«Israel in der Krise», Teil 1: Wie ist es so weit gekommen? – Republik


Für die Demokratie, gegen die Regierung: Massive Proteste in Israel. Ofir Berman

Wie ist es so weit gekommen?

Israel am Abgrund: Die Regierung hebt die Gewaltenteilung auf, die Zivilgesellschaft leistet heftigen Widerstand. Der Philosoph und Psychoanalytiker Daniel Strassberg ist nach Israel gereist. Es ist auch eine Reise in die Geschichte des Zionismus. Und in die Biografie des Autors. «Israel in der Krise», Teil 1.

Von Daniel Strassberg (Text) und Ofir Berman (Bilder), 06.04.2023

Wir schreiben den 7. März 2023, und eben bin ich aus Israel zurückgekehrt. Aufgewühlt, verängstigt, wütend und ratlos, wie alle Menschen, die ich in den wenigen Tagen, die ich bleiben konnte, getroffen hatte. Weder für eine politische Analyse noch für einen Stimmungs­bericht war ich von der Republik nach Israel geschickt worden, sondern mit der Frage, wie es so weit kommen konnte. Wie es möglich ist, dass in Israel im Dezember 2022 eine religiös-fundamentalistische, anti­demokratische, nationalistische und rechts­extreme Regierung an die Macht kommen konnte, unter der Führung des mit Bravour wieder­gewählten Benjamin Netanyahu, eines bis ins Mark verkommenen und korrupten Politikers.

Bestimmt spielten zufällige Faktoren eine Rolle. Hätte Bibi im Laufe der letzten 27 Jahre nicht alle denkbaren Koalitions­partner über den Tisch gezogen, dann hätte Israel heute eine Mitte-rechts-Koalition – wie den grössten Teil der letzten 30 Jahre.

Doch die heutige Entwicklung, darin waren sich alle meine israelischen Gesprächs­partner und Gesprächs­partnerinnen einig, hat auch tiefer reichende Gründe, die in der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel angelegt sind. Am Ursprung seiner Implosion, der wir jetzt entsetzt beiwohnen, steht die Utopie eines zugleich jüdischen und demokratischen Staates. Ein jüdisch-demokratischer Staat ist ein Oxymoron, wie ein schwarzer Schimmel. Schreibt man den jüdischen Charakter im Gesetz fest – was vor einiger Zeit geschah –, ist der Staat nicht mehr demokratisch. In einer Demokratie darf die Macht nicht von Anfang an einer bestimmten Gruppe zugesprochen werden.

Israel in der Krise

In Israel steht eine Regierung, die rechter, nationalistischer, religiöser ist denn je, massivem gesellschaftlichem Widerstand gegenüber. Was ist geschehen? Zur Übersicht.

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Wie ist es so weit gekommen?

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Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass 1947, als die Uno der Gründung des Staates Israel zustimmte, Hundert­tausende schwer traumatisierte Überlebende des Holocaust in Europa gestrandet waren. Niemand wollte sie haben, und doch mussten sie irgendwo leben. Und zwar an einem Ort, an dem sie sich sicher, zugehörig, frei und selbstbestimmt fühlen konnten. In einem jüdischen und demokratischen Staat also.

Wie die jüdisch-israelische Gesellschaft seit der Staats­gründung mit dieser Spannung zwischen der Ideologie eines jüdisch-demokratischen Staates und der Realität seiner Unmöglichkeit umgegangen ist, darüber sprach ich in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem mit alten Freunden, alles linke Intellektuelle aschkenasischer, also europäischer Herkunft, mit denen ich mich seit vielen Jahren austausche. Aus diesen Gesprächen ergibt sich kein «objektives» Bild der momentanen Situation, ich habe weder mit der «Gegenseite» noch mit arabischen Israelis, den eigentlich Leidtragenden, gesprochen; aber mir ging es um eine Innen­ansicht der jüdisch-israelischen Bevölkerung und deren Veränderungen seit der Staatsgründung.

Die alte Vertrautheit mit Freunden machte eine schonungslos kritische, auch selbstkritische Analyse möglich, die mit Fremden vermutlich nicht zu erreichen gewesen wäre.

Die Gespräche ergaben das Bild einer nicht abreissenden Kette von Selbsttäuschungen.

Ungewollt wurde dieser Bericht auch eine Reise in meine eigene Vergangenheit, in jene Zeit, als ich noch zionistische Lieder sang, Blau-Weiss trug und stolz auf die militärische Überlegenheit Israels war. Mit etwa 14 Jahren besorgte ich mir, ich weiss nicht mehr wie, die Uniform eines Oberst­leutnants des Heeres und stolzierte in ihr durch die Strassen von Kfar Saba, um Ahuva zu beeindrucken, in die ich mich eben im Kibbuz verliebt hatte. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich, statt mit Ahuva in der Badeanstalt, auf der Polizei­wache von Kfar Saba.

