Klimakrise: Warum der Meeresspiegel immer schneller steigt - DER SPIEGEL


Klimakrise Warum der Meeresspiegel immer schneller steigt

Ein Gastbeitrag von Stefan Rahmstorf
Der Meeresspiegel steigt. Und nicht nur das: Er steigt immer schneller. Wie stark der Klimawandel diesen Effekt treibt, ist inzwischen weitgehend entschlüsselt – auch dank moderner Satellitentechnik.
15.12.2020, 16.12 Uhr
Foto: Mario Tama / Getty Images

Am 21. November hat die Europäische Raumfahrtagentur Esa den Satelliten »Sentinel 6« von Kalifornien aus in die Umlaufbahn geschossen. Ziel der Mission: das Weltmeer. Der Satellit soll vor allem den Meeresspiegel vermessen. Er setzt damit eine ganze Reihe von Satellitenmissionen fort, die dies seit 1992 kontinuierlich tun. Dazu senden die Satelliten Radarwellen aus und fangen deren Echo von der Meeresoberfläche auf. Die Laufzeit der Wellen erlaubt es, den mittleren globalen Meeresspiegel auf einen Millimeter genau zu bestimmen.

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Aus 1.300 km Höhe: Sentinel-6 wacht über die Meere
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Die Satellitendaten kann jedermann nahezu in Echtzeit im Netz einsehen. Seit 1992 ist der globale Meeresspiegel um neun Zentimeter gestiegen. Die Anstiegsgeschwindigkeit hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt, von 2,1 auf 4,8 Millimeter pro Jahr. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich Mitte der Neunziger als junger Nachwuchsforscher in Kiel zum ersten Mal in einem Vortrag die neuen Satellitendaten sah: Sie lieferten den klaren Beweis für den lange vorhergesagten globalen Meeresspiegelanstieg.

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Foto: Astrid Eckert

Stefan Rahmstorf schreibt regelmäßig für den SPIEGEL über die Klimakrise. Er ist Klima- und Meeresforscher und leitet die Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Seit 2000 ist er zudem Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Paläoklimaforschung, Veränderungen von Meeresströmungen und Meeresspiegel sowie Wetterextreme.

Die Daten für die Zeit vor 1992 stammen aus der gewichteten Mittelung von Hafenpegelmessungen und sind wesentlich ungenauer. Denn solche Pegel messen den Wasserstand relativ zum Land und sind daher von Landhebung oder Landsenkung betroffen. Zudem steigt auch der Meeresspiegel selbst nicht überall gleich stark – unter anderem aufgrund unterschiedlicher Winde oder Meeresströmungen. Und Hafenpegel messen eben nicht überall, sondern nur entlang von Küsten. Durch Nutzung von GPS für die Landhebung und Vergleich mit den Satellitendaten während der letzten Jahrzehnte konnte auch der globale Mittelwert der früheren Pegeldaten wesentlich genauer bestimmt werden. Dadurch zeigt sich: im gesamten 20. Jahrhundert ist der Meeresspiegel um 13 Zentimeter gestiegen. Das sind im Schnitt nur 1,3 Millimeter pro Jahr – ein kleiner Teil der aktuellen Raten.

Klimakrise

Den menschengemachten Klimawandel zu stoppen, ist die wohl größte Herausforderung in diesem Jahrhundert.

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Anstieg des Meeresspiegels

in Zentimetern

20

Pegeldaten

Satelliten

16

12

3

8

2

1

4

0

1900

1940

1980

2020

moderate frühe Erwärmung

1

Erwärmungspause durch Luft-

verschmutzung; Speicherung

von Wasser in Stauseen

2

Starke anthropogene Erwärmung

seit den 1970ern

3

Quellen: Rahmstorf, Dangendorf,

Nature Climate Change 2019

Das Wasser steigt immer schneller: der globale Meeresspiegel seit 1900. Datenquelle: Nature Climate Change.

Doch schon dieser Anstieg ist einzigartig mindestens seit der Geburt Christi: Sedimentdaten zeigen, dass es seither in keinem Jahrhundert mehr als fünf Zentimeter Anstieg gegeben hat, und Jahrhunderte mit steigendem und fallendem Pegel hielten sich in etwa die Waage. Man erkennt das auch an Bauten aus der Römerzeit: Ich selbst habe zusammen mit anderen Meeresspiegelforschern die Überreste alter steinerner Fischbecken an der Mittelmeerküste besucht, die genau auf Meeresniveau gebaut worden sind und durch clevere Durchlässe bei Flut frisches Wasser herein und bei Ebbe wieder hinaus ließen. Das widerlegt das beliebte Argument der selbst ernannten Klimaskeptiker, der Meeresspiegel würde schon seit der letzten Eiszeit von Natur aus steigen. Selbst wenn er die letzten zweitausend Jahre nur einen Millimeter pro Jahr gestiegen wäre, wäre er zur Römerzeit zwei Meter niedriger gewesen – und die Becken hoch und trocken.

