Komplexitätsforscher sieht Gefahr für Systemkollaps in den USA - Mensch - derStandard.at › Wissenschaft


Endzeitalter

Komplexitätsforscher sieht Gefahr für Systemkollaps in den USA

Es gebe eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen gewaltsamen Bruch nach den US-Wahlen, sagt Peter Turchin. Er blickte für sein Buch "End Times" 5.000 Jahre zurück

Interview
/
Karin Krichmayr

28. Jänner 2024, 17:00

,

Der Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021 zeige, wie "extrem fragil das politische System in den USA" ist, sagt Peter Turchin.
Getty Images

Das alte Ägypten, das Römische Reich, die Maya oder die chinesische Qing-Dynastie: All diese leuchtenden Zivilisationen kollabierten irgendwann. Geboren in der damaligen Sowjetunion hat Peter Turchin einen solchen Zusammenbruch selbst erlebt, allerdings schon aus dem Exil. Er ging 1977 in die USA, als sein Vater, der Dissident und Kybernetiker Valentin Turchin, zur Emigration gezwungen wurde. Heute forscht Peter Turchin am Complexity Science Hub (CSH) in Wien.

Seit drei Jahrzehnten untersucht er den Aufstieg und Fall von Gesellschaften mithilfe von komplexen mathematischen Methoden. Die Muster, die er dabei fand, weisen darauf hin, dass die derzeitigen offensichtlichen Krisen Vorboten für einen gesellschaftlichen Kollaps darstellen. Als Doomer will er aber nicht missverstanden werden, ein Zusammenbruch sei vermeidbar.

STANDARD: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, nun auch mit neuen Kriegen in Europa und im Nahen Osten. Ist unsere Welt dabei zu kollabieren, wie der Titel Ihres neuen Buches "End Times" suggeriert?

Turchin: Ich bin kein Kollapsologe (damit ist das Studium der Risiken des Zusammenbruchs der industriellen Zivilisation gemeint, Anm.) und auch kein Weltuntergangsprophet. Wir leben in Zeiten, in denen die Unsicherheit steigt und damit auch die Wahrscheinlichkeit für Gewaltausbrüche. Die Probleme sind ernst, aber ein globaler Kollaps ist vermeidbar. In Wahrheit bin ich ein Optimist.

STANDARD: Basierend auf historischen Daten haben Sie rund 100 Jahre andauernde Zyklen definiert, in denen sich friedliche Phasen und gewaltsame Konflikte abwechseln. Aus einer Reihevon Indikatoren haben Sie geschlossen, dass zumindest die USA und der Westen in den 2020er-Jahren wieder auf einen Moment zusteuern, an dem die existierende Ordnung kippt. Sind wir nun so weit?

Turchin: Diese Vorhersage habe ich in einem Nature-Paper aus dem Jahr 2010 gemacht. Wir sehen nun, dass die USA längst in der Krise sind, in einer Umbruchsituation. Das ist sehr deutlich seit der Präsidentschaftswahl 2020, insbesondere seit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021. Das politische System ist extrem fragil. Und es ist möglich, dass wer auch immer bei den Wahlen im November gewinnt, den Ausgang nicht akzeptiert. Das wäre beispiellos seit dem Jahr 1860 (als die Südstaaten die Wahl von Präsident Lincoln nicht akzeptierten, was den Beginn des Sezessionskriegs markierte, Anm.). Wir wollen 1860 nicht wiederholen.

Peter Turchin hat mit seinem Team hunderte vergangene Zivilisationen untersucht und dabei Muster entdeckt.
Corn

STANDARD: In einem Interview mit dem STANDARD im Jahr 2017 sagten Sie voraus, dass, wenn Trump verliert, seine Anhänger auf Washington marschieren könnten. Das ist tatsächlich eingetroffen.

Turchin: Das war keine Prophezeiung, sondern eine Voraussage, die auf einer wissenschaftlichen Analyse von hunderten vergangenen Zivilisationen fußte. Ich und mein Team fokussieren dabei auf große, komplexe, in Staaten organisierte Gesellschaften. Diese tauchten vor etwa 5.000 Jahren auf. Wir fanden dabei Zyklen von mehr oder weniger 100 Jahren, während derer diese Staaten zunächst inneren Frieden bewahrten und funktionierten. Zumindest in der Vergangenheit war es so, dass nach Phasen des wachsenden Wohlstands immer eine Wende kam und letztlich eine Endzeit anbrach. Das sind Perioden wachsender politischer Instabilität, die in Konflikte, auch bewaffnete, münden und zu einem Kollaps führen können.

