Dry Aged: Ursachen der Krise - Spektrum der Wissenschaft
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Dry Aged: Ursachen der Krise
Dry Aged Ursachen der Krise
SIND DAS DIE HORMONE …?
Während bei Frauen ab 40 die hormonellen Veränderungen oft tatsächlich ein Grund für Stimmungsschwankungen sind, scheint bei Männern die sinkende Testosteronproduktion eine weitaus geringere Rolle zu spielen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen bleibt der Testosteronspiegel des Mannes nach der Pubertät sogar bis ins hohe Alter in etwa gleich hoch.
Allerdings gibt es Faktoren, die die Wirkung des Testosterons verringern können. Viszerales Fett, also Bauchfett zwischen den Organen, das durchaus auch schlanke Männer mit sich herumschleppen können, hat viele unangenehme Begleiterscheinungen. Unter anderem wandelt es Testosteron in Östrogen um. Außerdem kann das bei Stress ausgeschüttete Hormon Cortisol die Andockstellen des Testosterons im Gehirn blockieren.
… ODER WAS?
Wenn also die Hormone nicht schuld sind an der Midlife-Crisis oder zumindest nicht allein, wo liegen dann weitere Ursachen?
Ein Punkt fällt auf: Ein großer Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht in der differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit der Gefühle. Sozialisationsbedingt haben Männer in der Regel einen schlechteren Zugang zu ihren Gefühlen als Frauen. Zumeist liegt das an ihrer Erziehung und an der Gesellschaft, die einige Gefühle bei Männern als irritierend empfindet und als Schwäche verurteilt. Über die Ursachen und die Folgen werden Sie gleich mehr erfahren. Und auch wenn einige Ereignisse und Beschreibungen in diesem Buch ebenfalls für Frauen dieser Generation gelten, so ist doch der gefühlsmäßige Umgang damit in der Regel ein anderer.
Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich als zertifizierte Business-Coach und -Trainerin. Männer von 40 plus gehören seit Jahren zu meinen häufigsten Klienten und sind inzwischen zu meinen Lieblingskunden geworden. Wenn diese Männer die 50 bereits überschritten haben, höre ich häufig schon früh den Satz »Ich hätte schon vor zehn Jahren kommen sollen«.
Ich begann mich zu fragen: Was war denn vor zehn Jahren, als diese Männer etwa 40 Jahre alt waren? Und: Kann ich die Männer, die erst sehr spät oder gar nicht den Weg in ein Coaching finden, dennoch mit meinen Erfahrungen unterstützen? So entstand die Idee für dieses Buch.
WANN IST DER MANN EIN MANN? – GENDERING
Die Rollen der Geschlechter sind zwar im Wandel, aber in den 1960er- und 1970er-Jahren war diese Entwicklung gerade erst in ihren zarten Anfängen. Wollte eine Frau arbeiten, musste ihr Ehemann dies erlauben. Erst 1977 wurde das entsprechende Gesetz geändert. Im Umkehrschluss wurden Sie als Mann von heute 40 plus in ein patriarchalisches Weltbild geboren.
Schaut man sich einmal die Geschlechterrollen und -charaktere an, wie sie in deutschsprachigen Lexika des 18. Jahrhunderts beschrieben sind, sieht man eine ganz klare Polarisierung (siehe Abbildung 2, in dieser Leseprobe nicht enthalten).
Nach den beiden Weltkriegen folgte mit den 1950er- und 1960er-Jahren eine »Epoche mit hoher Aufladung geschlechtsspezifischer Leitbilder, in der Regel interpretiert als Reetablierung jener Ordnung, die durch die Kriegsjahre und die Integration von Frauen in Bereiche vormals männlicher Berufsfelder außer Kraft gesetzt war«. Mit anderen Worten: Die Trümmerfrauen sollten »zurück an den Herd«. Und für die zum Teil kriegstraumatisierten Männer galt es, nun wieder der Ernährer der Familie zu sein und Stärke zu zeigen. Gefühle, die mit Kriegstraumata verbunden waren, wie Angst und Schwäche, mussten so weit wie möglich verdrängt werden. Das mag auch ein Grund dafür sein, warum so wenige Männer mit ihren Familien über ihre Kriegserfahrungen sprachen.