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Folge der fossilen Energienutzung

Der Meeresspiegel steigt, weil sich die Erde erwärmt. Dadurch gelangt von den schmelzenden Kontinentaleismassen erstens mehr Wasser ins Meer, und zweitens dehnt sich das vorhandene Meerwasser beim Erwärmen aus. Dies wurde schon 1965 von einem Expertengremium als Folge der fossilen Energienutzung vorhergesagt. Da Eis bekanntlich umso schneller schmilzt, je wärmer es ist, steigt der Meeresspiegel immer schneller.

Ein Beleg für den früher stabilen Meeresspiegel: Fischbecken aus der Römerzeit an der italienischen Küste

Foto: Stefan Rahmstorf

Die verschiedenen Beiträge zum Meeresspiegelanstieg lassen sich auch unabhängig bestimmen. Es gibt Messdaten zum Eisverlust der großen Eisschilde auf Grönland und der Antarktis, der von Satelliten »gewogen« werden kann und sich ebenfalls beschleunigt. Der Massenverlust der kleineren Gebirgsgletscher lässt sich aufgrund der verschiedenen vermessenen Gletscher hochrechnen. Tausende autonome Messsonden durchkreuzen die Weltmeere und messen ständig Temperaturprofile und damit die thermische Ausdehnung des Meerwassers. Und wir Menschen pumpen zur Bewässerung für die Landwirtschaft Wasser aus tiefen Grundwasservorräten an die Oberfläche. Die Summe dieser Beiträge erklärt über 90 Prozent des seit 1993 von Satelliten gemessenen Meeresspiegelanstiegs:

  • 42 Prozent stammen von der thermischen Ausdehnung,

  • 21 Prozent vom Gletscherschwund,

  • 15 Prozent vom Grönlandeis,

  • 8 Prozent vom Antarktiseis,

  • circa 6 Prozent von der Grundwassernutzung.

Der letzte Punkt lässt sich nur ungenau abschätzen. Interessant ist, dass der Bau von großen Stauseen vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Meeresspiegelanstieg ausgebremst hat – insgesamt entspricht die so an Land aufgestaute Wassermenge rund drei Zentimetern Meeresspiegel.

Der steigende Meeresspiegel beschleunigt die Küstenerosion, wie hier an der Ostsee bei Warnemünde

Foto: Stefan Rahmstorf

Die Zukunft

Houston, wir haben ein Problem: Wir befinden uns mitten in einer erdgeschichtlich extrem rasanten globalen Erwärmung, und wir haben noch genug Eis auf den Kontinenten, um den Meeresspiegel um 65 Meter anzuheben. Am Ende der letzten Eiszeit stieg die Temperatur um rund fünf Grad, der Meeresspiegel aber um 120 Meter. Die Eismassen haben seit Jahrzehnten bekannte Kipppunkte: durch die Eis-Höhen-Rückkopplung in Grönland und die marine Eisschildinstabilität in der Antarktis. Der Kipppunkt für Grönland (genug für sieben Meter Meeresspiegel) liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen einem und drei Grad globaler Erwärmung – nach der besten Abschätzung bei 1,6 Grad. Der Kipppunkt für die Westantarktis (genug für drei Meter Meeresspiegel) ist wahrscheinlich sogar schon überschritten.

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Kipppunkt überschritten bedeutet: Der weitere Eisschwund ist auch ohne weitere Erwärmung einprogrammiert. Er ist zum Selbstläufer geworden. Auch wenn der vollständige Eisverlust sich über einige Jahrtausende vollzieht, sind anfangs die Anstiegsraten am höchsten, Meter pro Jahrhundert. Wir verdammen viele Generationen nach uns zum ständigen Zurückweichen von der Küste. Und wir haben heute schon nach nur 20 Zentimeter Anstieg an manchen Küsten erhebliche Probleme mit Überflutung, an der US-Ostküste sogar im Rahmen der normalen Gezeitenzyklen, und erst recht bei Sturmfluten. Steigende Meeresspiegel bei immer stärkeren tropischen Wirbelstürmen verhießen nichts Gutes.

Gerade auch um einen katastrophalen Meeresspiegelanstieg zu verhindern hat die Weltgemeinschaft sich 2015 einstimmig im Pariser Abkommen geeinigt, die globale Erwärmung möglichst bei 1,5 Grad zu stoppen – auf jeden Fall aber deutlich unter zwei Grad. Jetzt muss es umgesetzt werden. Die nächsten beiden Jahrzehnte entscheiden darüber, wie viele Inselstaaten untergehen und wie viele Küstenstädte überflutet werden.