Geheimloge P2: Italiens grösster Skandal ist nicht aufgearbeitet
Published by The Internett,
Vor 40 Jahren flog in Italien die mysteriöse Geheimloge P2 auf – der Skandal wurde bis heute nicht richtig aufgearbeitet
Durch Zufall deckten Mailänder Steuerfahnder 1981 die grösste Verschwörung in der Geschichte Italiens auf. Beteiligt waren Minister, Generäle und Richter. Sie planten erst einen Coup, begnügten sich dann aber damit, die Demokratie zu untergraben.
Licio Gelli wurde 1975 «Ehrwürdiger Meister» der P2 – diese Fotos von ihm wurden 1981 an einer Pressekonferenz gezeigt.
Begonnen hatte alles mit einer Strafuntersuchung im Zusammenhang mit dem Kollaps des Finanzimperiums von Michele Sindona. Der mit der Liquidation beauftragte Anwalt wurde ermordet, und der sizilianische Banker versuchte, die eigene Entführung durch linke Terroristen vorzutäuschen, während er sich unter dem Schutz der Mafia versteckte.
Im Laufe der Untersuchung tauchte wiederholt der Name Licio Gelli auf, und die zuständigen Mailänder Richter ordneten eine Durchsuchung von dessen Residenz und einer Textilfirma in der Toskana an. Dabei entdeckten Agenten der Finanzpolizei am 17. März 1981 in einem Koffer neben anderen brisanten Unterlagen ein Register, auf dem 962 Namen standen. Es wurde schnell klar, dass es sich dabei um die Mitgliederliste der sagenumwobenen Geheimloge Propaganda Due (P2) handelte, eines okkulten Ausläufers der jahrhundertealten Freimaurerloge Grande Oriente d’Italia.
Weite Kreise der angeblich guten Gesellschaft beteiligt
Es war der grösste Skandal in der Geschichte Italiens. Die Liste war ein «Who’s who» der angeblich guten Gesellschaft: 44 Parlamentarier standen darauf, 3 Minister, 5 Staatssekretäre, zahlreiche hohe Parteifunktionäre und Beamte, Dutzende Generäle und andere hohe Militärs, die Spitzen der Geheimdienste und der Finanzpolizei, mehrere Diplomaten, Richter und Staatsanwälte, einflussreiche Journalisten, Verleger und diverse Unternehmer, unter ihnen Silvio Berlusconi.
Gelli scherzte später einmal in einem Interview, seiner Loge sei niemand aus Karrieregründen beigetreten, denn ihre Mitglieder hätten längst Karriere gemacht. Zur Anziehungskraft der Vereinigung trug aber ganz klar bei, dass man sich Posten, Aufträge und andere Gefälligkeiten im auserwählten Kreis zuschob. So wurde etwa auch Berlusconis Aufstieg zum Medienmogul und Regierungschef durch Spezis aus der P2 unterstützt.
Vertuschungsversuche durch den Regierungschef
Die Untersuchungsrichter Gherardo Colombo und Giuliano Turone wandten sich mit dem explosiven Material an Ministerpräsident Arnaldo Forlani. Da auch dessen Sekretär, der Justizminister und andere Kabinettskollegen der Loge angehörten, unternahm der Regierungschef aber erst einmal gar nichts. Auch in den Medien stiess die Affäre anfangs auf wenig Interesse. Die Mailänder Richter wurden von ihren Vorgesetzten gedrängt, die Untersuchung fallenzulassen.
Auf Druck des Parlaments sah sich Forlani am 20. Mai 1981 aber doch gezwungen, die Liste zu publizieren. Plötzlich war vom «Skandal der Skandale» die Rede, und Forlani musste wegen seiner Vertuschungsversuche am 26. Mai den Rücktritt einreichen.
Arnaldo Forlani, 1977.
Mit Giovanni Spadolini wurde Ende Juni erstmals ein Politiker Regierungschef, der nicht aus dem Dunstkreis der allmächtigen Christlichdemokraten stammte. Der Linksliberale versuchte, die Einflussnahme der sogenannten P2isten zu brechen, wurde von diesen aber schnell zu Fall gebracht. Im August 1983 kam dann die erste Regierung des Sozialisten Bettino Craxi an die Macht. Forlani wurde stellvertretender Regierungschef, und Logenbrüder übernahmen wieder wichtige politische Positionen.
