Orientierung: Wie das Gehirn Gedanken und Erinnerungen codiert - Spektrum der Wissenschaft
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Orientierung: Wie das Gehirn Gedanken und Erinnerungen codiert
Orientierung»Der innere Kompass dient als Blaupause für höhere Kognition«
Herr Doeller, der Spektrum-Verlag ist gerade in einen neuen, großen Gebäudekomplex gezogen. In den ersten Tagen liefen wir ziemlich planlos umher. Jetzt, nach einer Woche, sieht man kaum noch verirrte Kolleginnen und Kollegen. Was hat sich in der kurzen Zeit im Gehirn verändert?
In Ihrem Gehirn hat sich eine Karte des Gebäudes aufgebaut, quasi ein dreidimensionaler Grundriss. Während Sie durch die Flure gehen und an Ihnen bekannten Wegmarken vorbeikommen, etwa an Schildern, besonderen Zimmerpflanzen oder Bildern, aktualisieren die Nervenzellen immer wieder Ihre Position in diesem Plan.
Dieser Artikel ist enthalten in Gehirn&Geist Die Macht der Hormone
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Wie ist das möglich?
Im Schläfenlappen des Gehirns liegt die so genannte Hippocampusformation. Sie ist nicht nur entscheidend für das Gedächtnis, sondern darin befinden sich auch wichtige Bausteine des körpereigenen Navigationssystems. Die Ortszellen etwa, die der Brite John O'Keefe 1971 entdeckte, signalisieren die eigene Position im Raum. Für jeden Ort ist eine andere Ortszelle zuständig: So feuert eine Zelle beispielsweise an Ihrem Schreibtisch, eine andere am Fenster und wieder eine andere an der Tür. Von diesen Neuronen gibt es Zehntausende, die alle zusammen den gesamten Raum abbilden. Ein zweiter Zelltyp, die Gitterzellen, codieren die Struktur der Umgebung. Eine einzelne Gitterzelle feuert an vielen verschiedenen Orten, die aber zusammen ein hexagonales Gittermuster ergeben – deshalb der Name.
Welchen Zweck erfüllt dieses Gitter?
Als Ergänzung zu den Ortszellen, die ganz spezielle Stellen im Raum codieren, repräsentieren die Gitterzellen eine Art Metrik der Umgebung. Da verschiedene Gitterzellen, versetzt zueinander, unterschiedliche, sich teils überlappende hexagonale Muster erzeugen, kann das Gehirn mit Hilfe von zehntausenden Neuronen dieser Art Distanzen messen und die eigene Orientierung im Raum feststellen.
Für die Entdeckung der beiden Zelltypen gab es vor zehn Jahren, 2014, den Nobelpreis. Das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser, das 2005 die Gitterzellen fand, erhielt ihn gemeinsam mit John O'Keefe vom University College London. Sie haben mit allen dreien zusammengearbeitet.
Genau. Ab 2004 habe ich meinen Postdoc am University College in London gemacht. 2016 bin ich dann zum Kalvi Institute for Systems Neuroscience im norwegischen Trondheim gekommen und dort zum Professor berufen worden. Die Mosers hatten das Institut 20 Jahre zuvor gegründet.
Genügt die Arbeit der Orts- und Gitterzellen, um sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden?
Es gibt noch eine ganze Menge anderer räumlich sensitiver Zellen im Gehirn, die uns beim Navigieren unterstützen. Die Kompasszellen, auf Englisch »head direction cells«, etwa zeigen die Richtung an, in die der Kopf gedreht ist – und damit die Laufrichtung. Die Geschwindigkeitszellen codieren die Laufgeschwindigkeit und die Grenzzellen die Distanz zu einer Wand. Die »object vector cells« wiederum geben an, in welcher räumlichen Position wir uns relativ zu Objekten in unserer Umgebung befinden. Alle zusammen bilden das Navigationssystem des Gehirns, das eine interne kognitive Karte erzeugt.
Die Zelltypen hat man allesamt bei Ratten oder Mäusen, also Nagetieren, entdeckt. Gibt es sie auch beim Menschen? Schließlich kann man hier in der Regel nicht so genau nachsehen.
