Matriarchat in Guinea-Bissau: Frieden dank Frauen - DER SPIEGEL
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Auf der Ilha de Orango wahren Frauen traditionell den Frieden – so wie Isabel Yaratano
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELMatriarchat auf einer Insel vor Guinea-Bissau Was ist anders, wenn Frauen die Entscheidungen treffen?

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Der Weg vom Strand zum Dorf ist kerzengerade, früher sind darauf Flugzeuge gelandet. Sie brachten weißes Pulver aus Südamerika, erzählt man sich auf der Insel. Das ging dann über das Festland weiter nach Europa, wo es in den Nasen vieler mächtiger Männer landete. Ein fremdes Produkt für ein fremdes Konzept. Auf der Ilha de Orango vor der Küste Guinea-Bissaus gibt es kaum mächtige Männer. Hier haben traditionell vor allem die Frauen das Sagen. Auch wenn sich das langsam ändert, zum Bedauern vieler.
Ilha de Orango


Isabel Yaratano hievt ein Schilfbündel auf den Kopf, es ist Baumaterial für das neue Haus ihrer Schwester. Die Mauern aus Stein haben die beiden Frauen schon errichtet, eigenhändig. So will es die Tradition hier im Dorf Eticoga: Frauen bauen die Häuser, dafür gehören sie ihnen anschließend. Die Männer, wenn es denn welche gibt im Leben der Frauen, sind darin höchstens zu Gast.

Kein reines Matriarchat, aber doch ein Gegenentwurf zu den patriarchalen Strukturen anderswo: Die Insel Orango in Guinea-Bissau
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELVor dem Haus werden die beiden einen kahlen Baumstamm aufstellen, mit einer verästelten Krone, auch so will es der Brauch. Für viele Ehemänner ist dieser Baum ein gefürchteter Ort: Wenn dort oben plötzlich ihr Gepäck hängt, wissen sie: Es ist Zeit zu gehen. Sie wurden rausgeschmissen. Die Frauen von Orango dürfen das, es ist schließlich ihr Haus. Auf die Frage, ob sie das schon einmal gemacht habe, reagiert Isabel mit überraschtem Blick: »Natürlich, mein letzter Ehemann war ein Nichtsnutz, der musste gehen. Der jetzige ist besser, mal sehen, wie lange er bleiben darf.«

Isabel Yaratano: »Mein letzter Ehemann war ein Nichtsnutz, der musste gehen«
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELDann erzählt Isabel vom Leben in der Gemeinschaft, von den Machtverhältnissen. Zwischendurch grüßt sie lautstark die Vorbeilaufenden, meist mit einem flapsigen Scherz. Man merkt sofort, dass sie sich keinen »Bullshit« gefallen lässt, schon gar nicht von den Männern. So ist sie aufgewachsen, so hat es ihre Mutter ihr vorgelebt. Vieles ist anders hier, man nimmt das als Außenstehender gleich wahr. Die Geburt einer Tochter wird auf Orango besonders intensiv gefeiert. »Wir Frauen gebären nicht nur Kinder, wir managen das Leben im Dorf«, sagt Isabel. Es ist laut Experten kein reines Matriarchat, aber doch ein Gegenentwurf zu den patriarchalen Machtstrukturen anderswo auf der Welt.
Neben ihr sitzt der offizielle Dorfvorsteher, Simon Pereira, ein Mann. Er schaut etwas teilnahmslos, kaut auf einem Halm herum. Wenn die Frauen reden, hört er zu. Denn er weiß: Ohne sie läuft hier nichts. Pereira ist das Bindeglied zwischen der Regierung in der fernen Hauptstadt Bissau und dem traditionellen Leben in Eticoga. Doch wenn wieder mal irgendetwas von der Regierung verfügt wurde, dann kann er nicht einfach ein Dekret vorlesen. Er muss zu den höchsten Instanzen im Dorf gehen und sie um Erlaubnis bitten.
Diese höchsten Instanzen sind, natürlich, weiblich. Es sind die Priesterinnen von Eticoga, zwölf waren es einmal, doch in den vergangenen drei Jahren sind zehn von ihnen gestorben. Sie sind die spirituellen Oberhäupter der Gemeinschaft – und die Entscheidungsträgerinnen. Die Position wird von Mutter zu Tochter vererbt. Sie bestimmen über die religiösen Zeremonien, die für das Dorfleben so wichtig sind, und auch darüber, wann gesät und geerntet werden soll.