Gerichtliche Aufarbeitung torpediert
Das ganze Ausmass der Verschwörung ist bis heute nicht bekannt. Da die Beteiligten an wichtigen Schaltstellen sassen, gelang es ihnen, sowohl die politische als auch die juristische Aufarbeitung zu torpedieren. Untersuchungen im Verwaltungsapparat und im Verteidigungsministerium kamen zu dem verwunderlichen Schluss, dass die Liste nicht glaubhaft sei. Die Staatsanwaltschaft in Rom entzog den Mailändern die Untersuchung mit dem Argument, dass es sich um eine Verschwörung gegen den Staat und damit um einen Fall von nationaler Bedeutung handle. Sobald Rom dann aber für die Untersuchung zuständig war, versandete diese.
Mit der politischen Aufarbeitung der Affäre wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission unter Führung der Christlichdemokratin Tina Anselmi betraut. Im Juli 1984 legte sie einen umfassenden Schlussbericht vor. Darin war von einer «weitverzweigten Organisation» die Rede, die wie ein «Staat im Staat» funktionierte und «auf berechnende und massive Art die zivilen und militärischen Entscheidungszentren infiltrierte», mit dem Ziel, «die Demokratie von innen auszuhöhlen».
Auch die entmachteten Mailänder Richter Colombo und Turone bezeichnen die P2 als ausgeklügelten Mechanismus, der es bestimmten Gruppen ermöglichte, wichtige politische Fragen und wirtschaftliche Deals über unsichtbare und damit höchst undemokratische Kanäle zu entscheiden. Die Sicherheitskräfte seien damals in zwei Lager gespalten gewesen, eines habe der Republik die Treue gehalten, das andere der P2.
Der Untersuchungsrichter Giuliano Turone bei der Präsentation seines Buches «Italia Occulta» 2019.
Mit der «Legge Anselmi» wurde die P2 1982 offiziell aufgelöst. Ihr Besitz sollte konfisziert und die Beteiligten sollten bestraft werden. In der Praxis geschah aber kaum etwas. Erst 1985 rollte die Römer Untersuchungsrichterin Elisabetta Cesqui den Fall nochmals auf. Wie alle, die sich um Aufklärung bemühten, wurde auch sie hinter den Kulissen an der Arbeit gehindert und eingeschüchtert. Der Prozess begann 1992 und endete zwei Jahre später mit einem fragwürdigen Freispruch für alle Verdächtigen in den Hauptanklagepunkten.
Cesquis Untersuchung hat jedoch interessante Fakten ans Licht gebracht, und in den letzten Jahrzehnten sind in kleineren Nebenprozessen immer neue Zusammenhänge bekanntgeworden. Wer will, kann sich heute ein ziemlich genaues Bild von den Machenschaften der P2 machen. In Schulbüchern und offiziellen Debatten kommt das dunkle Geschichtskapitel allerdings kaum vor.
Italiens ehemaliger Präsident Carlo Azeglio Ciampi sagte 2013 in einem Interview: «In Italien hat man der P2 nie genügend Bedeutung beigemessen . . . Hinter den Kulissen hat sie die staatlichen Institutionen weiter verseucht. Dass wir das Krebsgeschwür nie vollständig beseitigt haben, gibt Anlass zu grosser Sorge.»
Eine Folge des Kalten Krieges
Das Phänomen der P2 muss im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg gesehen werden. Italien gehörte zu den Mitbegründern der Nato und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und war für die Westmächte wegen seiner Nähe zum Eisernen Vorhang ein essenzieller Verbündeter.