Die alte Rollenverteilung klingt vordergründig prima für den Mann – er ist der Herr im Haus und im Leben, sein Wort gilt. Da gibt es keine Widerrede. Aber sie fordert auch Opfer. Wo der Frau Liebe und Güte zugeordnet wird, steht beim Mann Gewalt. Die Emotionen waren generell der Rolle der Frau zugeordnet, der Mann hatte vernünftig, stark, tapfer und kühn zu sein. Und das von klein auf bis ins hohe Alter.
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Von 1958 bis 1977 galt mit dem Paragrafen 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: »Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.« Für die Frau standen also die Pflichten in Ehe und Haushalt ganz klar an erster Stelle. Dazu gehörte natürlich auch die Erziehung der Kinder. Für den kleinen Jungen war die Rolle der Frau also klar definiert: Die Mutter war die häusliche, nährende, liebende und gefühlvolle Person.
War eine Frau erwerbstätig, vielleicht sogar notgedrungen, dann zumeist in eher weiblich definierten Berufen. Bis heute stellen Frauen den größten Anteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen. Arzthelfer und Erzieher sind noch immer zu 90 Prozent Frauen. Bis heute nennen Mädchen, nach ihren Berufswünschen gefragt, Berufe wie Tierärztin, Lehrerin, Erzieherin, Krankenpflegerin und Prinzessin, während bei Jungen noch immer Berufe wie Polizist, Pilot, Feuerwehrmann, Fußballer und Astronaut der Renner sind. Kleine Mädchen wollen offenbar etwas Gutes tun, während kleine Jungen auf Abenteuer aus sind.
In dieser patriarchalisch geprägten Umwelt passiert nun etwas mit dem kleinen Jungen. Nach und nach entfremdet er sich von seinen Gefühlen. Der Psychologe Björn Süfke sieht drei Ursachen dafür: das »Gendering«, »die mangelnde Spiegelung von Gefühlen« und die »Umwegidentifikation«.
Dem Gendering haben wir uns gerade gewidmet. Es bezeichnet die gesellschaftlichen Prozesse der sozialen Konstruktion unterschiedlicher Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit und all die Vorgänge, durch die unser Denken und unsere Wahrnehmung immer tiefer von diesen typischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit geprägt werden.
Was bedeutet dies für Kinder? Sie wissen nicht, dass die Rollenzuordnungen soziale Konstruktionen sind. Für sie erscheinen diese als naturgegeben, als biologische Bestimmung. Als was auch sonst? Schließlich erleben sie diese den Geschlechtern zugeschriebenen Verhaltensweisen permanent in ihrer Umwelt. Da gibt es keinen Ausweg – die traditionelle Geschlechterrolle des Mannes wird zu einer unausweichlichen Anforderung an den Jungen.
Dieser Gendering-Prozess sieht zudem Sanktionen für abweichendes Verhalten vor. Verhält sich der Junge nicht rollenspezifisch, wird er gehänselt oder sogar bekämpft, er muss mit sozialen Abwertungen wie Lächerlichkeit oder offener Aggression rechnen.
EIN INDIANER KENNT KEINEN SCHMERZ – DER BLINDE SPIEGEL
Die zweite Ursache hat ebenfalls etwas mit den herrschenden Rollenbildern zu tun. Im Kindesalter spielt die Spiegelung der eigenen Gefühle eine große Rolle. Nur dann kann das Kind diese Gefühle in seine Persönlichkeit integrieren.
Äußert ein Kind Gefühle, tut es gut, wenn die Eltern diese richtig erkennen, vielleicht auch benennen und passend beantworten. Ist ein Kind traurig, gekränkt oder hat es sich verletzt, empfindet es Schmerz und kommt vermutlich weinend zu den Eltern. Optimal wäre es nun, wenn ein Elternteil dieses Gefühl anerkennt, es ausspricht und das Kind umarmt und tröstet. Schwierig wird es, wenn dieser Elternteil dieses Gefühl selbst nicht (mehr) kennt oder zulässt oder es bei einem Sohn als nicht passend ansieht und in der Folge ignoriert oder sogar als unangemessen bestraft. Den Ausspruch »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« kennt vermutlich fast jeder Junge.
Der bekannte Psychologe Paul Watzlawick meinte einmal: »Man kann in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein.« Aber ich möchte hier auch einem möglichen Missverständnis vorbeugen. Ihre Eltern können die nettesten und liebsten Menschen gewesen sein. Es geht hier auf keinen Fall um »Eltern-Bashing«. Aber wir alle, auch die Eltern unter uns, sind Kinder ihrer Generation und der damit verbundenen Prägungen. Die Eltern geben bewusst oder unbewusst und die meisten auch in gutem Glauben das an die Kinder weiter, was sie selbst in ihrem Leben erfahren und gelernt haben. Und das ist nun einmal nicht immer das, was für das Kind das Beste ist.