STANDARD: Was sind die Hauptursachen für diese Instabilität?

Turchin: Zunächst ein Rückgang oder ein Stagnieren des Wohlstands eines großen Teils der Bevölkerung, also eine breite Verarmung. Ein zweiter Faktor sind Gegen-Eliten, welche die Instabilität antreiben. Sie sind ein Resultat der Überproduktion von Eliten. Das heißt, es gibt zu viele Menschen, die an die Macht streben, aber zu wenige Positionen für sie. Da die Zahl dieser Aspiranten ansteigt, werden mehr und mehr frustriert. Sie kanalisieren die Unzufriedenheit gegen Eliten oder werden Revolutionäre. Man denke nur an Lenin, die Bolschewiken oder Fidel Castro.

STANDARD: Und nun haben wir wieder so eine Endzeit erreicht?

Turchin: Die Daten zeigen, dass seit den späten 1970er-Jahren die Indikatoren für Instabilität immer stärker werden. Der Druck steigt immer noch. Wir sind in einer Krise, das heißt aber nicht, dass ein Bürgerkrieg unausweichlich ist. Aber die Wahrscheinlichkeit für einen gewaltsamen Systemzusammenbruch liegt meiner Einschätzung nach bei 50 Prozent. Bei jeder Präsidentschaftswahl ist das System unter Druck, egal ob 2020, 2024 oder 2028. Das Problem ist, dass die Ursachen für die Instabilität nicht angegangen werden. Die Reallöhne von Arbeitenden sind zuletzt durch die Inflation gesunken, auch das Problem der Überproduktion der Eliten verstärkt sich weiter.

"Es gibt zu viele Menschen, die an die Macht streben, aber zu wenige Positionen für sie."

STANDARD: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Turchin: Eines der gefährlichsten Bevölkerungssegmente in den USA sind junge Akademiker, speziell Juristinnen und Juristen. Denn die Law Schools, also juristische Fakultäten, sind wichtige Sprungbretter für politische Ämter. Die USA produzieren das Dreifache an Anwältinnen und Anwälten als benötigt werden. Mit der Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, die droht die Hälfte ihrer Aufgaben zu automatisieren, wird das Verhältnis auf sechs zu eins ansteigen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Innovationen und Technologien wie künstliche Intelligenz und die sozialen Medien, die auch als Verstärker für politische Radikalisierung dienen?

Turchin: Unsere Gesellschaften sind heute, ökonomisch betrachtet, viel produktiver als vor 200 oder vor 1000 Jahren. Das ist gut, da Wirtschaftswachstum hilft, die Verarmung der Bevölkerung zu vermeiden. Das Problem am Wirtschaftswachstum ist jedoch, dass die Erträge daraus nicht fair verteilt werden. Es hat immer technologische Fortschritt gegeben, und sie haben immer zunächst Konflikte verursacht. Aber langfristig, wenn man es schafft, dass nicht nur eine kleine Gruppe, sondern die breite Bevölkerung davon profitiert, können neue Technologien die Produktivität erhöhen oder mehr Freizeit bringen. Wir dürfen die Regulierung von Innovationen wie KI und ChatGTP aber nicht dem freien Markt überlassen. Um aus den Krisen herauszukommen und die verschiedenen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es abgestimmtes, kollektives Handeln auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene.

STANDARD: Was wäre nötig, um einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern?

Turchin: Wir haben eine Krisendatenbank aufgebaut, in der wir nun fast 200 Gesellschaften erfasst haben und was sie in eine Krise und wieder hinausgeführt hat. Wir können sehen, dass die Wege in die Krise relativ ähnlich sind, sich aber bei der Bewältigung verschiedenste Möglichkeiten auftun. Leider liefen Krisen in der Vergangenheit in den meisten Fällen auf eine gewaltsame Revolution, einen Bürgerkrieg und Ähnliches hinaus. Aber in wenigen Fällen schafften es die Gesellschaften, die Konflikte mit relativ wenig Blutvergießen zu lösen. Das Positive ist also, dass nichts unvermeidlich ist. In meinem Buch beschreibe ich etwa die Progressive Era und den New Deal in den USA, die Chartisten (eine Reformbewegung im England der 1830er- bis 1850er-Jahre, Anm.) und die Reformperiode im Russland der 1860er-Jahre, die die Revolution um 50 Jahre verzögert hat. Es gibt also Möglichkeiten, dem Kollaps zu entkommen. Zudem liegen die schlimmsten Zusammenbrüche der letzten 5000 Jahre schon ziemlich weit zurück. Unsere Gesellschaften sind resilienter geworden, es gibt demokratische Institutionen, die Ökonomien sind adaptiver.