Nach 1945 regierten in Rom zwar jahrzehntelang die Christlichdemokraten, die Kommunisten waren mit rund 30 Prozent Stimmenanteil aber so stark wie nirgendwo sonst in Europa. Und obwohl der Partito Comunista Italiano massgeblich an der Ausarbeitung der republikanischen Verfassung von 1948 beteiligt war und sich klar vom Kommunismus sowjetischer Prägung distanzierte, verteufelten ihn rechte Kreise als Staatsfeind. Auch die verbündeten USA taten alles in ihrer Macht Stehende, um eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten zu verhindern, weil sie einen Dominoeffekt befürchteten.
1950 gründete Italiens Militärgeheimdienst zusammen mit der CIA die geheime paramilitärische Einheit Gladio für den Fall einer Invasion durch Truppen des Warschauer Paktes. Die Einheit versuchte gleichzeitig aber auch mit höchst fragwürdigen Mitteln, den politischen Einfluss der Kommunisten einzudämmen. Die P2 verfolgte dasselbe Ziel, um die Privilegien der Elite und den konservativen Charakter des Landes zu bewahren. Zwischen den beiden Organisationen gab es viele personelle Überschneidungen. Bis 1974 liebäugelten die «P2isten» gar mit einem Staatsstreich, später konzentrierten sie sich dann auf die Schwächung des demokratischen Systems von innen heraus.
Beteiligt an Terror und politischen Morden
Die Annäherung von Christlichdemokraten und Kommunisten unter Aldo Moro und Enrico Berlinguer Mitte der siebziger Jahre beobachteten diese Kreise misstrauisch. Als die Kommunisten im März 1978 erstmals an einer Regierung der nationalen Solidarität beteiligt werden sollten, wurde Moro von den linksextremistischen Roten Brigaden entführt und nach 55-tägiger Geiselhaft ermordet.
Laut Colombo und Turone hatte die P2 dabei ihre Finger im Spiel. Im Krisenstab der Sicherheitskräfte, der sich für die Befreiung des Spitzenpolitikers hätte einsetzen sollen, hätten fast ausschliesslich Logenbrüder gesessen, die kein Interesse an dessen Freilassung hatten, lautete das Urteil der Untersuchungsrichter.
Auch die Journalistin Sandra Bonsanti, die sich seit über vierzig Jahren mit dem Treiben der P2 beschäftigt, ist überzeugt, dass es vielen einflussreichen Leuten recht war, dass der um politische Versöhnung und soziale Integration bemühte Moro nicht befreit wurde. In einem Interview mit der «Repubblica» äussert sie die Vermutung, dass auch andere, die sich gegen das «verschwörerische Netz» gestellt hätten, wie etwa der Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa oder der Regionalpolitiker Piersanti Mattarella, beseitigt worden seien.
Die wachsende Polarisierung forderte einen hohen Preis. Zwischen 1969 und 1983 überzogen die linksextremen Roten Brigaden und neofaschistische Extremisten Italien mit einer Serie von Terroranschlägen. Tausende von Attentaten wurden während der sogenannten bleiernen Jahre im Land verübt. Sie forderten fast 400 Todesopfer und über 1000 Verletzte.
Mitglieder der P2 aus dem Sicherheitsapparat behinderten die Aufklärung von Anschlägen. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass Geheimdienstler, Carabinieri und Finanzpolizisten am schwarzen Terror beteiligt waren. Laut der Anselmi-Kommission waren Logenbrüder in den Anschlag auf den Italicus-Express zwischen Rom und München 1974 verwickelt, der 12 Todesopfer forderte. Neuere Untersuchungen kommen ausserdem zu dem Schluss, dass der Logenchef einer der Auftraggeber des Attentats auf den Bahnhof von Bologna 1980 gewesen war, bei dem 85 Personen ums Leben kamen.
Beim Anschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980 kamen 85 Personen ums Leben.
Gute Beziehungen zur Mafia
Logenbrüder pflegten auch gute Beziehungen zur organisierten Kriminalität, insbesondere zur damals mächtigen sizilianischen Cosa Nostra. Um wichtige staatliche Stellen mit Getreuen zu besetzen, brauchte man Bestechungsgeld. Die Mafia wiederum hatte Interesse daran, mit Drogengeschäften erwirtschaftete Schwarzgelder zu waschen.