Hausbau ist auf Orango Frauensache
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELIm Zentrum von Eticoga steht die Rundhütte der Priesterinnen, um sie herum ein dichter Zaun. Männer haben keinen Zutritt, das Innere der Hütte ist nur den Priesterinnen vorbehalten. Dort stellen sie die Verbindung mit den Göttern her – und mit Okinka Pampa. Sie ist so etwas wie die Urmutter der matriarchalen Strukturen auf Orango und wird verehrt wie eine Heilige.
Okinka Pampa war von 1910 bis 1930 die letzte Königin der Inseln, eine Königin des Friedens. Sie hat die Sklaverei abgeschafft, Frauenrechte gestärkt, mehrere portugiesische Kolonialisierungsversuche abgewehrt und schließlich einen Friedensvertrag mit den Portugiesen ausgehandelt. So blieb die Insel weitestgehend von der Kolonialherrschaft verschont. Und die Königin wurde zur Heldin, zum Rollenvorbild für Generationen.

Die traditionelle Priesterin Nene Ekana vor dem »Haus der Entscheidungen«
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGEL»Wir führen die Tradition von Okinka Pampa fort. In diesem Haus hat sie bereits gesessen«, sagt Nene Ekana ehrfürchtig. Sie ist eine der zwei verbliebenen Priesterinnen des Dorfes. Ekana sitzt auf einer Bastmatte, sie sieht erschöpft aus, die Augen getrübt vom Alter. Nach jeder Frage rückt sie etwas näher an ihr Gegenüber, das Gehör spielt nicht mehr so gut mit. Doch die Autorität ist ihrem Blick noch immer anzusehen. »Das hier ist das Haus der Entscheidungen«, sagt sie mit fester Stimme.
Und Entscheidungen gehen auf Orango in der Regel so: Es gibt zwei Räte, einen aus Männern und einen aus Frauen. Sie diskutieren Lösungen für Konflikte oder anstehende praktische Fragen. Beide Gruppen einigen sich jeweils auf eine Lösung – und verhandeln danach miteinander einen Kompromiss oder tragen ihre Ideen separat den Priesterinnen vor. So soll sichergestellt werden, dass kein Geschlecht übergangen wird. Die Priesterinnen haben dann das letzte Wort – gelebte Demokratie, die seit den Zeiten Okinka Pampas den Frieden gesichert hat.
Wenn die mächtigen Männer in Bissau sich mal wieder gegenseitig wegputschen – mehr als ein Dutzend versuchte oder gelungene Staatsstreiche gab es seit der Unabhängigkeit –, geht das Leben auf Orango einfach weiter. Sie sind autark hier, das Land ist fruchtbar, das Meer voller Fische. Ein paar Hundert Meter vom Dorf entfernt gibt es ein kleines Strandhotel, das auch Ausflüge nach Eticoga anbietet, »anthropologischen Tourismus«, um die matriarchalen Strukturen zu bewundern.
Selbst der österreichische Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik, ein Bewunderer der Nazis und Mitglied der NSDAP, vermerkte 1944 in einem Bericht über den »Frauenstaat von Orango Grande« verwundert, dass der Begriff »schwaches Geschlecht« hier gar nicht gelte. Was er verschwieg: In Afrika gab es zahlreiche Gemeinschaften, in denen Frauen entscheidende Machtpositionen in der Familie und der Gesellschaft innehatten – bevor die europäischen Missionare und Kolonialherren die Strukturen auf den Kopf stellten und ihren angeblichen Fortschritt predigten.