18. Februar 2023

Es reicht zeitlich fast nicht, mich umzuziehen. Kaum bin ich mit dem Taxi in Ramat Hasharon angekommen, brechen wir zur Kundgebung auf. Zum achten Mal hintereinander finden sich um die Kaplanstrasse im Zentrum von Tel Aviv über hundert­tausend Menschen ein, um gegen die Politik der Regierung zu demonstrieren. Auf der einen Seite führt die Kaplanstrasse am Haupt­quartier des israelischen Militärs vorbei, auf der anderen Seite steht eine alte, zur schicken Ausgehmeile herausgeputzte Templer­siedlung. Die Freundin zeigt auf den riesigen Funkturm des Haupt­quartiers und bemerkt ironisch: «Und die Israelis beklagen sich darüber, dass die Hamas ihre militärischen Einrichtungen inmitten der Wohn­bevölkerung errichtet.»

Diesmal treffen sich 160’000, es sind mehr als am Samstag­abend in der Woche zuvor. Ein Meer von israelischen Fahnen: blauer Davidstern auf weissem Hintergrund, dazwischen einige Plakate, die meisten nur mit einem Wort beschriftet: «Demokratie».

Bislang hatte die Rechte die Flagge okkupiert. Waren an einer Versammlung viele Fahnen zu sehen, konnte man sicher sein, dass sich hier die nationalistische Rechte trifft. Die Rückeroberung der Flagge ist von hohem symbolischem Wert, die Demonstranten können nicht mehr als vaterlandslose Gesellen diffamiert werden. Aber sie macht auch ein wenig Bauch­schmerzen: Entsteht hier ein neuer Nationalismus des Mittelstandes?

Die Menschen flanieren mit einer Fahnenstange über der Schulter durch die Strassen, hin und wieder formieren sie sich in Reihen, marschieren und skandieren Parolen, wie «buscha», Schande. Bald lösen sich die Reihen wieder auf, man trifft Freunde, tauscht Neuigkeiten aus, irgendwo in der Ferne spricht der ehemalige Premier­minister Ehud Barak, niemand scheint besonders interessiert. Trommeln und Kinder­trompeten bilden eine eher unangenehme Geräusch­kulisse, ansonsten deutet nichts auf Militanz oder Aggression hin. Später blockieren Demonstranten eine Schnell­strasse, die Polizei nimmt einige der Protestierenden fest und lässt sie gleich wieder frei. Die Polizei verweigert zum wiederholten Male dem Sicherheits­minister Ben-Gvir den Befehl. Wie lange sie das noch durchhält?

Inzwischen ist es dunkel geworden, wir ziehen nun die Pullover an, der Tag war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit gewesen. Am Rande eines Parks malen Kinder unter Akazien eine Vorlage bunt aus, sie zeigt einen jüdischen und einen arabischen Jungen, die sich die Arme über die Schulter legen. Eine ältere Dame schreit die Organisatorinnen der Kinder­unterhaltung an, was denn Araber bitte schön hier zu suchen hätten! Die Organisatorinnen gehören zur Gruppe Gush Neged Hakibush, Block gegen die Besatzung. Sie wollen darauf aufmerksam machen, dass auch vor dieser Regierung, die am 1. November 2022 gewählt wurde, Israel keine wirkliche Demokratie war, hatten doch schon vor den Wahlen die knapp 20 Prozent arabischen Israelis den Status von Bürgerinnen zweiter Klasse. Die Palästinenser der besetzten Gebiete waren vollends rechtlos, von Apartheid sprach nicht nur die radikale Linke.

«No man’s land»: Qalandia ist der wichtigste Grenzübergang zwischen dem Westjordanland und Jerusalem.

Zu den Bildern

Die aktuellen Bilder zu diesem Beitrag stammen von der israelischen Dokumentar­fotografin Ofir Berman. Sie widmet sich in ihren Arbeiten sozialen und kulturellen Themen und möchte aufzeigen, wie sich Menschen an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Ein Teil der Bilder stammt auch aus ihrer fortlaufenden Arbeit mit dem Titel «Along the Separation Wall», in der sie die Lebens­realität von Israelis und Palästinensern auf beiden Seiten der trennenden Mauer festhält.

Die Demonstrationen werden von verschiedenen zivil­gesellschaftlichen Gruppierungen organisiert. Darüber, ob man Gruppierungen vom linken Rand in den Protest einbeziehen und damit riskieren soll, die Mitte und die demokratische Rechte zu verprellen, sind sich die Organisatoren und Organisatorinnen uneins.

Anfangs war auch umstritten, ob die Demonstrationen überhaupt etwas bringen. Doch inzwischen ist klar, dass sie den notwendigen Rahmen für die Mobilisierung von zivilem Ungehorsam bilden, der bis weit in die gesellschaftliche Mitte hineinreicht: 37 von 40 Militär­piloten einer Staffel der Reserve erscheinen nicht zum wöchentlichen Training; der ehemalige Chef des Mossad, Dani Jatom, ruft zur Befehls­verweigerung auf; zwei ehemalige Admirale der Marine organisieren eine Blockade des Hafens in Haifa; der Polizeichef von Tel Aviv wird entlassen, weil er die Befehle «seines» Ministers missachtet hat – worauf die Rechts­beraterin der Regierung die Entlassung für illegal erklärt.

