Phrasen in der Politik: In 20 Phrasen um die Welt | ZEIT ONLINE


Phrasen in der Politik: In 20 Phrasen um die Welt

Die deutsche Außenpolitik ist voller Formeln, die Konflikte verschleiern und Interessen vernebeln. Was verbirgt sich hinter den 20 meistgenutzten Phrasen? Eine Handreichung 
25. August 2021, 16:51 Uhr / Editiert am 28. August 2021, 10:18 Uhr / DIE ZEIT Nr. 35/2021, 26. August 2021 / 37 Kommentare /
© Illustration: Carlo Giambarresi für DIE ZEIT

In 20 Phrasen um die Welt – Seite 1

1. Verantwortung übernehmen

Die beliebteste Wendung in der deutschen Außenpolitik. Seit Jahren bekennen sich Spitzenpolitiker zu "mehr Verantwortung". Auf die USA könne man sich nicht mehr verlassen, heißt es, und Russland und China machten Druck. Das Reden von der Verantwortung signalisiert: Okay, wir haben verstanden, wir werden mehr für unsere Verteidigung tun müssen – und für die der internationalen Ordnung. In Afghanistan zeigt sich, wie krass die Abhängigkeit von den USA noch ist. Was angesichts dessen zu tun wäre, bleibt so vage, dass die bekundete Verantwortungsbereitschaft paradoxerweise am Ende zu nichts verpflichtet. Die Wohlfühlformel von der neuen deutschen Verantwortung führt darum bei den Partnern zunehmend zu genervtem Augenrollen.

2. Multilateralismus

Ein Begriff, von dem deutsche Außenpolitiker in quasireligiöser Manier sprechen, als sei er ihr höchstes Prinzip. Heiko Maas hat sogar ein Weißbuch Multilateralismus schreiben lassen. Dabei bezeichnet das Wort nur eine Methode: Wo mehr als zwei Staaten zusammen ihre Interessen verfolgen, handeln sie multilateral. Nationen folgen dem Geist der Kooperation so weit, wie es ihnen nützt. So halten es Gegner wie Russland und China, aber auch Partner wie die USA. Die Deutschen sind selbst nicht so multilateral, wie sie tun, wenn sie etwa den Bau einer Gas-Pipeline durch die Ostsee gegen den Protest ihrer Nachbarn durchziehen.

3. Europäische Lösung

Sie wird immer dann beschworen, wenn Staaten ihre Verantwortung auf eine höhere Ebene verlagern wollen, zum Beispiel in der Migrationspolitik: Das Elend der Menschen im Lager Moria verlange nach einer "europäischen Lösung", heißt es dann. Das verschleiert, dass die Not schon Teil ebendieser Lösung ist, die auf Abschreckung und Abschottung setzt.

4. Zweiprozentziel

Zum Nato-Ziel, bis 2024 zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, bekennt die deutsche Politik sich schon lange, ohne ihm greifbar nahe zu kommen (aktuell: 1,57 Prozent). Dabei ist es ein zweifelhafter Maßstab, denn eine schlechtere Konjunktur würde ja geringere Ausgaben rechtfertigen, bei gleicher Bedrohungslage. Das pflichtschuldige, aber vergebliche Beschwören des abstrakten Zweiprozentziels lenkt von den eigentlichen Fragen ab: wofür die Bundeswehr in unsicheren Zeiten einsatzfähig werden soll und was dies kosten darf.

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5. Keine militärische Lösung

Dass es keine gewaltsame Lösung gebe, sagen deutsche Außenpolitiker über jeden Konflikt (Afghanistan, Syrien, Ukraine). Eine ehrenwerte Haltung. Leider sehen die Akteure in diesen Kriegen das anders, wie etwa jüngst die Taliban. Wer sie einhegen will, Gewalt aber prinzipiell ausschließt, wird nicht gehört. Diplomatie ohne militärische Macht ist hilflos.

6. Friedensprozess

Immer wieder ruft Deutschland seine Partner im Nahen Osten zur "Rückkehr zum Friedensprozess" auf. Dieser hat vor 30 Jahren bei einer Nahost-Konferenz in Madrid begonnen. Trotz zahlreicher Gipfel, Roadmaps, Abkommen und Verhandlungsrunden ist aber keine Zweistaatenlösung in Sicht. Ungebremst wachsen hingegen die Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten, und nach 54 Jahren ist die Besatzung kein Provisorium mehr. Vier arabische Staaten haben Deals mit Israel gemacht, über die Köpfe der Palästinenser hinweg. Die palästinensische Frage hat ihre zentrale Bedeutung für die Region verloren, darum gibt es, anders als die deutschen Forderungen suggerieren, weder Frieden noch einen Prozess.

