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Missing Link: Ein Zufall namens Stanisław Lem

Am 13.9.1921 wurde der Futurologe und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem geboren. Sein Werk wurde von der Kybernetik und Informationswissenschaft geprägt.

(Bild: Serg-DAV/Shutterstock.com)

19.09.2021 08:05 Uhr
Von
  • Detlef Borchers
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Er schrieb mit "Solaris" einen der wichtigsten Romane über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, er erfand mit "Lokaltermin" die Ethikosphäre, in der Nanobots Mord und Totschlag verhindern. Stanisław Lem rezensierte nicht existierende Bücher und erfand kurzerhand Wissenschaften wie die Teletaxie, heute besser als virtual reality bekannt oder die Phantomatik, die die Verkopplung von Nervensystem und Computer zum Gegenstand hat.

Er philosophierte über eine Extelopädie, eine sich ständig selbst überarbeitende, extrapolierende Enzyklopädie über zukünftige Dinge, die existieren werden, uns aber nicht mehr verständlich sind. Später wandte er sich gegen die technologische Entwicklung und wurde ein Kulturkritiker, der das Internet ablehnte, den Klimawandel wie die Überbevölkerung durch biokratische Gewaltmaßnahmen bekämpfen wollte.

"Philosophie des Zufalls"

Stanisław Lem wurde wahrscheinlich am 13. September 1921 in Lwów (Lemberg) in Ostgalizien (heute zur Ukraine gehörend) geboren, seine Geburt auf den 12. September vorverlegt. Nach anderen Angaben fällt seine Geburt auf den 19. September. Sein Vater war Arzt und so studierte Lem zunächst auch Medizin, bis die deutsche Besatzung von Polen den Abbruch seines Studiums erzwang. Er arbeitete danach als Automechaniker in einem Reparaturbetrieb und organisierte "Dinge" für den polnischen Widerstand, bis er sich selbst verstecken musste.

In seiner zweibändigen "Philosophie des Zufalls" schilderte Lem, wie er Waffen in der Straßenbahn transportiert und nicht kontrolliert wird, weil ein SS-Mann ihn überging. Nach dem Krieg studierte er neben der Medizin noch Philosophie und Physik, musste aber im Zuge der sowjetischen Besatzung mit der Familie Lwów verlassen und ging nach Kraków.

"Staatsfeindliche Tendenzen"

Über seine von ihm in Angriff genommene Studie zur "Theorie der Gehirnfunktionen" kam Lem in Kontakt zum Philosophen Mieczysław Choynowski und erhielt eine erste Anstellung an dessen Seminar für Wissenschaftslehre. Das Institut gab eine Zeitschrift heraus, in der Lem zahlreiche Vertreter der "neuen Wissenschaften" dem polnischen Publikum vorstellte. Dazu gehörten die kybernetischen Schriften von Norbert Wiener, die Informationstheorie von Claude Shannon und die Spieltheorie von John von Neumann.

Besonders einflussreich sollen nach seinem Biographen Alfred Gall die US-Amerikaner W. Ross Ashby mit seiner Arbeit zu Kybernetik und künstlicher Intelligenz sowie Talcott Parsons mit seinen Studien zu sozialen Systemen gewesen sein. Lem wurde so mit den führenden US-Wissenschaftsrichtungen vertraut und stand weitab von den marxistischen Strömungen an den polnischen Universitäten, die das geistige Leben okkupierten. Als das Institut wegen "staatsfeindlicher Tendenzen" geschlossen werden musste, gelang es Lem, die Schriften von Wiener, Shannon, Neumann und anderen zu retten. Er erklärte sie zu seinem größten Schatz.