Rechtsanwälte unterzeichnen einen Protest, ebenso Spitalärzte, Wirtschafts­fachleute aus allen Lagern warnen vor den katastrophalen Folgen der Politik der Regierung. Firmen kündigen an, ihren Firmensitz zu verlegen oder ihr Geld abzuziehen. Einige haben den Schritt schon vollzogen. Die Schweizer Organisation, die die Spenden der Diaspora für Israel sammelt, schreibt einen Brief an ihre Mutter­organisation – den Keren Hayesod –, in dem sie wegen der Einführung der Todesstrafe die weitere Mitarbeit infrage stellt. Den stärksten Druck übt jedoch die Hightech-Branche aus: Sie droht, Israel den Rücken zu kehren, wenn die Regierung ihre Politik fortsetzt.

Israel ist wirtschaftlich vollkommen von der Hightech-Industrie abhängig.

1. November 2022

Worum geht es eigentlich? Am 1. November 2022 wurde Benjamin Netanyahu zum sechsten Mal zum Premier­minister des Staates Israel gewählt, nachdem einige Monate zuvor eine breit abgestützte Regierungs­koalition auseinander­gebrochen war, deren einzige Gemeinsamkeit war, ihn, Netanyahu, zu verhindern. Die Koalition galt als diplomatische Meister­leistung des ehemaligen Journalisten und Mitte-Politikers Yair Lapid; sie umfasste das ganze Spektrum, von der linken Meretz-Partei bis hin zum religiösen Nationalisten Naphtali Bennett.

Ein Jahr konnten Lapid und Bennett die Koalition mit grossem politischem Geschick zusammen­halten, bis eine Abgeordnete der Partei von Naphtali Bennett zum Likud, der Partei von Benjamin Netanyahu, überlief und das fragile Konstrukt zum Einstürzen brachte. Was Netanyahu der Abgeordneten versprochen hatte, ist bis heute unklar. Vielleicht tat sie es aus Überzeugung. Die arabischen Abgeordneten hätten mit ihren Stimmen die Koalition retten und Netanyahu verhindern können. Dass sie es nicht taten, hinterliess bei vielen liberalen Israelis bittere Gefühle.

Netanyahu, der die Wahlen am 1. November 2022 überlegen gewonnen hatte, wurde vom Staats­präsidenten Yitzhak Herzog, einem Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten Chaim Herzog und Enkel des irischen Grossrabbiners Isaak Halevy Herzog, mit der Regierungs­bildung beauftragt. Doch da er im Lauf der Jahre restlos alle möglichen Koalitions­partner aus der rechten Mitte verprellt hatte, war niemand mehr bereit, mit ihm eine Regierung zu bilden. Er hat jeden Einzelnen und jede Einzelne von ihnen betrogen, belogen und hintergangen; darüber hinaus sind mehrere Verfahren wegen Korruption und Vorteils­nahme im Amt hängig, und niemand wollte sich die Hände schmutzig machen.

Eine Karriere, die das Land verändert: Benjamin Netanyahu wird im März 1993 zum Parteichef des Likud gewählt. Esaias Baitel/Gamma-Rapho/Getty Images

Um nicht ins Gefängnis zu wandern, musste Netanyahu zum Chef der neuen Regierung werden, koste es, was es wolle. Das israelische Recht sieht vor, dass ein Premier­minister, im Gegensatz zu gewöhnlichen Ministern, im Amt verbleiben kann, solange er nur angeklagt und noch nicht verurteilt ist. Dieses Gesetz wurde in der Zwischen­zeit geändert, allerdings zugunsten von Netanyahu: Der Premier­minister muss nun nicht mal nach einer Verurteilung zurücktreten.

Es blieben ihm daher nur drei religiös-rechtsextreme Parteien unter der Führerschaft von Itamar Ben-Gvir. Sowohl Ben-Gvir als auch Bezalel Smotrich, der Chef einer der zwei anderen Parteien, entstammen der religiösen Siedler­bewegung und sind gerichts­notorische Rassisten und Gesetzes­brecher, mit zumindest engen Kontakten zu jüdischen Terroristen.

Ben-Gvir und Smotrich sahen ihre Chance und ergriffen sie. Im Gegensatz zum politischen Establishment, das Netanyahu verprellt hat, sind sie weniger an der Macht als an ihrer Ideologie interessiert. Zu den beiden gesellt sich der Vorsitzende der parlamentarischen Rechts­kommission, Simcha Rothman, auch er ein religiöser Siedler.

