Klimapolitik: Die unsichtbare Hand kann es nicht allein | ZEIT ONLINE


Klimapolitik: Die unsichtbare Hand kann es nicht allein

Der schwache Staat hat nur scheinbar das liberale Versprechen auf Freiheit und Wohlstand eingelöst. Was versäumt wurde, fällt mit Wucht in der Klimakrise auf uns zurück.
Ein Gastbeitrag von
2. Juni 2021, 18:33 Uhr / 238 Kommentare /
Ist liberale Ordnungspolitik die Rettung in Zeiten des Klimawandels? © Grant Faint/​Getty Images

Die unsichtbare Hand kann es nicht allein – Seite 1

Corona-Ausgangssperren, Klimakatastrophe, künstliche Intelligenz – bei den großen Themen unserer Zeit wird letztlich immer die gleiche Frage verhandelt: Was ist Freiheit? Zeit für eine Neubestimmung also. ZEIT ONLINE versucht, in einer losen Artikelreihe zu vermessen, was Liberalismus heute bedeutet. In dieser Folge schreibt der Wirtschaftsethiker Martin Kolmar, wie sich das Verständnis von Wirtschaftliberalismus in der Klimarkise verändert.

Martin Kolmar

Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. Er ist Verfasser der Lehrbücher "Grundlagen der Wirtschaftspolitik" (4. Auflage 2014, mit Friedrich Breyer) und "Principles of Microeconomics" (2. Auflage 2021).

Der Wahlkampf nimmt dieser Tage an Fahrt auf und es kommt zu einiger Verwirrung, wenn über das zentrale Thema der Klimakrise diskutiert wird. Die Grünen setzen, glaubt man ihrem Wahlprogramm, in dieser Frage vor allem auf Ordnungspolitik. Doch was genau bedeutet das? Ordnungspolitik ist die Antwort einer liberalen Gesellschaft auf eine Situation, in unserem Fall die Klimakrise, in der staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft notwendig wird. Anstatt aber den liberalen Kern von Ordnungspolitik in der Wirtschaft zu sehen, wird sie oft als Beleg für einen dirigistischen und drangsalierenden Ansatz einer vermeintlichen Verbotspartei gewertet.

Anzeige

Würde bei den ursprünglichen Vertretern dieses Ansatzes, wie dem Ökonom Walter Eucken, dieser Vorwurf Verwunderung auslösen? Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es sich, kurz die grundsätzliche Logik wirtschaftspolitischer Eingriffe und die Entwicklung von Wirtschaftspolitik zu vergegenwärtigen. Ordnungspolitik bedeutet: Der Staat setzt Regeln und trägt so dazu bei, dass die Wirtschaft gut funktioniert. Die ökonomischen Aktivitäten selbst sind grundsätzlich nicht seine, sondern Sache der Privaten. Dieser Sicht liegt ein grundsätzliches Bekenntnis zu Freiheit und Eigenverantwortung zugrunde, welches aber gleichwohl anerkennt, dass guter Wettbewerb gute Spielregeln benötigt.

Wir treffen bei der Frage, was gute Spielregeln sind, aber auf zwei sehr unterschiedliche Freiheitsbegriffe. Der erste, libertäre, sogenannte negative Freiheitsbegriff erklärt Freiheit zu einem Wert an sich und definiert sie als Abwesenheit von staatlichem Zwang. Gute Ordnungspolitik führt folglich zu einem Minimalstaat, dessen Aufgabe im Extrem nur darin besteht, diese Form der Freiheit zu garantieren. Der zweite, materielle, sogenannte positive Freiheitsbegriff bezieht sich stärker auf die Entfaltungsmöglichkeiten, die jeder Einzelne auch tatsächlich besitzt. Negative Freiheit ist dann ein Wert neben anderen und manchmal nur Mittel, um andere Ziele wie Wohlstand zu ermöglichen. Er ist offener hinsichtlich möglicher Zielkonflikte, da es unter Bedingungen der Knappheit oftmals so ist, dass ein Mehr an Freiheit für die einen ein Weniger an Freiheit für die anderen bedeutet. Gute Ordnungspolitik ist dann deutlich komplexer als die Sicherung eines Minimalstaats. Der ökonomische Mainstream orientiert sich an diesem Begriff.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weitere Infos
Noch mal abspielen
Weitere Infos

Man muss diese Unterscheidung kennen, um die Entwicklung der Wirtschaftspolitik und des Liberalismus der vergangenen Jahrzehnte und die Debatten der Gegenwart einordnen zu können. Die sogenannte neoliberale Politikwende, die in den Achtzigerjahren mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher begann und bis in die Gegenwart reicht, bezog sich auf diese ökonomischen Theorien und führte zu weitgehender Deregulierung, Steuersenkungen und generell zu mehr Markt. Mit diesen Entwicklungen waren jene sehr zufrieden, die libertäre Gesellschaftsvorstellungen hegten – das Verständnis von Ordnungspolitik näherte sich dem eines Nachtwächterstaats an, bei dem der richtige Ordnungsrahmen sich auf die Sicherung von Eigentumsrechten beschränkte.