Das stimmt. Bei Mäusen und Ratten kann man mit Elektroden die Aktivität einzelner Zellen erfassen. Und bei anderen Säugetieren wie Fledermäusen und Rhesusaffen wurden mit diesem Verfahren ebenfalls Zellen des Navigationssystems gefunden. Solche Einzelzellableitungen sind bei Menschen aber in der Regel nicht möglich, außer in seltenen Ausnahmefällen: wenn man etwa bei Epilepsiepatienten versucht, mit implantierten Elektroden den Herd der Krampfanfälle zu lokalisieren. Auf diese Weise haben Fachleute tatsächlich Ortszellen im menschlichen Hippocampus entdeckt. Wir arbeiten dagegen nicht invasiv, das heißt mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) oder Magnetoenzephalografie (MEG). Und auch damit haben wir Hinweise auf ein vergleichbares Navigationssystem beim Menschen gefunden.
TV-Tipp
»SCOBEL – Wie wir uns orientieren«
Christian Doeller im Gespräch mit Gert Scobel und weiteren Experten. Die Sendung entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit »Gehirn&Geist« und dem NeuroForum Frankfurt 2024 der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.
Auf 3sat am 14.11.2024 um 21 Uhr.
Solche nicht invasiven Messmethoden haben ja meist eine sehr geringe räumliche Auflösung. Wie können sie dennoch Erkenntnisse zur Arbeit einzelner Neurone liefern?
Die fMRT erfasst die neuronale Aktivität tatsächlich nur indirekt über die Veränderung des Sauerstoffgehalts des Bluts. Man nennt das »hämodynamisches Signal«. Die heute gängigen Tomografen bilden Volumenelemente mit einer Kantenlänge zwischen einem und drei Millimetern ab. Selbst bei der höchstmöglichen Auflösung betrachtet man daher immer die mittlere Aktivität von zehntausenden Zellen. Möchte man nun neuronale Codes messen, was in der kognitiven Neurowissenschaft gang und gäbe ist, muss man mit Modellen arbeiten. Wir überlegen uns, wie die Aktivität einer ganzen Population von Nervenzellen aussehen könnte und wie sich das im hämodynamischen Signal widerspiegelt: Was zeigt der Kernspintomograf an, wenn 10 000 Zellen gleichzeitig feuern?
»Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist die Methode der Wahl für unsere Forschung«
Wahrscheinlich passiert das eher selten, dass alle 10 000 Zellen in einem Kubikmillimeter Hirngewebe gleichzeitig feuern, oder?
Genau das ist die Schwierigkeit: wenn die eine Zelle etwas anderes macht als die benachbarte. Dann sehen wir womöglich gar keinen Effekt. Die Gitterzellen bieten aber den Vorteil, dass sie ein regelmäßiges Feuerverhalten aufweisen, also an vorhersehbaren Stellen im Raum aktiv werden. Über alle Neurone hinweg ist die Orientierung des Gittermusters konstant, und das können wir für die Analyse nutzen. Trotz aller Herausforderungen ist die funktionelle Magnetresonanztomografie die Methode der Wahl für unsere Forschung, sozusagen unser Arbeitspferd.
Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass das Navigationssystem im Gehirn noch ganz andere Aufgaben hat, als uns von A nach B zu führen. Welche?
Meine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und andere Teams gehen davon aus, dass die Hippocampusformation das Orts- und Gitterzellsystem auch für völlig andere kognitive Bereiche einsetzt. Ein Beispiel ist das Konzeptlernen. Wenn wir Dinge anhand gemeinsamer Eigenschaften gedanklich in Klassen oder Konzepte zusammenfassen, nutzt das Gehirn dafür eine räumliche Codierung. Wir sprechen auch von »kognitiven Räumen«. So stellt jede Eigenschaft eine Dimension dar, entlang derer sich ein kognitiver Raum aufspannt. Objekte von ähnlicher Beschaffenheit liegen in dieser mentalen Karte nah beieinander und solche, die sich stark unterscheiden, weit voneinander entfernt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir mal Autos. Unser Wissen darüber ist multidimensional, das heißt, man kann Fahrzeuge entlang ganz verschiedener Dimensionen anordnen: Gewicht, Motorstärke, Anzahl an Sitzen, Preis und so weiter. Ein Familienvater achtet beim Kauf vielleicht besonders auf den Preis und die Anzahl der Plätze. Im kognitiven Raum ist jede Merkmalskombination an einem bestimmten Ort positioniert. Ein günstiges Auto mit wenigen Sitzen ist in diesem Raum weit entfernt von einem teuren Van. Das Konzeptlernen ist aber nur eines von vielen Beispielen dafür, was die Orts- und Gitterzellen alles leisten. Wir nehmen an, dass mit ihrer Hilfe jegliche Informationen im Gehirn repräsentiert werden, die man entlang von Dimensionen darstellen kann. Der innere Kompass dient quasi als Blaupause für höhere kognitive Funktionen.