Sie wissen, dass ihnen für ihre Pläne nur ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung steht. Israelische Regierungen haben gewöhnlich eine kurze Lebens­dauer, und für diese Regierung ist merkwürdiger­weise die Partei des Premier­ministers die grösste Gefahr. Der Likud ist zwar eine rechts­nationale Kraft, aber er hat sich immer als demokratisch verstanden. Immerhin ist der Likud noch die einzige grössere Partei mit einer inner­parteilichen Demokratie.

Aber der Likud ist in Netanyahus Geiselhaft: Ohne seine messianische Licht­gestalt droht er in der Bedeutungs­losigkeit zu versinken, wie alle anderen traditionellen Parteien. Gleichzeitig ist Netanyahu selbst eine Marionette von Ben-Gvir, Smotrich und Rothman.

Das Triumvirat lässt buchstäblich keinen Tag verstreichen. In atem­beraubendem Tempo peitscht es Gesetz um Gesetz durch die erste Lesung des Parlaments. Das Gesetz, wonach das Parlament mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen die Beschlüsse des obersten Gerichtes rückgängig machen kann, ist zwar zum Symbol des Widerstandes gegen die Regierung geworden, doch daneben gibt es unzählige andere Gesetzes­vorlagen, die in eine der drei folgenden Stossrichtungen gehen:

  1. Abschaffung der Gewaltenteilung.

  2. Abschaffung der Meinungs- und Informations­freiheit sowie weitgehende Kontrolle über die Medien, die Erziehungs- und Kultur­institutionen.

  3. Rückgängig­machung der liberalen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, zum Beispiel Rechte für Frauen und für die LGBTQ*-Community. Hier ist Smotrich mit seiner pathologischen Homophobie federführend.

Seit Jahren bereiten die drei ihre politische Agenda vor, Rothman hat sie in einem Buch sogar öffentlich dargelegt. Das Ziel ist klar: ein religiöses Gross­israel, die Annexion von Judäa und Samaria (ihre Bezeichnung für das besetzte Westjordan­land) und der «Transfer», wie die Vertreibung der Araber seit Jahren euphemistisch genannt wird.

Doch das Errichten einer illiberalen Demokratie nach ungarischem Vorbild ist wahrscheinlich nur die erste Phase, in der es vor allem darum geht, alle Hindernisse für die zweite Phase aus dem Weg zu räumen, für die der Erzfeind Iran das Vorbild ist: Immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens sollen der Halacha, dem jüdischen Gesetz, unterstellt werden. Man darf nicht vergessen, dass das Familien­recht – Eheschliessungen und Scheidungen – schon heute dem rabbinischen Recht untersteht: Eine Christin kann in Israel keinen Juden heiraten. Und am Sabbat gibt es heute schon so gut wie keinen öffentlichen Verkehr.

Frauen beten in der Nähe von Bethlehem am Grab der biblischen Matriarchin Rahel. Das jüdische Heiligtum liegt im Westjordan­land, aber seit 2002 wird es durch die Sperrmauer ins israelische Staatsgebiet integriert. Ofir Berman
Autoreifen im Schlamm auf der palästinensischen Seite der Sperrmauer. Ofir Berman

Einen ersten Versuchs­ballon hat die Regierung bereits gestartet: An diesem Pessachfest soll das Mitnehmen von für Juden während der Festtage verbotenem Brot in Spitäler untersagt werden. Die Sicherheits­beamten haben den Auftrag, in Hand­taschen nach Brot zu suchen. Auch gibt es Gerüchte, Frauen auf gewissen Busstrecken nur noch auf den hinteren Sitzbänken die Fahrt zu erlauben. Falls Sie das für einen schlechten Witz halten: Solche Vorstösse gab es in der Vergangenheit tatsächlich schon. Und ganz am Schluss soll nach der Vorstellung der radikalen Fundamentalisten auf dem Tempelberg der dritte Tempel wieder errichtet werden. Mit den dazugehörigen Tieropfern.

Letzteres Vorhaben werden ironischer­weise die ultra­orthodoxen Parteien verhindern, denn ihrer Ansicht nach darf der dritte Tempel erst nach der Ankunft des Messias gebaut werden.

6. Oktober 1973

Ich erinnere mich noch deutlich an den kerosin­gesättigten, heissen Wüstenwind, der mir entgegenschlug, als ich vor genau fünfzig Jahren aus einer Boeing der El Al stieg. Damals holte mich J. ab, und wir fuhren in einem Sammeltaxi nach Jerusalem, wo wir ein Jahr an einer Talmud­schule verbringen sollten. Wir hatten soeben in Zürich das Gymnasium abgeschlossen und waren noch vor der Maturafeier abgereist, mein Freund ein paar Tage früher als ich. Endlich weit weg von zu Hause!