Die männlichen Dorfältesten sind nach eigenen Angaben stolz auf die mächtigen Frauen
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELIsabel macht eine kurze Pause vom Hausbau, sie sitzt auf gestapelten Holzstämmen im Schatten. Neulich hätten die Männer versucht, sich über die Tradition hinwegzusetzen, erinnert sie sich. Es ging um eine Spende, die Dorfbewohnerinnen hatten zusammengelegt und wollten von der Pandemie gebeutelten Familien etwas zukommen lassen. Am Ende versuchten die Männer zu bestimmen, wer wie viel bekommt. Ein Affront. »Wenn schwere Arbeit gemacht werden soll, sieht man die Typen nie. Aber wenn es darum geht, Spenden zu verteilen, tauchen sie plötzlich auf«, schimpft Isabel. Natürlich haben sie es sich nicht gefallen lassen.
Tatsächlich sind die Machtverhältnisse auf Orango auch ein Ergebnis der ungleichen Arbeitsverteilung. Kindererziehung ist traditionell Frauensache, ebenso die Arbeit auf dem Feld, das Sammeln von Meeresfrüchten, der Hausbau, der Haushalt. Männern bleibt lediglich das Fischen und Sammeln von Palmfrüchten vorbehalten. »Wir Frauen arbeiten von sechs Uhr früh bis nachts. Das gibt uns eine Menge Macht«, sagt Isabel. Auf Orango gelten Frauen als das »starke Geschlecht«, weil sie viel mehr schuften. Die Arbeitsteilung selbst wird nicht hinterfragt.
Und die Frauen nutzen ihre Macht: Sie suchen sich etwa ihre Ehepartner selbst heraus, statt auf einen Heiratsantrag zu warten. Wollen sie mit einem Mann zusammenleben, dann stellen sie ihm einen großen Teller Essen vor die Hütte. Akzeptiert der Wunschpartner die Mahlzeit, zieht er anschließend in das Haus der Frau – bis die genug von ihm hat. Auch die unzähligen Hühner, Schweine und Kühe im Dorf gehören den Frauen, sie verfügen damit über die Lebensgrundlage der Haushalte.
Auf Holzhockern und Plastikstühlen hat sich der Ältestenrat der Männer versammelt, sie reden über anstehende Zeremonien, unter anderem eine Totenfeier. Die betagten Herren tragen schlauchförmige Körbe bei sich, darin bewahren sie Palmwein für spirituelle Rituale auf. Joaquim Yaratani ist einer der Ältesten. Mit der starken Rolle der Frauen habe er kein Problem, versichert er: »Ich war so stolz damals, als mich meine Frau ausgewählt hat. Wir sind stolz darauf, dass hier Frauen die Entscheidungen treffen.«
Dann schwärmt Yaratani von Okinka Pampa, der verehrten Herrscherin. Er wird dabei lauter und gestikuliert energisch, als ginge es plötzlich um ein Thema äußerster Dringlichkeit. »Sie war eine Macho-Frau. Sie hat Dinge geschafft, die kein Mann je fertiggebracht hätte«, sagt er bewundernd. Doch ihn treibt eine Sorge um: dass die matriarchalen Traditionen langsam verwässert werden.

Traumstrände und isoliertes Leben – die Ilha de Orango ist fernab der Hauptstadt Bissau
Foto: Ricci Shryock / DER SPIEGELInzwischen gibt es eine christliche Kirche im Ort, der Pastor macht es wie früher die Missionare: Er lässt Schulen und Krankenstationen bauen, so sickert das Christentum langsam in die Familienstrukturen von Eticoga. Männer machen plötzlich den Frauen Anträge, Männer bauen Häuser, der Dorfvorsteher Simon Pereira hat sogar zwei Ehefrauen, bislang ein Tabu. Und dann sind auch noch zehn von zwölf Priesterinnen gestorben.
Isabel Yaratano zieht die Stirn in Falten. »Früher waren die Frauen hier noch stärker, doch das ändert sich leider. Es zieht die Moderne ein – oder besser gesagt das, was andere für modern halten«, sagt sie. Sie sieht darin den Frieden bedroht. Denn in Zeiten von Konflikten leiten die Frauen den Kriegsrat, so wie einst Königin Pampa. Sie sollen besonnen handeln und Gewalt verhindern. Doch diese Strukturen verschwinden zunehmend. »Und ich glaube, Männer treffen oft ziemlich unvernünftige Entscheidungen«, sagt Isabel zum Abschied.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Tags: Gender, Politik, Gesellschaft, Matriarchat