Manche sagen, man betrieb Wirtschaftspolitik wie aus dem ökonomischen Lehrbuch. Das ist nicht falsch, nur dass offenbar die entscheidenden Kapitel nicht gelesen wurden. Deregulierte Märkte sind nur insoweit effizient, als dass keine Externen Effekte in systematischem Ausmaß existieren. Doch sie existierten damals schon und drängen sich jetzt mit aller Macht in unsere Realität: Es sind die enormen Umweltkosten – der Preis, den wir zahlen müssen für eine Stabilisierung unseres globalen Öko- und Klimasystems. Diese Externen Effekte wurden nicht berücksichtigt, sodass die Preise auf den deregulierten Märkten nicht den realen ökonomischen Knappheiten entsprechen und damit über Jahrzehnte falsche Anreize zu Konsum und Investitionen existierten. Die Folgen waren und sind erheblich, da durch die falsche Lenkung der Investitionsströme die technologische Entwicklung falsch ausgerichtet wurde.

Loaded: 0%
0:00
Remaining Time -0:00
Klimawandel - Was, wenn wir nichts tun? Waldbrände, Eisschmelze, Unwetter: Der Mensch spürt die Erderwärmung. Wie sieht die Zukunft aus? Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf erklärt unsere Welt mit 4 Grad mehr.

Das gesamte wirtschaftspolitische Paradigma musste grundsätzlich hinterfragt werden, als die Dissonanzen zwischen der Deregulierungspolitik und den größer werdenden Problemen durch Externe Effekte sichtbar wurden. Und damit sind nicht allein die ökologischen Probleme gemeint. Die wachsende ökonomische Ungleichheit innerhalb vieler Länder stellte zusätzlich Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit und politischer Stabilität. Spätestens hier kam es zu einer Trennung der Interessenharmonie zwischen libertärem Denken, welches Deregulierung als Wert an sich sieht, und einem an positiver Freiheit ausgerichteten Liberalismus.

Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit und politischer Stabilität

Welche Optionen entstanden daraus? Man konnte sich als Liberaler radikalisieren, indem man den normativen Bezugspunkt hin zu libertären Positionen verschob, man konnte die Fakten ignorieren und unscharf von den Vorzügen des Wettbewerbs und niedriger Steuern fabulieren oder man konnte die Forschungslage anerkennen und eine ausgewogenere Sichtweise auf das Verhältnis von Markt und Staat entwickeln.

Was bedeutet eine Orientierung an positiver Freiheit? Private Investitionen und private Innovations- und Erfindungskraft sind nicht durch staatliche Vorgaben ersetzbar. Aber private Akteure orientieren sich an den Anreizen des Marktes. Wenn die Marktpreise nicht stimmen, kommt eine Ökonomie auf einen falschen Entwicklungspfad. Der Staat muss dabei spezifische Märkte wie den CO2-Handel schaffen, da solche Märkte nicht spontan entstehen, um Externe Effekte absorbieren zu können. Der Preismechanismus orientiert sich aber auch dann nur an den vom Staat vorgegebenen Gesamtemissionsmengen. Wir kommen nicht darum herum: Wir haben es hier mit einer Form von Zentralismus zu tun, bei der wir uns auf die Vorgaben des Staats und idealerweise der Wissenschaft verlassen müssen, weil Emissionsmärkte nur einen nützlichen Beitrag leisten, wenn die dortigen Preise die Externen Effekte internalisieren. Die unsichtbare Hand des Marktes kann das nicht allein schaffen.