»Studien haben gezeigt, dass das Gehirn soziale Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert«
Studien zufolge sollen sogar soziale Beziehungen im Gehirn räumlich codiert sein. Wie muss man sich das vorstellen?
Genau wie Fahrzeuge kann man auch seine Mitmenschen je nach Eigenschaft und sozialem Verhältnis entlang von Dimensionen anordnen. Bei Kollegen sind es beispielsweise die hierarchische Position im Unternehmen und die Nähe zum eigenen Tätigkeitsbereich. Bei Freunden achten wir vielleicht mehr darauf, wie eng das Verhältnis ist und wie sehr sich die Interessen ähneln. Studien haben gezeigt, dass das Gehirn solche sozialen Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert.
Was ist so vorteilhaft an diesem Organisationsprinzip, dass es sich im Lauf der Evolution durchgesetzt hat?
Das Orts- und Gitterzellsystem hat den entscheidenden Vorteil, dass es komplexe, multidimensionale Informationen – also solche mit ganz vielen verschiedenen Eigenschaften – in Räumen mit wenigen Dimensionen repräsentiert. So kann das Gehirn sehr viele Elemente und deren Verhältnis zueinander abspeichern. Zugleich ist das System sehr dynamisch. Ursprünglich diente es dazu, dass sich Tiere in ihrer Umgebung zurechtfinden. Und hierbei ist Flexibilität natürlich entscheidend. Die Ortszellen etwa repräsentieren einen ganz spezifischen Ort in einer bestimmten Umgebung. Zelle A feuert beispielsweise an der Tür eines Raums und Zelle B am Fenster. Gehen wir nun aber in einen anderen Raum, bildet sich im Gehirn sofort eine neue Karte. Jetzt ist Zelle A plötzlich in der Zimmermitte aktiv und Zelle B womöglich gar nicht mehr. Dafür schaltet sich hier eine Zelle C hinzu, die wiederum einen anderen Ort in dem Raum codiert. Eine derartige Anpassungsfähigkeit ist auch nützlich für höhere kognitive Aufgaben, die mit räumlicher Navigation nichts zu tun haben, etwa das Konzeptlernen. Außerdem ermöglicht es dieses Organisationsprinzip, Gelerntes zu generalisieren, also auf neue Situationen zu übertragen, was ebenfalls entscheidend fürs Überleben ist.
Wie funktioniert das?
Für die Generalisierung von Wissen sind die Ortszellen bestens geeignet, weil sie strukturelle, ja beinahe semantische Informationen codieren. Ich gehe hier in Leipzig fast immer in denselben Supermarkt. Wenn ich aber mal in einem anderen bin, weiß ich trotzdem, wo ich welche Produkte finde. Warum? Weil fast alle Supermärkte nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sind: Das Obst befindet sich in der Regel kurz hinter dem Eingang, der Käse im Kühlregal im hinteren Bereich des Ladens und die Kaugummis an der Kasse. Diese strukturellen Informationen sind in meinem Gitterzellsystem gespeichert. Und das gilt auch für nicht räumliches Wissen: Wenn ich mich beispielsweise mit Verwandtschaftsverhältnissen auskenne, brauche ich nicht viele Informationen über einen Menschen, um zu folgern, dass seine Mutter gleichzeitig die Großmutter seiner Nichte ist.
Was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir lernen? Viele sind davon überzeugt, dass wir uns Lernstoff am besten anhand von Bildern und Fotos einprägen können. Sind Diagramme und Zeitleisten womöglich besser geeignet, weil sie Beziehungen in Raum und Zeit veranschaulichen, ähnlich wie unser Gehirn?
Ich denke tatsächlich, dass eine räumliche Anordnung von Lerninhalten für dieses interne Kartensystem besonders gut geeignet ist. Manchmal macht man das ja sogar intuitiv: Wir arrangieren Vokabeln räumlich nach ihrer Bedeutung oder zeichnen komplexe Zusammenhänge grafisch auf, um Beziehungen zu erkennen.
»Das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen«
Manche Menschen können sich besser im Raum orientieren, andere schlechter. Wenn wir das innere Navigationssystem auch für höhere kognitive Aufgaben nutzen, drängt sich die Frage auf, ob Personen mit gutem Orientierungssinn entsprechend leichter neue Konzepte lernen oder soziale Gefüge durchschauen.