Fünf Tage später heulten die Sirenen. Der Jom Kippur war diesmal auf einen Samstag gefallen. Die von alten Bäumen und Trocken­mauern umsäumten Strassen Rehavias, des Quartiers, in dem einst der Philosoph Martin Buber in einem der aus Jerusalemer Kalkstein gebauten Häuser wohnte, in unmittelbarer Nachbarschaft von Gershom Scholem, dem grossen Historiker der jüdischen Mystik, waren leer. Dass sich alle an die Regel hielten, an Jom Kippur nicht Auto zu fahren, vermittelte mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. In Zürich musste ich mich immer erklären. Andererseits war ich nicht mehr ausser­gewöhnlich, das fehlte mir ein wenig.

Wir hatten uns, vom Fasten ermüdet, im Schlafsaal hingelegt. Mein Freund war schon eingeschlafen, als die Sirenen erstmals ertönten. Ich dachte zuerst an einen Übungs­alarm, doch das kam mir am höchsten jüdischen Feiertag unwahrscheinlich vor. Auch dass man mit einem Male Autos auf den Strassen fahren hörte, war seltsam. Ich weckte J., es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass etwas geschehen sein musste. Ratlos gingen wir auf die Strasse, um zu erfahren, was es war.

Erst einige Stunden später klärte sich das Bild: Ein Krieg war ausgebrochen, der später Jom-Kippur-Krieg genannt werden sollte. Die ägyptischen Armeen hatten auf Befehl von Anwar al-Sadat den Suezkanal überquert und waren weit in die seit 1967 von den Israelis besetzte Sinai-Halbinsel vorgedrungen. Die als beste Armee der Welt gepriesenen israelischen Streitkräfte waren vollkommen überrascht worden. Niemand hatte mit einem Angriff gerechnet, kein Israeli traute den Ägyptern – oder irgendeiner anderen arabischen Armee – einen Erstschlag zu. Israel war Opfer der eigenen Überheblichkeit geworden.

Kapitulation auf den Golanhöhen: Syrische Soldaten ergeben sich im Oktober 1973 der israelischen Armee im Jom-Kippur-Krieg. GPO/Getty Images
Ikonischer Haudegen: Ariel Sharon führte Israel zum Sieg im Jom-Kippur-Krieg. Government Press Office/AP Photo/Keystone

Zwar konnte Ariel Sharon, der das Kommando putschartig an sich gerissen hatte, die ägyptische Armee letztlich zurück­schlagen, dennoch veränderte der Jom Kippur 1973 alles: Das Volk hatte das Vertrauen in die eigene Unbesiegbarkeit verloren und machte die Regierung dafür verantwortlich. Wir sind nach Israel gekommen, hiess es, um endlich vor Verfolgung geschützt zu sein, und mit einem Male ist Israel das gefährlichste Land für Juden geworden.

Als Folge davon gewann im Jahre 1977 Menachem Begin von der oppositionellen Herut-Partei die Wahlen gegen den amtierenden Premier­minister Yitzhak Rabin. Wenn nicht einmal der Held des Unabhängigkeits- und des Sechstage­krieges 1967 das Land beschützen konnte, musste sich etwas Grundsätzliches ändern.

Diese Wahlen nahmen nicht nur der regierenden Arbeiter­partei Mapai die Macht, die sie seit der Staats­gründung 1948 unangefochten innehatte; sie liessen auch das zionistische Narrativ, dass Israel in alle Zukunft die Sicherheit des jüdischen Volkes garantieren würde, zur Makulatur werden.

14. Mai 1948

Mit einigen wenigen Ausnahmen setzte sich die gesamte Führung der Mapai, der bis dahin regierenden Labour Party, aus osteuropäischen Einwanderern zusammen, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Israel gekommen waren – und aus ihren Nachkommen. Zwar trieben damals antisemitische Verfolgungen, wie der berüchtigte Pogrom von Kischinew von 1903 (heute: Chisinau, Moldau) – der auch meine Grossmutter in die Emigration zwang –, und die bittere Armut die osteuropäischen Juden zur Auswanderung nach Palästina. Aber im Kern war ihre Motivation ideologisch: Die sozialistischen Zionisten waren überzeugt, dass Juden zur bevor­stehenden Revolution nur beitragen können, wenn sie in die Klasse der Bauern und Arbeiter integriert wären.

Weil sie weder in der Landwirtschaft noch im erst allmählich entstehenden Proletariat verankert waren, brauchte es zunächst jedoch das, was der zionistische Sozialist Ber Borochov (1881–1917) die «Umkehrung der Pyramide» nannte: Statt aus vielen Intellektuellen und wenigen Bauern würde sich das jüdische Volk künftig aus vielen Bauern (und Arbeitern, aber die spielten eine sekundäre Rolle) und wenigen Intellektuellen zusammen­setzen müssen. Darin, dass die «Normalisierung» die vordringlichste aller Aufgaben war, waren sich die säkularen Juden einig – Uneinigkeit herrschte lediglich darüber, ob dies in den osteuropäischen Ländern selbst möglich war oder ob es zur Normalisierung einen eigenen Staat mit eigenem Land brauchte.

