Nobelpreisträger Paul J. Crutzen ist tot: Der sanfte Weltenretter - taz.de
Published by The Internett,
Nobelpreisträger Paul J. Crutzen ist tot: Der sanfte Weltenretter
Er „entdeckte" das Ozonloch und prägte den Begriff des Anthropozän. Der Jahrhundert-Wissenschaftler und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen ist tot.
Crutzen bekommt 1995 den Nobelpreis von König Carl XVI. Gustaf von Schweden Foto: ap
BERLIN taz | War die Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1995 sein größter Triumph? Oder war dies fünf Jahre später, als er im Februar 2000 auf einer Wissenschaftstagung in Mexiko den Begriff des neuen Erdzeitalters „Anthropozän" erstmals in den Klimadiskurs einspeiste und damit die geologische Zeitskala, aber auch unser Weltbild entscheidend veränderte? Oder war der 16. September 1987 sein größter Tag, als das Montreal-Protokoll verabschiedet und damit das schrittweise Verbot des Ozonkillers FCKW durchgesetzt wurde? Der Jahrhundert-Wissenschaftler und charismatisch-sanfte Weltenretter Paul J. Crutzen erlebte viele große Tage und ungewöhnliche Erfolge.
Crutzen kam 1933 in Amsterdam auf die Welt, der Krieg prägte seine Kindheit. Im Hungerwinter 1944/45 starben viele seiner Mitschüler, Crutzen überlebte – auch dank der Lebensmittelabwürfe durch schwedische Flugzeuge. Seine Schulnoten reichten nicht für ein Studium, so besuchte er die mittlere technische Schule und ließ sich zum Tiefbauingenieur und Brückenbauer ausbilden.
Er heiratete 1958 die finnische Studentin Terttu Soininen, zog mit ihr nach Stockholm, wo Crutzens wissenschaftliche Karriere begann. Er wurde Computerprogrammierer an der Universität Stockholm und landete eher zufällig bei den Meteorologen. Das Fachgebiet selbst begeisterte ihn mehr als das Programmieren, er studierte parallel zu seiner Arbeit bei Bert Bolin, einem führenden Klimawissenschaftler.
Crutzen spezialisierte sich auf die Atmosphärenchemie. Der katastrophale Schwund der Ozonschicht wurde sein erstes großes Lebensthema. Mit seinen Arbeiten hat er entscheidend daran mitgewirkt, die chemischen Prozesse der Ozon-Zerstörung zu verstehen und die FCKW als Hauptverursacher zu identifizieren. Die Vollbremsung gelang in letzter Minute, die Überwindung des Ozonlochs wurde zur Erfolgsgeschichte internationaler Umweltpolitik. 1995 erhielt Crutzen mit zwei weiteren Wissenschaftlern dafür den Nobelpreis, der zum ersten Mal in der Kategorie „Umwelt" vergeben wurde.
20 Jahre in Mainz
Natürlich war Crutzen nicht nur Ozon-, sondern auch Klimawissenschaftler. Nach Lehr- und Forschungsaufträgen in den USA übernahm er 1980 für 20 Jahre die Leitung der Abteilung Atmosphärenchemie des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz. Er war kein populärer Frontmann der Klimakrise, sein Kommunikationsstil: Fachliteratur statt Talkshow. Unter 360 publizierten wissenschaftlichen Artikeln befinden sich viele der meistzitierten seines Fachgebiets. Darunter auch spektakuläre Arbeiten zum Nuklearen Winter nach einem Atombombeneinsatz.
Mit dem von ihm geprägten Begriff des Anthropozäns, dessen Beginn er Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Einbruch des Industriekapitalismus sieht, hat er nicht nur die Periodisierung der Erdgeschichte verändert. Er hat der Menschheit eine neue Verantwortung zugewiesen. Er hat klargemacht, dass es für diesen Abschnitt des Kriegs gegen Umwelt, Klima und Natur in den vergangenen Millionen Jahren keine erdgeschichtliche Entsprechung gibt.
Trotz seiner Erfolge war Crutzen kein Optimist. Er beobachtete illusionslos das Scheitern der internationalen Klimapolitik und brachte Plan B in Stellung. Als Ultima Ratio, bevor die Betriebstemperatur der Erde komplett außer Kontrolle gerät, schlug er vor, eine Art künstlichen Vulkanausbruch zu simulieren.
Im großen Stil sollten dann Schwefelpartikel in die Atmosphäre gebracht werden, um die Erde abzukühlen. Viele haben ihn für diesen Vorschlag des Geoengineerings kritisiert.
Doch sein realistisch-pessimistischer Blick auf die Klimapolitik bestätigt sich täglich neu. Der große Wissenschaftler Paul J. Crutzen ist bereits am 28. Januar nach längerer Krankheit im Alter von 87 Jahren gestorben.
Journalismus ist wichtiger denn je
Wir berichten seit 1978 über die Zerstörung unseres Planeten – weil wir daran glauben, dass eine bessere Welt möglich ist. Klima- und Umweltberichterstattung haben in der taz schon immer einen großen Raum eingenommen, aber zurzeit gehen wir noch einmal in die Offensive. Die taz berichtet noch intensiver über die drohende Klimakatastrophe – auf allen Kanälen. Um dies leisten zu können, sind wir auf die Unterstützung unserer Leser*innen angewiesen. Denn guter Journalismus ist aufwändig und nicht kostenlos zu haben.
Unsere Idee: Die Arbeit der Redaktion ist – anders als bei vielen anderen Medien – frei zugänglich. Unsere Artikel sollen so viel wie möglich gelesen, geliked und geteilt werden. Nur so können sie die ökologisch notwendigen Veränderungen unserer Gesellschaft vorantreiben. Im Gegenzug wird die taz von unseren Leser*innen unterstützt. Freiwillig und solidarisch. Mit Ihrer Beteiligung kann die taz auch in Zukunft das sein, was sie ist: eine kritische Öffentlichkeit und eine engagierte Stimme für mehr Klimaschutz. Unterstützen Sie jetzt die taz und helfen Sie uns dabei. Über 27.000 machen schon mit.
Tags: Klima, Umweltschutz, Wissenschaft, Genie, Personlichkeiten, Anthropozan