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7. Gesprächskanäle offen halten

Diese Forderung kommt zuverlässig immer dann, wenn Wladimir Putin etwa die Opposition drangsaliert, Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenziehen lässt oder sonst was Krasses tut. Dann heißt es, "gerade jetzt" gelte es, "die Gesprächskanäle offen zu halten". Dabei plädiert niemand für den Abbruch jeglicher Gespräche. Die Frage ist allerdings, worüber, unter welchen Bedingungen, mit welchem Ziel gesprochen werden soll. Denn warum sollte die andere Seite Gespräche ernst nehmen, die derart reflexhaft gesucht werden?

8. Die Gewaltspirale dreht sich

Das Bild der Gewaltspirale wird besonders gern auf Nahost-Krisen angewandt, etwa Auseinandersetzungen Israels mit der Hamas-Miliz. Es suggeriert einen Automatismus und setzt den Terror mit der Selbstverteidigung eines Staates gleich. In Statements des Auswärtigen Amts folgt auf die Klage über die Gewaltspirale meist der Appell: "Wir rufen beide Seiten zur Zurückhaltung auf."

9. Friedensprojekt EU

Dass die EU (und ihre Vorläufer) zum Frieden auf dem Kontinent beigetragen haben, stimmt. Aber es ist falsch, sie darum als "Friedensprojekt" zu verkitschen. Das pazifistische Pathos lenkt von den Aufgaben ab: Die Union muss zeigen, dass sie ihre Mitglieder effektiv vor äußeren Gefahren schützen kann, vor Pandemien, Cyber-Angriffen, Handelskriegen und Auswirkungen der Klima-Katastrophe. Im Innern muss sie ihre Werte und Regeln gegen Attacken der eigenen Mitglieder verteidigen. Eine paradoxe Lage: Der Staatenbund EU ist heute gezwungen, außen und innen machtvoll aufzutreten, um seinen offenen, multilateralen Charakter zu bewahren.

10. Vernetzte Sicherheit

Eigentlich ein kluger Gedanke: Ohne Sicherheit kann es keine Entwicklung geben und ohne Entwicklung keine Sicherheit. Im Afghanistan-Einsatz wurde darum die Einheit von Militärpräsenz und Entwicklungshilfe als "vernetzte Sicherheit" zur Leitidee. Mit dem Sieg der Taliban sind dort nun aber sowohl Sicherheit wie Entwicklung gefährdet. Und Deutschlands zentrale sicherheitspolitische Doktrin wird diese Niederlage wohl kaum überstehen.

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Auf Augenhöhe verhandeln

11. Wertegemeinschaft

Oft auf die Nato angewandter Begriff, um sie von reinen Machtbündnissen abzusetzen. Aber: Griechenland blieb trotz Militärdiktatur Mitglied, heute wird die autoritär regierte Türkei geduldet. Die Werte des westlichen Bündnisses werden sehr flexibel interpretiert, wo es den geopolitischen Interessen entspricht.

12. Schwieriger Partner

Sehr oft für Russland und China verwendet, aber auch für Regionalmächte wie Saudi-Arabien und neuerdings gar für problematische Nachbarn wie Polen oder Ungarn. Wer die ambivalente Formel benutzt, will Differenzen herunterspielen, den "Gesprächsfaden nicht abreißen lassen", nur ja im Geschäft bleiben. Die verbreitete Rede von den schwierigen, aber leider unverzichtbaren Partnerschaften suggeriert: Die Welt ist heute voller grauer Katzen, da sind Unterscheidungen schwierig. Unter lauter schwierigen Partnern muss Deutschland nicht Freund und Gegner benennen, keine klaren Worte zu Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Angriffen auf den Rechtsstaat finden.

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13. Wandel durch Handel

Parole aus der Zeit der alten Ostpolitik, als man den Sowjet-Block durch ökonomische Kooperation aufzuweichen suchte. Wirtschaftsminister Altmaier wendet das Motto auf China an. Aber: Nie gab es mehr Austausch mit der Volksrepublik – und doch nie so viel Repression. Peking kombiniert wirtschaftliche Öffnung mit gesellschaftlicher Schließung, ökonomische Entfesselung mit politischer Knebelung. Freie Märkte für unfreie Leute. Handel ohne Wandel.

14. Kritischer Dialog

Bezeichnet ursprünglich die Strategie, mit dem Iran weiter im Gespräch zu bleiben – trotz Terrorunterstützung und Menschenrechtsverletzungen. Das Ergebnis war ernüchternd, der Iran nahm freudig den Dialog auf, ohne sich durch Kritik beeindrucken zu lassen. Das Konzept verschwand Ende der Neunzigerjahre stillschweigend. Heute ist es wieder da: Mehr denn je wird ein "kritischer Dialog" mit "schwierigen Partnern" (s. o. Nr. 12) Deutschlands gefordert, etwa Russland und China. Nach der Vergiftung Sergej Skripals durch russische Agenten 2018 in Großbritannien riet die FDP, nicht zu hart zu reagieren, damit "Raum für kritischen Dialog mit Moskau" bleibe. Auch mit den Taliban gab es übrigens einen mehrjährigen kritischen Dialog.