Das Konzept der Normalisierung, das sich in beinahe allen zionistischen Schriften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet, betraf jedoch kaum den Aufbau staatlicher Strukturen, es ging immer nur um das Bebauen von eigenem Land. Die Juden müssen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, war der zentrale zionistische Gedanke bei der Staats­gründung, und dies bedeutete, die Wüste fruchtbar zu machen und die Sümpfe trockenzulegen.

Durch den Holocaust rückte nach dem Zweiten Weltkrieg dann die Idee eines Staates als eines sicheren Hafens für das jüdische Volk in den Vordergrund. Israel sollte gemäss dem Selbst­verständnis seiner Gründer ein normaler und sicherer laizistischer Staat nach dem Muster westeuropäischer Demokratien werden – mit dem einzigen Unterschied, dass Juden endlich über ihr eigenes Schicksal bestimmen können. Im besten Falle könnte Israel sogar zur Avantgarde werden, zu einer sozialistischen Muster­demokratie. Der Kibbuz war dafür das leuchtende Beispiel.

Zwischen Realität und Ideologie bestand von Anfang an eine riesige Kluft. Doch anders als in der DDR war die offizielle Ideologie nicht reine Propaganda, die von allen durchschaut, belächelt oder gefürchtet wurde. Ich bin fest davon überzeugt, dass sowohl das Volk als auch die Macht­haber ihre eigenen Mythen glaubten. Und selbst­verständlich auch die Jüdinnen der Diaspora.

Die Widersprüche, die sich daraus ergaben, wurden schlicht verleugnet beziehungs­weise vertagt. Seit der Staats­gründung werden in Israel Probleme und Konflikte systematisch in der magischen Hoffnung auf die lange Bank geschoben, irgendwann würden sie sich von selbst lösen oder die Menschen würden sich an den Status quo gewöhnen. So war es nach 1967 mit den besetzten Gebieten, so war es während der Oslo-Verhandlungen, wo wichtige Probleme wie der Status von Jerusalem einfach von der Traktanden­liste gestrichen wurden. Doch nie hat sich etwas von selbst gelöst, im Gegenteil, irgendwann war es für jede Lösung zu spät.

Die palästinensische Siedlung Hizma liegt im Gouvernement Jerusalem, ist von der Stadt aber abgeschottet. Ofir Berman

Die Wahlerfolge Netanyahus sind wesentlich seinem Versprechen zu verdanken, dass sich unter ihm nichts ändern werde. Für eine Demokratie ist das ein fatales Versprechen, dennoch schwemmte letztlich der von der grossen Mehrheit geteilte Glaube daran, dass sich irgendwann alles von selbst lösen werde, Netanyahu an die Macht.

So verschloss man vor dem gemäss all meinen Gesprächs­partnern entscheidenden Widerspruch zwischen einem primär demokratischen und einem primär jüdischen Staat die Augen, indem man auf eine Verfassung schlicht verzichtete. Solange die Demografie Israels einen jüdischen Wahlsieg garantierte und solange die militärische Überlegenheit gewährleistet war, konnte die Kluft zwischen der Realität und der Ideologie geleugnet werden. Die erste Voraussetzung brach 1967 nach der Besetzung von Gebieten durch den Sechstagekrieg, die zweite 1973 durch den Jom-Kippur-Krieg in sich zusammen. Und das Fehlen einer Verfassung rächt sich heute.

5. Juni 1967

Die Euphorie war nicht nur in der zionistischen Jugend­bewegung unbeschreiblich, als die israelische Luftwaffe am Montag, dem 5. Juni 1967, beinahe alle ägyptischen Flugzeuge und die gesamte Luftabwehr am Boden vernichtet hatte, bevor sie überhaupt in die Kampf­handlungen eingreifen konnten. Zuvor hatte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser die Strasse von Tiran an der Südspitze der Sinai-Halbinsel blockiert und Israel von der lebens­notwendigen Versorgung über den Hafen von Eilat abgeschnitten. Zudem hatte er 100’000 Soldaten an der Grenze zu Israel aufmarschieren und die seit 1956 im Sinai stationierten Uno-Truppen aus dem Land jagen lassen.

Am Dienstag, dem Tag nach dem Erstschlag, stiessen die israelischen Truppen in den Sinai vor. Bilder von Schuhen, welche die ägyptischen Soldaten auf der Flucht aus religiösen Gründen ausgezogen hatten, gingen um die Welt, der Stolz kippte rasch in rassistische Überlegenheits­gefühle.

Durch Beistandspakte verpflichtet, griffen Jordanien und Syrien in den Krieg ein, sodass Israel einen Dreifronten­krieg führen musste. Am Ende der Woche hatte Israel den Gazastreifen, den Sinai, das Westjordan­land, die Golan­höhen und vor allem Ostjerusalem eingenommen. Die einzelnen Schritte, die zu diesem Krieg geführt haben, sind weniger wichtig als seine Folgen: «Für das, was in der Folge geschah, war die Eroberung der Klage­mauer und des Tempel­berges entscheidender als die Eroberung der Westbank, weil sie die messianische Fantasie beflügelte, den 70 nach Christus von den Römern zerstörten Tempel wieder errichten zu können», behauptet Menachem Fisch, ein emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tel Aviv.