"Leider liefen die Krisen in der Vergangenheit in den meisten Fällen auf eine gewaltsame Revolution oder einen Bürgerkrieg hinaus", sagt Peter Turchin. Unvermeidbar sein ein solcher Kollaps aber nicht.
Corn

STANDARD: In Europa gibt es einen politischen Rechtsruck. Ist das ein Zeichen für einen Kipppunkt?

Turchin: Aufgrund von Verarmung und Ungleichheiten entsteht große Unzufriedenheit. Politische Entrepreneure kanalisieren diese Unzufriedenheit, um an die Macht zu kommen. In dieser Situation muss man sich mit den Wurzeln der Probleme beschäftigen. Meiner Ansicht nach sind die USA eine Plutokratie und keine Demokratie mehr, während in vielen europäischen Ländern die Demokratie noch lebt. Generell ist Europa später auf den Krisenpfad gekommen, daher gibt es mehr Spielraum, um Lösungen zu finden. Doch auch hier steigt die wirtschaftliche Ungleichheit, was ein gutes Indiz für den Umbruch darstellt. Ich habe mir speziell Schweden angesehen, das immer Vorzeigebeispiel für einen sozialen Wohlfahrtsstaat war. Doch in den 1980ern gingen auch sie über zu dem, was ich "Vermögenspumpe" nenne, ein perverser Mechanismus, der Wohlstand von den Arbeitenden zu den Eliten leitet. Wenn man die Daten zur Vermögensaufteilung ansieht, fällt etwa auf, dass die Zahl der Milliardäre in Schweden von nur vier vor 20 Jahren auf heute 39 anstieg. Zugleich gibt es hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ghettoisierung. Europa geht in dieselbe Richtung, in der die USA schon länger sind.

STANDARD: Welche Daten ziehen Sie für Ihre Krisenanalysen heran?

Turchin: Ein Schlüsselkriterium für unsere Theorie ist die Überproduktion von Eliten. Der Weg zur Macht differiert aber stark von Land zu Land. In den USA spielen Reichtum und bestimmte Studienabschlüsse eine Rolle. In Frankreich muss man auf die richtigen Schulen gehen, Empfehlungen sind sehr wichtig. Wir müssen also für jedes Land spezifische Daten sammeln. Um die Verarmung zu messen, braucht man eine Reihe von Indikatoren, nicht nur Löhne, sondern auch Wohlbefinden, Lebenserwartung, der Grad der Vereinzelung, Arbeitszeitverkürzung. Es gibt für alle Faktoren mehrere Dutzend Indikatoren, und die sind natürlich umso schwieriger zu finden, je weiter zurück wir in die Zeit gehen.

STANDARD: Was waren in der Vergangenheit Faktoren für einen friedlichen Umbruch?

Turchin: Wir sind noch dabei, die große Variabilität bei der Bewältigung von Krisen statistisch zu verarbeiten. Aber es scheint, dass selbstlose Schlüsselpersonen, Bürgerbewegungen und prosozial eingestellte Eliten eine wichtige Rolle dabei spielen, einen besseren Weg einzuschlagen. Über die Jahrhunderte hat sich die Gesellschaft immerhin so weit entwickelt, dass die Krisen immer weniger heftig verlaufen sind. Es gibt also keinen Grund, warum wir diesen Zyklus nicht stoppen könnten. Ich bin sicher, die Menschheit wird es irgendwann lernen. Wir werden es aber wohl nicht mehr erleben. (Karin Krichmayr, 28.1.2024)

Peter Turchin, geboren 1957, ist Komplexitätsforscher auf dem Gebiet der historischen Sozialwissenschaften. Er studierte Biologie, forschte unter anderem an den Universitäten von Oxford und Connecticut. Er hat mehr als 200 Fachartikel und mehrere Bücher veröffentlicht. Derzeit ist er Projektleiter am Complexity Science Hub (CSH) in Wien.

Weiterlesen:

Studie warnt vor deutlichem Rechtsruck bei EU-Wahl

Was für eine Art autoritärer Herrscher wäre Trump?

Peter Turchin, "End Times. Elites, Counter Elites and the Path of Political Disintegration". 368 Seiten / 33,60 Euro. Penguin Books 2023
Penguin Books