15. Transatlantische Gemeinschaft

Einst der Kernbegriff der deutschen Außenpolitik, war es in den Trump-Jahren still um ihn geworden. Die neue US-Regierung wirbt wieder um Deutschland, und auch in Berlin wird die transatlantische Gemeinschaft gern beschworen. Über die strategischen Differenzen kann das nicht hinwegtäuschen: Die Biden-Regierung richtet ihre Außenpolitik ganz auf die Konkurrenz mit Peking aus und will Deutschland als Alliierten dafür gewinnen. Berlin hält allen atlantischen Bekenntnissen zum Trotz Distanz zu beiden Seiten: Es will weder seine unverzichtbare Schutzmacht noch seinen größten Markt verlieren.

16. Systemischer Rivale

Der Begriff wurde vor etwa zwei Jahren geprägt, als Reaktion auf Pekings neue Politik, sein autoritäres System ganz offen als Gegenmodell zur liberalen Demokratie zu profilieren. Seither heißt es in der deutschen Außenpolitik, Peking sei "Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale zugleich". Der Dreiklang suggeriert, dass darin kein grundsätzlicher Widerspruch liege, dass in Sachen China Geschäftsinteressen und Geopolitik am Ende doch immer zusammenpassen. Und dass Deutschland sich also angesichts von Pekings Machtanspruch nicht gegen einen lukrativen Deal entscheiden muss.

17. Nukleare Teilhabe

Freundliche Umschreibung für das schmutzige kleine Geheimnis deutscher Sicherheitspolitik, die hierzulande stationierten amerikanischen Atomwaffen. Deutschland braucht keine eigene nukleare Abschreckung, muss auch nicht Briten oder Franzosen um Schutz ersuchen. Deutschland, selbst aus der Atomenergie ausgestiegen, sitzt unter dem "nuklearen Schutzschirm" der USA.

18. Liberale Weltordnung

Die westliche geprägte, "regelbasierte internationale Ordnung" ist durch den Aufschwung der autoritären Mächte unter Druck, die ihre Normen nicht akzeptieren. Daher wird seit Jahre schon geradezu mantrahaft zur Verteidigung der "liberalen Weltordnung" aufgerufen. Das ist aber nicht bloß ein Streit zwischen dem Westen und dem Rest, Demokraten hier und Autokraten da. Nicht nur Mächte wie Russland und China schwächen das internationale Recht und jene Institutionen, die globale Kooperation ermöglichen. Die liberale Ordnung ist auch im Westen in Gefahr, wie die Trump-Jahre gezeigt haben. Sie wird von innen wie von außen bedroht. Auch die EU, ein Pfeiler der freiheitlichen Weltordnung, trägt den Konflikt in sich aus, im Streit mit Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn.

19. Auf Augenhöhe verhandeln

Diese Formel gehört in den Bereich der Moralkritik. Sie zieht oft eine weitere nach sich: Es gelte, "nicht mit erhobenem Zeigefinger" miteinander zu sprechen. Wer Augenhöhe fordert und den erhobenen Zeigefinger ablehnt, wendet sich gegen die moralische Selbsterhöhung der Deutschen, zum Beispiel gegenüber der russischen, türkischen, chinesischen oder auch ungarischen Seite. Moralismus kann zu Selbstgerechtigkeit führen, insofern ist da etwas dran. Aber Relativismus führt auch in die Irre: Die Augenhöhe-Phrase dient oft dazu, jegliche Kritik von vornherein in den Ruch von Heuchelei, Doppelmoral, Oberlehrer-Attitüde zu stellen.

20. Deutsch-französischer Motor

Seit den 1960er-Jahren die bevorzugte Plattitüde der Europapolitik: Die EU komme nur voran, wenn Deutschland und Frankreich zusammenarbeiteten, die beiden gewichtigsten Nationen auf dem Kontinent. Der besagte Motor stottert aber schon lange. Berlin und Paris sind sich in vielen Kernfragen uneinig: Wie weiter mit Osteuropa, mit Russland, den USA, der Nato? Frankreich strebt unter Macron "strategische Souveränität" für Europa an; Deutschland fürchtet, dass solche Ambitionen den Rückzug der Amerikaner aus Europa befördern. Frankreich sieht die EU als geopolitisches Machtinstrument. Für Deutschland ist die Union der Rahmen, in dem seine Übermacht für die Nachbarn verträglich bleibt.

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