Am 11. Juni 1967 wurde ein Waffenstillstands­abkommen unterzeichnet.

Kaum jemand zog damals das offizielle Bild in Zweifel, der israelische Angriff sei ein überlebens­notwendiger und mustergültig vorbereiteter Präventiv­schlag des einzigen demokratischen Staates des Nahen Ostens gewesen. Wir wussten nichts davon, dass Ägypten gar nicht in der Lage gewesen wäre, einen Krieg zu beginnen, weil die wichtigsten Truppen in einem Bürgerkrieg in Südjemen gebunden waren. Wir wussten nicht, dass die Spannungen mit den arabischen Staaten etwas mit dem Wasser zu tun hatten, das Israel seit 1964 seinen Nachbarn abgrub. Wir wussten auch nicht, dass die israelischen Araber bis 1966, nur ein Jahr vor dem Sechstage­krieg also, unter Militär­verwaltung standen und selbst für eine Reise ins Nachbar­dorf eine Erlaubnis des Militär­gouverneurs brauchten.

All das wussten wir nicht, all das tauchte in keiner Erzählung auf. In Israel selbst hat sich daran bis heute kaum etwas geändert. Wer solche Fakten erwähnt, gilt schnell als Verräter.

Der Sechstage­krieg war zugleich die endgültige Bestätigung des Normalisierungs­narrativs wie auch sein Ende: Wir sind nicht mehr das Volk, das sich wie Lämmer zur Schlacht­bank führen lässt, hiess es nun, wir sind nun endlich, nach zweitausend Jahren, ein normales Volk mit einem unabhängigen Staat und einem schlagkräftigen Militär. Wir sind vielleicht sogar ein wenig besser als normal.

Im Siegestaumel erkannten damals nur ganz wenige, dass die Utopie eines jüdisch-demokratischen Staates mit einer zusätzlichen Million Araber unter israelischer Herrschaft in noch weitere Ferne gerückt war. Würde man ihnen alle Bürger­rechte geben, wäre es endgültig vorbei mit dem jüdischen Staat, würde man das Besatzungs­regime aufrecht­erhalten, wäre es um die Demokratie geschehen.

Ein Name taucht in meinen Gesprächen immer wieder auf: Jeschajahu Leibowitz (1903–1994). Ich erinnere mich noch gut, wie ich fast zwanghaft auf die Haare starren musste, die büschel­weise aus der Nase und den Ohren dieses hageren, nach vorn gebeugten Mannes wuchsen. Während fast eines Jahres besuchten wir jeden Sonntag­abend sein Seminar über den «Führer der Verwirrten», ein Werk des mittel­alterlichen jüdischen Aristotelikers Maimonides. Einmal gelang es uns sogar, in Leibowitz’ Wohnung an der Ussishkinstrasse eingeladen zu werden. Damals prophezeite uns dieses tiefreligiöse Universal­genie – er studierte und/oder unterrichtete Chemie, Biochemie, Medizin, Neuro­physiologie, Wissenschafts­theorie und Philosophie – mit der grimmigen Miene eines alt­testamentarischen Propheten, was auf Israel zukommen werde, wenn es nicht gelänge, a) Staat und Religion strikt zu trennen und b) die besetzten Gebiete loszuwerden: Dann steuere Israel auf einen faschistischen Staat zu. Das waren seine exakten Worte.

Religiöser Universal­gelehrter: Jeschajahu Leibowitz (1903–1994). Bracha L. Ettinger/Wikimedia

Niemand weiss heute, wie ernst es damals der israelischen Regierung mit ihrer offiziellen Haltung war, die besetzten Gebiete – ohne Ostjerusalem wohlverstanden – rasch zurück­zugeben. Es war ohnehin unklar, wem das Westjordan­land zurück­gegeben werden soll – dem ehemaligen «Besitzer», das heisst dem König von Jordanien, oder den Palästinensern selbst?

Ich nehme an, dass die Regierung tatsächlich bereit war, einen Grossteil der eroberten Territorien zurück­zugeben unter der Bedingung, dass die Sicherheit Israels für immer gewährleistet werde. Konkret hätte dies geheissen, dass eine breite demilitarisierte Zone auf den Golanhöhen und im Westjordan­land eingerichtet wird. Über Ostjerusalem wollte man erst gar nicht verhandeln.

Jedenfalls zeigte sich erneut, wie wenig israelische Politiker ihre Umgebung verstehen, was wohl auch mit einem tief verinnerlichten eurozentrischen Rassismus zu tun hat. Ich erinnere mich noch gut an die Presse­berichte über den Zuwachs an Kühl­schränken im Westjordan­land. Man glaubte allen Ernstes, die palästinensische Bevölkerung würde sich wegen ein paar Kühl­schränken im Lauf der Zeit mit der Besatzung abfinden und die arabische Welt würde auf eine ihrer heiligsten Stätten verzichten.