Dabei half auch der Vatikan. Eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Machenschaften der P2 spielte die Mailänder Bank Ambrosiano, deren Hauptaktionärin die Vatikanbank war. Sie hatte über 200 Geisterbanken gegründet, um illegale Transaktionen zu verschleiern. Eine Schlüsselrolle spielte dabei eine Bank auf den Bahamas, über die Kokaingelder aus Lateinamerika in legale Finanzmärkte eingeschleust wurden. Die Sache geriet jedoch ausser Kontrolle. Es entstand ein milliardenschweres Finanzloch, und 1982 ging die Ambrosiano bankrott.
Licio Gelli – vom glühenden Faschisten zum Logenchef
Einer der Hauptverantwortlichen tauchte unter und wurde kurz darauf in London ermordet. Während der Ermittlungen kamen auch fünf Polizisten ums Leben. Neben mehreren Bankern wurde auch Licio Gelli in dem Fall gesucht. Er wurde in Genf festgenommen, entkam im folgenden Jahr aber aus Schweizer Haft und tauchte in Südamerika unter. 1987 kehrte er in die Heimat zurück und wurde 1994 wegen Betrugs im Zusammenhang mit dem Ambrosiano-Bankrott zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er entkam erneut und wurde später an der französischen Riviera verhaftet.
In jungen Jahren hatte sich der Toskaner Mussolinis Schwarzhemden angeschlossen und als Verbindungsoffizier des faschistischen Regimes für dessen Kontakte zu den Nationalsozialisten gedient. 1963 wurde Gelli Freimaurer und arbeitete sich innerhalb der Organisation schnell hoch. Er rekrutierte einflussreiche Persönlichkeiten als Mitglieder, indem er ihnen schmeichelte, sie bestach oder mit brisanten Informationen erpresste. 1975 wurde er «Ehrwürdiger Meister» der P2.
Gegen Gelli wurde wegen Mordes, Terrorismus und Verschwörung ermittelt. Rechtskräftig verurteilt wurde er aber nur wegen betrügerischen Bankrotts, der illegalen Beschaffung von Staatsgeheimnissen, der Verleumdung von Richtern und der Irreführung der Ermittlungen nach dem Anschlag in Bologna. Für seine Rolle als Chef der P2 wurde er nie zur Rechenschaft gezogen. Es kursierten Gerüchte, dass Gelli unantastbar gewesen sei, weil er über Dokumente verfügt habe, deren Publikation einflussreiche Leute in Verlegenheit gebracht hätte. Die letzten Lebensjahre verbrachte er mit seiner fast 40 Jahre jüngeren zweiten Ehefrau in lockerem Hausarrest in seiner Villa bei Arezzo, wo er 2015 im Alter von 96 Jahren verstarb.
Der Logenchef Licio Gelli vor seiner Villa Wanda in Arezzo.
Die meisten kamen ungeschoren davon
Die meisten P2-Mitglieder kamen ungeschoren davon. Sie stritten ihre Zugehörigkeit zur Loge ab oder färbten diese als harmlosen Treffpunkt für Geschäftsleute schön. Das Beziehungsnetz der P2 bestimmte die Geschicke der Republik jahrzehntelang weiter.
«Es wäre ein grosser Fehler, die P2 als eine lästige Episode der Vergangenheit abzutun. Sie sind noch alle da», schreibt Sandra Bonsanti in dem in diesen Tagen erschienenen Buch «Colpevoli» (Schuldige). Wie die meisten Experten ist sie der Ansicht, dass die vor vierzig Jahren entdeckte Liste unvollständig war. Die Journalistin ist gar überzeugt, dass Gelli nicht der Chef, sondern einer der Chefs der P2 war und Giulio Andreotti, der langjährige politische Strippenzieher und Regierungschef, im Hintergrund die Fäden zog. Ohne eine glaubwürdige Bewältigung der Vergangenheit werde in Italien keine gesunde Demokratie entstehen können, schreibt Bonsanti. «Hätten wir unsere Geschichte aufgearbeitet, hätten wir auch Geheimbünde, Mafia und Faschisten endgültig besiegt. Doch unser Gedächtnis ist kurz.»