basisdemokratischen Praktiken indigener Gesellschaften. Die Möglichkeiten, Gleichheit in dieser praxeologischen, prekären Form als Gleichheit von unten zu denken, sind in ihrem anarchistischen, materialistischen Ansatz angelegt, eben hier kann man meines Ermessens einhaken und ihren Ansatz erweitern, durch eine Konzeption relationaler Gleichheit und egalitärer Praktiken.
JS: Mir scheint hier eine prinzipielle, auch disziplinäre Frage berührt, nämlich wie das Buch eigentlich seine politischen Erkenntnisse gewinnt und formuliert: eben nicht, in dem die Autoren die politische Pointe ihrer Überlegungen auf den Begriff bringen. Auch bei „Freiheit" kommen die beiden ja nicht zu einer Definition, sondern lösen den Begriff in drei „ursprüngliche Freiheiten" auf: die Freiheit, an einen anderen Ort zu ziehen, die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren und die Freiheit, soziale Ordnungen immer wieder zu verändern. Statt eigene Erkenntnis im Begriff zu aggregieren geht es darum, Begriffe handhabbar zu machen, um mit ihnen empirisch (und politisch) agieren zu können. Ihre Ablehnung des Gleichheitsbegriffs habe ich insofern vor allem als Kritik am traditionellen Vokabular von Archäologie und Ethnologie gelesen, das „Gleichheit" als Merkmal von Gesellschaften behandelt, wenn es zwischen „egalitären" und „komplexen Gesellschaften" trennt. Demgegenüber beharren Graber und Wengrow darauf, dass Gesellschaften niemals in jeglicher Hinsicht gleich sind, die Wertung also beliebig ist, und vor allem mit der Feststellung etwa einer weitgehend homogenen materiellen Kultur nichts über das Leben der Menschen gesagt ist. Verbreitete Keramikstile zeigen ebenso wenig ungleiche Lebenschancen an wie das Bestehen hierarchischer Institutionen ihnen in zwingender Weise widersprechen müssen. Insofern würde ich ihren aufgelösten Freiheitsbegriff eigentlich als Versuch verstehen, Gleichheit praxeologisch und materialistisch zu konzipieren, zumal sie ihre drei Freiheiten ja nicht nur als Recht begreifen, das jemanden zugestanden wird, sondern als tatsächliche Möglichkeiten, die durch soziale Institutionen abgesichert sein müssen.
David Wengrow; Quelle: twitter.com
JG: Ich sehe eben nicht, dass sie solch eine Gleichheitskonzeption ausarbeiten oder anbieten. Ihr verengtes Gleichheitsverständnis wird so für die Analyse problematisch. Mir scheint, dass es durchaus textstrategische Gründe gibt, Gleichheit als autoritäres Verwaltungsprinzip abzutun. Sie gehen berechtigterweise davon aus, dass es keine vollkommen egalitäre Gesellschaft gibt, ohne jedoch einen Gegenentwurf von Gleichheit einzubringen, der diese als prekäre Praxis nicht als absolutes Ideal erfasst. Dies erlaubt ihnen, gewisse Ungleichheiten nicht zu beachten oder ihnen zumindest Gewicht zu nehmen. Besonders deutlich wird das in Bezug auf Geschlechterpolitiken. Obwohl Graeber und Wengrow bemüht sind, Geschlechterpolitiken mitzudenken, hakt es da ganz ordentlich. Zum einen scheinen sie mir den Anschluss an aktuelle feministische Forschung verpasst zu haben. Zum anderen verweisen sie zwar auf ungleiche Geschlechterrollen, doch mit ihrer Betonung des Spielerischen bei gleichzeitiger Abwertung von Gleichheit können sie die Geschlechterungleichheit systematisch herunterspielen und diese Gemeinschaften dennoch als positives politisches Beispiel setzen. Kurzum, wenn sie Gleichheit und Geschlechterverhältnisse grundlegender einbeziehen würden, wäre ihre Analyse anders ausgefallen. Das betrifft sowohl die kritische Rekonstruktion als auch mögliche Aussichten auf andere Vergesellschaftungsformen, denn sie verschließen sich sowohl dem Gedanken einer Gleichheit von unten als auch ökonomischen Ansätzen, die Sorge anders organisieren, wie in feministischer Ökonomiekritik. Dahingehend finde ich Graebers Überlegungen in seinem Buch zu Schulden wesentlich ausgereifter.
PhS: Ich kann dir da absolut folgen – die Arbeit an und mit Konzepten, gar „Theorien" ist nicht die Stärke der Autoren. Sie versuchen eher durch eine Fülle, man könnte auch sagen, Flut von empirischen Beispielen zu überzeugen.
JG: Genau darin liegt ja wiederum ihre Stärke – in dem materialistischen Ansatz und ihrer Skepsis gegenüber abstrakter Theoriebildung. Gerade deshalb lädt ihr Buch dazu ein, aus anderen Perspektiven weiterzudenken, ob aus geschichtswissenschaftlichen, philosophischen oder anderen Perspektiven.
PhS: Wir haben hier nicht mehr den Raum, das alles näher zu besprechen. Ich würde aber doch sagen, dass es entschieden für dieses ungemein anregende Buch spricht, dass wir überhaupt nicht mehr fertig würden, über seine Thesen zu diskutieren. Insofern also: unbedingte Leseempfehlung!
JS: Ja! Und auch, weil das Buch einfach Spaß macht. Am Anfang bekennen Graeber und Wengrow, ihr größenwahnsinniges Projekt auch einfach deshalb begonnen zu haben, weil bisherige Menschheitsgeschichten „die Vergangenheit langweiliger als nötig" darstellen würden. Und diese Lust an neuen, interessanten Geschichten macht das Buch immer auch zu einer intellektuellen Abenteuerreise, die die Leser:in an viele faszinierende Orten mitnimmt, und die, wie jedes Abenteuer, aufregende und überraschend bleibt, auch wenn man nicht alles mit Zustimmung liest.
David Graeber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart: Klett-Cotta 2022.
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Tags: Geschichte, Buch, Tipps, Gesellschaft, Analyse