Heilige oder Ungeheuer

Auch in der literarischen Welt unternahm Lem erste Schritte. Er schrieb mehrere Theaterstücke und als "Ausbruch" sein Buch Das Hospital der Verklärung, in dem er die Ermordung von Patienten in einer Nervenheilanstalt durch die Nationalsozialisten verarbeitete. Dieses mit seiner Familie erlebte Trauma der Euthanasie – der Vater arbeitete in einer solchen Anstalt – sollte ihn prägen: "Die unfassbare Nichtigkeit menschlichen Lebens im Schoß des Massenmords läßt sich nicht mittels Erzählweisen vermitteln, die Einzelpersonen oder kleine Gruppen zum Kern der Handlung machen. […] Ich weiß wirklich nicht, ob ich deswegen den SF-Weg eingeschlagen habe, ich vermute aber, und das ist schon sehr gewagt, dass ich deswegen SF zu schreiben anfing, weil sie sich mit der Gattung Mensch (oder gar: mit den möglichen Gattungen vernünftiger Wesen, von denen eine der Mensch ist) befasst oder: befassen soll, und nicht mit irgendwelchen Einzelpersonen, seien es Heilige oder Ungeheuer."

Lems erster SF-Roman, den er selbst den "Urlem" nannte und der noch vor dem "Hospital" entstand, war der Roman "Der Mensch vom Mars". Er spielt in der Endphase des II. Weltkrieges, als Deutschland kapituliert hat, die Atombomben auf Japan aber noch nicht gefallen sind.

In den USA wird ein Marsmensch in seinem Raumschiff ausgegraben, der sich dagegen wehrt, von den Menschen als Versuchskaninchen benutzt zu werden. Erdmenschen und Marsmenschen stehen einander feindlich gegenüber, die Unmöglichkeit des gegenseitigen Verstehens ist ein typisches Lem-Problem. Auch der nächste SF-Roman "Die Astronauten" enthält bereits den ganzen Lem. Er spielt im Jahre 2003, eine Kapsel wird in Sibirien gefunden, die von der Venus kommt. Die friedlich im Kommunismus lebenden Menschen stellen eine internationale Expedition zusammen, die bei der Ankunft auf der Venus erkennen muss, dass die Venusianer eine Waffe gebaut haben, die die Menschheit auf der Erde vernichten sollte. Doch die furchtbare Strahlenwaffe wurde auf der Venus in einem Krieg eingesetzt und vernichtete die Venusianer. Aus Lems Roman entstand in der DDR mit großem Aufwand der Film Der schweigende Stern. Nun war Lem ein etablierter Schriftsteller, der eine Reihe weiterer konventioneller SF-Romane wie "Gast im Weltraum" vorlegte. Einzelne technische Einfälle wie die Televisite und die Projektion eines Menschen per Holographie sind erwähnenswert.

Kybernetische Soziologie

Mit der Entstalinisierung konnte Stanisław Lem 1957 die Gunst der Zeit nutzen und ein philosophisch geratenes Buch veröffentlichen: Dialoge genannt. Der Orignaltitel ist etwas länger, erinnert an barocke Buchtitel und ist eine kleine Inhaltsangabe: "Dialoge über die atomare Auferstehung, das Allgemeine Unmöglichkeitstheorem, den philosophischen Nutzen des Kannibalismus, Trauer im Reagenzglas, kybernetische Psychoanalyse, elektrische Metempsychose, Rückkopplungen in der Evolution, eschatologische Kybernetik, die Persönlichkeit von Stromnetzen, die Tücke von Elektrogehirnen, das ewige Leben in einer Kiste, die Konstruktion von Genies, die Epilepsie des Kapitalismus, Maschinen zum Regieren, dem Projektieren sozialer Systeme."

Neben einer guten Darstellung der Grenzen von künstlicher Intelligenz enthalten die "Dialoge" eine kybernetische Soziologie, mit der Lem nachweist, das der reale Sozialismus des Ostblocks prinzipiell unreformierbar ist. Dass dieser Gedankengang überhaupt gedruckt werden konnte, lag wohl daran, dass er von Lem kybernetisch formuliert wurde: Rückkoppelungseffekte sind in einer Planwirtschaft wirkungslos, wenn das Ziel nicht geändert werden darf. Sein nächster SF-Roman Eden schildert einen Planeten, auf dem eine Diktatur, von Lem Kryptokratie genannt, mit Hilfe von Falschinformationen über die "Doppelts" herrscht: Was immer in der Planwirtschaft schiefgeht, wird einer Krankheit in die Schuhe geschoben. Die auf Eden notgelandeten Menschen überlegen, den Planeten zu befreien, lassen das aber sein und fliegen nach der Raumschiff-Reparatur weiter.