Die Klimakrise erfordert aber ein so umfassendes und so rasches Handeln, dass dies allein nicht reichen wird. Rein marktbasierte Instrumente wie der CO2-Handel können relativ effizient sein, wenn sie umfassend genug sind und die Preise rasch auf ein Niveau steigen, bei dem die ökologischen Kosten vollständig berücksichtigt werden. Weil wir aber mit einer effizienten Einführung eines solchen Instruments zu lange gewartet haben, ist nun ein sehr rascher Anstieg des CO2-Preises notwendig. Dies führt aber unweigerlich zu einer Restrukturierung der Wirtschaft mit potenziell erheblichen ökonomischen und sozialen Verwerfungen. Unternehmen können insolvent gehen und Beschäftigte ihre Arbeit verlieren. Um die sozialen Kosten dieser Umstrukturierung zu berücksichtigen, reicht klassische Ordnungspolitik nicht aus. Im Zentrum der Umweltfrage steht die soziale Frage und es ist nicht nur ungerecht, sondern auch politisch unklug, sich um diese nicht zu kümmern.

Loaded: 0%
0:00
Remaining Time -0:00
Pariser Klimaabkommen - Sind 1,5 Grad überhaupt noch zu schaffen? Um katastrophale Klimafolgen noch abzuwenden, müssen Staaten mehr tun, als sie bislang versprochen haben. Was das Pariser Klimaabkommen verlangt, im Video erklärt. © Foto: Pablo Blazquez Dominguez/Getty Images, JOHN MACDOUGALL_AFP via Getty Images

Hierzu muss der Staat in die Lage versetzt werden. Dazu ist es erforderlich, dass er entweder konsequenter als bisher Einnahmen aus dem Emissionshandel oder durch eine zusätzliche und abgestimmte CO2-Steuer generiert. Diese Instrumente haben nämlich anders als andere Steuern den Vorteil einer doppelten Dividende, da sie die Wirtschaft zugleich effizienter machen und Einnahmen generieren. Und es endet hier nicht. Umweltaspekte sind nicht die einzige Ursache für Externe Effekte. Dass der Staat historisch Kollektivhandeln organisiert und in bestimmte Infrastrukturen und Bildung investiert hat, lag nicht nur an Gerechtigkeitsüberlegungen, sondern auch daran, dass diese sogenannten Öffentlichen Güter auf Märkten nicht effizient bereitgestellt werden. Staatliche und private Investitionen gehen Hand in Hand, weil sie sich komplementär zueinander verhalten.

Eine Ökonomie der grünen Null benötigt eine veränderte Infrastruktur, und ohne staatliche Investitionen in diese werden die privaten Investitionen nicht im benötigten Umfang und der benötigten Geschwindigkeit stattfinden. Dies ist der theoretische Kern der Argumente, die sich für Green-New-Deal-Programme aussprechen. Sie sind, wenn sie gut gemacht sind, der Idee einer liberalen Wirtschaftspolitik verpflichtet, die unideologisch Markt- und Staatsversagen umfassend berücksichtigt.

Anzeige
Weitere Infos
Noch mal abspielen
Weitere Infos

Es ergibt keinen Sinn, über die Zukunft des Liberalismus nachzudenken, wenn man ihn nicht mit den drängendsten Problemen verbindet, die unsere Gesellschaften zu bewältigen haben. Eine Idee liberaler Wirtschaftspolitik, die sich dem verschließt, verschließt sich der Wirklichkeit und macht sich damit obsolet. Es ist ein Gebot der Redlichkeit, die relevanten Alternativen bei aller Unsicherheit klar zu benennen. Ein Vergleich der anstehenden Reformen mit der Vergangenheit aber ist unredlich, weil er verschleiert, dass dieses Modell der Freiheit und des Wohlstands in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Dass eine solche liberale Wirtschaftspolitik anscheinend paradoxerweise zu einem starken Staat führt, ist Ausdruck der Probleme, die wir bewältigen müssen. Die Philosophie des schwachen Staats der vergangenen Jahrzehnte jedenfalls hat nur scheinbar und nur für kurze Zeit das liberale Versprechen auf Freiheit und Wohlergehen eingelöst, weil es zentrale Formen von Marktversagen unzureichend adressierte.

Dies soll aber kein Freibrief für jede Form von staatlicher Intervention sein. Die neue Philosophie in der Wirtschaftspolitik der Achtzigerjahre nahm ja Bezug auf reale Probleme staatlichen Handelns, auf Missbrauch und Ineffizienz. Wir müssen aus diesen Erfahrungen lernen und es diesmal besser machen, indem wir das ordnungspolitische und darüberhinausgehend notwendige staatliche Handeln klug gestalten, um Freiheit und Wohlstand auch in Zukunft genießen zu können.

Seitennavigation

Startseite