Leider ist die Studienlage dazu noch nicht so klar. Aber ich nehme an, dass Sie Recht haben: Je effizienter das Gitterzellsystem allgemein strukturelle Informationen repräsentiert, desto besser sollte ich auch in der Lage sein, dieses Wissen zu übertragen – ob beim Navigieren durch eine neue Umgebung oder beim Erschließen von Verwandtschaftsverhältnissen. Wie alles in der Neurowissenschaft ist das natürlich sehr kompliziert. Denn es ist selten nur ein einzelnes System für eine bestimmte Funktion zuständig; das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen. Im Fall der Navigation gibt es zum Beispiel noch weitere neuronale Strukturen jenseits des Hippocampus, die uns von A nach B kommen lassen.
Ganz ohne kognitive Karte?
Genau. Man kann einerseits den Weg vom Parkplatz zum Museum finden, indem man eine kognitive Karte der Stadt aufbaut. Man kann sich aber auch einfach merken: zweimal rechts, dreimal links, dann bin ich am Ziel. Dafür braucht man keine Orts- und Gitterzellen. Sobald aber plötzlich eine Baustelle den Weg versperrt und ich eine Umleitung finden muss, bin ich mit der Strategie, mir die Abbiegungen zu merken, aufgeschmissen. Dann brauche ich wieder eine mentale Karte.
Aktuell wird sehr viel Aufwand in die Entwicklung künstlicher Intelligenz gesteckt. Man orientiert sich dabei gerne an der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Kann das Wissen, dass es Informationen in kognitiven Räumen abspeichert, hier helfen?
Vielfach haben sich KI-Entwickler vom menschlichen Gehirn inspirieren lassen. Dennoch gibt es einige Bereiche der Kognition, die nicht so einfach zu simulieren sind. Vor allem jene neuronalen Prozesse, die den höchsten kognitiven Funktionen zu Grunde liegen, können der KI-Forschung aber als Vorbild dienen – etwa das Gitterzellsystem, wenn es darum geht, Gelerntes zu generalisieren und auf neue Situationen zu übertragen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich hier um technische Wissenschaften handelt. Wenn die beste künstliche Intelligenz biologisch unplausibel operiert, dann werden die großen Unternehmen diesen Weg sicherlich trotzdem weiterverfolgen.
Der Sitz der Ortszellen ist auch jener, der von der Alzheimerdemenz als Erstes betroffen ist. Könnte man die Erkenntnisse zum inneren Navigationssystem nutzen, um die Krankheit früher zu diagnostizieren?
Tatsächlich versuchen wir das. Es gibt Hinweise aus dem Tiermodell, dass die Orts- und Gitterzellen bei Mäusen mit Morbus Alzheimer weniger effizient arbeiten. Ortszellen codieren den Raum sehr präzise, das heißt, ein Neuron feuert nur innerhalb eines Zehn-Zentimeter-Bereichs. Bei den Alzheimermäusen ist diese Grenze unschärfer. Das ist ein bisschen so, wie wenn eine kurzsichtige Person die Brille abnimmt. Das Gleiche gilt für die Gitterzellen. Unsere Arbeitsgruppe hat zudem menschliche Probanden untersucht, die laut Genanalysen ein erhöhtes Risiko für Alzheimer aufweisen. Bei ihnen fiel das Signal der Gitterzellen allgemein schwächer aus – zumindest deuteten indirekte MRT-Messungen darauf hin. Andere Teams untersuchen gerade das Gitterzellsystem von Patienten, die bereits an Alzheimer erkrankt sind. Vielleicht handelt es sich hier um einen frühen Biomarker, mit dem man die Krankheit zeitig erkennen kann. Die Forschung dazu ist in vollem Gange, wir wissen also noch nicht, ob das funktioniert.
Wird das Orts- und Gitterzellsystem mit dem Alter generell weniger leistungsfähig?
Das scheint in gewissem Maße so zu sein. Allgemein wird man mit dem Alter etwas vergesslicher und findet weniger gut den Weg von A nach B. Zumindest gibt es eine leichte Verlagerung im Gehirn: Man nutzt offenbar für die Orientierung zunehmend weniger das Hippocampussystem, dafür aber vermehrt Strategien, für die andere Hirnbereiche zuständig sind. Ob das auch für die höhere Kognition gilt, ist aber noch unklar.