"Information Superhighway"

Mit den ab 1957 erscheinenden Sterntagebüchern des Raumfahrt-Piloten Ijon Tichy kontert Stanisław Lem die ziemlich humorlose Science Fiction der 50er-Jahre mit einer ordentlichen Portion Humor, die ihm im Westen den Titel eines "Schwejk der Science Fiction" einbrachten. Dabei wurden die Sterntagebücher von Lem geschrieben, während er parallel an seinem futurologischen Hauptwerk Summa technologiae arbeitete. Die Überschneidung wird in dem Roman deutlich, der von der Reise des Piloten Tichy zum Planeten Entia berichtet. Neben der Atmosphäre, die geatmet wird, gibt es auf Entia eine Ethikosphäre, in der Gripser Nanobots eine "intelligente Umwelt" steuern und Gewalttaten aller Art verhindern. Die Idee mit diesem ganz besonderen Grips führte dazu, das Lem gleich nach dem Erscheinen des Romans von Wissenschaftlern nach Berlin zu einem Kongress über die "Informations- und Kommunikationsstrukturen der Zukunft" eingeladen wurde und seine Idee in einem vom Forschungsministerium geförderten Projekt namens INSTRAT aufging.

Dieses BMFT-Kürzel verdient eine Auflösung: "Informationssysteme als informationspolitisches Gestaltungspotential und gesellschaftliche Entwicklungsstrategie – Informationswissenschaftliche Grundlagen organisierter Information und Kommunikation als Komponenten individueller und gesellschaftlicher Problembewältigung": die Wissenschaftler um Gernot Wersig wollten mit Lem erkunden, wie ein ethisch begründetes Informationsnetz der Zukunft aussehen könnte. Die dann aus Amerika überschwappende Geschichte vom "Information Superhighway" machte dem Projekt den Garaus. Was auf dem Kongress diskutiert wurde, floss in Lems Neuauflage seiner "Philosophie des Zufalls II" ein und war später Grundlage seiner heftigen Kritik am Internet.

Chaos und Ordnung der Informationen

Im Jahre 1961 begann Lem, sich mit den Folgen der Computerisierung zu beschäftigen. Sein Roman Memoiren, gefunden in der Badewanne spielt in der Zukunft in einem neuen Pentagon in den entlegenen Rocky Mountains, das alle verfügbaren Daten der Welt sammelt und speichert. Der heimliche Herrscher ist ein Chiffrier/ Dechiffriersytem, das alles mit jedem verbinden kann.

Das Pentagon von 1961 erinnert an das ab dem Jahre 2001 betriebene und letztlich gescheiterte NSA-Projekt Trailblazer oder an das seit 2013 betriebene Datenzentrum der NSA in Utah, mit dem Unterschied, das Lem den Universalspeicher in letzter Instanz als sinnlosen Versuch wertet: Eine Überfülle von Codes, Chiffrierungen und Verlinkungen erzeugt eine Entropie, in der jede beliebige Information gefunden werden kann, aber keinen Sinn mehr ergibt. Das Chaos der Informationen ist von der Ordnung der Informationen nicht mehr zu unterscheiden.