Darüber hinaus erwies sich nach 1967 auch, wie stark die israelische Politik nach dem Prinzip des magischen Denkens funktioniert: Wenn wir es uns nur fest genug wünschen, löst sich mit Gottes Hilfe der demografische Widerspruch irgendwann von selbst auf.

Eine erste Ernüchterung folgte allerdings auf dem Fuss. Im September desselben Jahres wurden am Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Khartum die drei Nein beschlossen: Nein zu Verhandlungen, Nein zur Anerkennung Israels und Nein zum Frieden. Dessen ungeachtet wurde damals ein Motto der israelischen Politik geboren, das sich als fatale Illusion erweisen sollte: «Land gegen Frieden».

15. August 2005

An diesem Montag im August 2005 gab Premier­minister Ariel «Arik» Sharon dem israelischen Militär den Befehl, die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen. Sharon war nicht irgendwer, er war der Held von 1973, er hatte 1982 als Verteidigungs­minister das Massaker von Sabra und Shatila zu verantworten, auf das wir noch zu sprechen kommen werden; er war damals der einzige hohe Offizier, der sich nicht der Arbeits­partei anschloss, sondern der rechten Herut. Er besass eine riesige Farm in der Nähe des Gazastreifens, und er war ein vollkommen rücksichtsloser, moralfreier Haudegen, der glaubte, alle Probleme militärisch lösen zu können.

Umso bemerkenswerter, dass gerade Sharon, der bestimmt kein Gegner der Siedler war, zur Einsicht kam, dass sich die Besatzung des Gazastreifens nicht aufrecht­erhalten liess. Sein Kalkül: Mit der Rückgabe befriedet man die Südfront und verstetigt deshalb die Besatzung des Westjordan­landes. Auch diesmal kam ihm seine Rücksichts­losigkeit entgegen. Die Siedler, die aus dem Westjordan­land in den Gazastreifen fuhren, um der Armee die Räumung zu verunmöglichen, beeindruckten ihn ebenso wenig wie die Warnungen besonnener Politiker, den Gazastreifen auf keinen Fall ohne vorgängige Absprachen mit den palästinensischen Behörden zurück­zugeben. Die Verhandlungen von Oslo, auch die werden noch Thema, hatten immerhin eine palästinensische Autonomie­behörde geschaffen, die unter der Führung der PLO in Ramallah residierte.

Offener Ausgang: Die Proteste gegen die Justizreform halten an. Ofir Berman

Doch Sharon erwies sich einmal mehr als beratungs­resistent, und so kam es zur doppelten Katastrophe. Zum einen übernahm statt der verhandlungs­bereiten PLO die radikal-islamistische Hamas die Macht im Gazastreifen, die sich seither rühmen kann, die einzige palästinensische Gruppierung zu sein, die Israelis je vertreiben konnte. Mit ihren Raketen, die sie immer wieder auf Südisrael abfeuern, provozieren sie in regelmässigen Abständen israelische Invasionen, um dieses Narrativ und damit ihre Macht aufrecht­zuerhalten. Jedes Mal, wenn die Israelis nach einer Invasion den Gazastreifen wieder verlassen müssen, feiert die Hamas einen kleinen Sieg. Netanyahu war übrigens während seiner früheren Amts­perioden der Einzige, der dieses Spiel durchschaute und Invasionen zu verhindern suchte.

Gaza wurde durch die Rückgabe zum grössten Freiluft­gefängnis der Welt, beherrscht von brutalen, korrupten und frauen­feindlichen Kapos, Hamas genannt. Für die israelische Seite waren die Folgen der Rückgabe langfristig möglicher­weise noch gravierender: Das Motto «Land gegen Frieden» war endgültig passé, und die israelische Linke wurde ihrer politischen Position beraubt.

Heute glaubt niemand mehr daran, dass durch die Rückgabe der besetzten Gebiete Frieden erreicht werden kann. Die Linke ist in der Bedeutungs­losigkeit versunken, und die kläglichen Überreste der einst mächtigen Arbeits­partei verlieren vor Wahlen kein Wort mehr über die Besatzung. Damit ist der Weg für die religiöse Rechte endgültig freigeräumt worden. Diese sieht inzwischen auch ein, dass es ein strategischer Fehler gewesen ist, die Armee den Säkularen zu überlassen. Zunehmend haben Siedler begonnen, Offiziers­karrieren anzustreben. Es ist fraglich, ob die Armee einem zukünftigen Befehl, jüdische Siedlungen zu räumen, überhaupt noch nachkommen würde.

Der dramatische Niedergang der linken oder auch nur liberalen Kräfte setzte allerdings bereits im Jahr 2000 ein, und wieder spielte Ariel Sharon eine fatale Rolle.