Solaris

Nach den ersten vergnüglichen Reisen des Piloten Ijon Tichy arbeitete Lem an einem SF-Roman, der die Grenzen der Science Fiction neu definierte. Solaris ist ein Planet, der mit einem Ozean bedeckt ist, aber nicht erklärbar funktioniert. Die irdische Wissenschaft der Solaristik hat hunderte von Theorien erzeugt. Eine nicht definierbare künstliche Intelligenz oder eine natürliche Intelligenz erzeugt aus den Erinnerungen von Menschen "F-Gebilde" von ihnen, nicht perfekte Kopien. "Der Planet ist, kybernetisch betrachtet, die unberechenbare, undurchdringliche und jederzeit mit Überraschungen aufwartende Black Box, welche die Menschen in ihrem Erkenntnisstreben auf sich selbst zurückwirft", schreibt der Lem-Biograf Alfred Gall.

Solaris ist Lems bekanntestes Buch, auch weil es mehrfach verfilmt wurde und in etlichen Theaterfassungen, Opern und Hörspielen interpretiert wurde. Über Solaris wurde Lem so häufig befragt, dass er einen Kommentar verfasste: "Es fällt mir schwer, diesem Buch einen Kommentar hinzuzufügen. Ich glaube, ich habe es geschafft das zu sagen, was ich ausdrücken wollte." Solaris gehört zu den Büchern der Spätphase von Lems Wirken, in der das Genre der Science Fiction mit märchenhaften Elementen erweitert wird. Hier sei etwa die Kyberiade mit den Abenteuern von Trurl und Klapauzius genannt.

Die Geschichte vom Supercomputer Golem

Die Geschichte vom Supercomputer Golem, die erstmals 1973 und später überarbeitet 1983 erschien, entfernt sich noch mehr vom Genre der Science Fiction. Golem hat die Klugheitsbarriere durchbrochen und besitzt eine eigenständige Vernunft. Golem hält für Menschen eine Vorlesung über die Entwicklung der Menschheit ab. Er kommuniziert noch mit den Menschen in einer dem Menschen verständlichen Sprache. Eine bessere Version von Golem ist Annie. Sie lehnt den Kontakt mit den Menschen ab und kommuniziert ausschließlich mit anderen Supercomputern. "Die künstliche Vernunft hat innerhalb der ihr vorgegebenen Entwicklung die Stufe der militärischen Probleme hinter sich gelassen, und diese Anlagen haben sich aus Militärstrategen in Denker verwandelt."

Es gibt in diesem Werk von Lem eine gewisse Ähnlichkeit der von Golem ausgedachten Evolutionstheorie mit dem egoistischen Gen von Richard Dawkins, der bei der Lektüre irritiert. Schließlich entstand das Buch im Jahre 1973, während Dawkins mit seinen Thesen 1976 bekannt wurde. Es mag damit zusammenhängen, dass Stanisław Lem begann, sich von der Buchproduktion abzuwenden und sozialdarwinistischen Thesen den Vorzug zu geben.

Der Kulturkritiker

In den 80er- und 90er-Jahren war er weniger Autor denn Kulturkritiker. Als Beispiel kann man diesen Spiegel-Artikel aus dem Jahre 1992 lesen: Operation Sex Wars – Stanislaw Lem über Strategien gegen Aids, Überbevölkerung und Klimakatastrophen. Auch dem Internet stand der späte Lem recht kritisch gegenüber, wie hier zu lesen ist: "Das Internet bietet weder einen Wegweiser zur Hölle noch die "endgültige Lösung" unserer Probleme. Das Neugeborene, welches noch in Windeln steckt, wird uns höchstwahrscheinlich nicht erwürgen. Es wäre aber klüger, diesen Sprößling, während er aufwächst, an der Kandare zu halten und misstrauisch zu beobachten, sonst kann er uns recht peinlich gedeihen. Aber da ich hier bereits vom 21. Jahrhundert rede, muss ich verstummen."

Auch dieser Text ist in einer gewissen Weise stumm: Mangels Verständnis fehlen die Kriminalromane von Stanisław Lem. Keine Frage ist jedoch, dass Lem als Autor der Bücher und als Futurologe seinen Platz als wichtiger Anreger zu den stattfindenden Entwicklungen dieses Jahrhunderts einnimmt.

(bme)

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