Tatsächlich erfahren Jungen eine weitaus geringere Spiegelung ihrer Gefühle durch ihre Bezugspersonen als Mädchen. Auch Mütter sind Opfer der Rollenzuschreibungen. Auch in ihren Köpfen regiert das Geschlechterklischee – Jungen sollen oder dürfen nicht traurig oder ängstlich sein. Wie sollen sie denn sonst später ihre Rolle im Leben übernehmen? Für den Vater gilt diese Annahme in der Regel noch stärker, er muss schon sein Leben lang dem Rollenmodell gerecht werden.
Nun hat der Junge ein Problem. Seine negativen Gefühle werden nicht gespiegelt und nicht anerkannt. Sie scheinen unerwünscht zu sein und sind vielleicht sogar mit Ächtung oder Strafen belegt. Also wird er sich für diese Gefühle schämen und sie sicher nicht als zu seiner Persönlichkeit gehörig verinnerlichen wollen. Die Folge ist, dass diesen Jungen im Erwachsenenalter der Umgang mit negativen Gefühlen wie Trauer, Verletzlichkeit, Schmerz, Überforderung und Hilflosigkeit schwerfällt.
WIE AUS JUNGS ECHTE MÄNNER WERDEN – UMWEGIDENTIFIKATION
Kommen wir zu der dritten Ursache, der »Umwegidentifikation«. Für Söhne sind Väter und andere männliche Bezugspersonen immens wichtig bei der Identitätsentwicklung. Der Psychologe Björn Süfke bemerkt dazu:
»Ist der Vater emotional präsent und verkörpert er verschiedene allgemein menschliche Gefühls- und Verhaltensweisen wie Liebe, Trauer, Angst, Freude, Strenge, Fürsorge, ist ihm also selbst eine gewisse Gefühlsintegration gelungen, dann wird er auch dem Sohn diese erleichtern.«
In den 1960er- bis 1980er-Jahren und zum Teil auch heute noch ist der Vater aber zumeist der ferne Ernährer und Entscheider, der frühestens am späten Nachmittag müde von der Arbeit kommt und sich oft nicht allzu viel Zeit für die Kinder nimmt. Der Vater muss Stärke zeigen und tritt manchmal auch als bedrohlicher Bestrafer in Erscheinung. Ein gängiger Satz in den Haushalten der 1960er- und 1970er war die Drohung der Mutter: »Warte, bis Papa nach Hause kommt!«
Der Junge wächst also in einer an erwachsenen Männern armen Umgebung auf – auch Kindergärtner und Grundschullehrer gibt es eher selten. Darüber hinaus erleben die Kinder den Vater und auch andere männliche Bezugspersonen selten als »ganze« Menschen, die Gefühle wie Angst oder Hilflosigkeit, Trauer oder Schmerz zeigen. Denn der Vater hat schon dieselben Probleme, die sein Sohn später haben wird. Auch er kann aufgrund seiner eigenen Sozialisation mit seinen negativen Gefühlen nur schlecht umgehen und wird versuchen, sie zu ignorieren, um seiner männlichen Rolle gerecht zu werden. Das erschwert ihm den gefühlvollen Umgang mit seinem Sohn.
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Die Gefühle gehören also den Frauen, die ja emotional sein dürfen. Wenn der Sohn es also in seinen ersten Lebensjahren zumeist mit Frauen zu tun hat, weiß er ziemlich genau, was eine Frau ausmacht. Will er aber nun ein Mann werden – eine Frau ist ja ein Nicht-Mann –, muss er sich von seinen weiblichen Bezugspersonen abgrenzen und vollzieht so eine »Umwegidentifikation«. Sein Vorbild ist kein Mann – der Junge geht den Umweg über die Frau als Negativ-Identifikationsperson.
Dafür muss er nun – und das ist ein echtes Opfer – seine als negativ bewerteten Gefühle möglichst gänzlich abspalten. In der Folge bergen Impulse aus Richtung Angst, Hilflosigkeit, Trauer oder Schmerz einen Identitätskonflikt und werden als verunsichernd und gefürchtet erfahren. Der Junge – und auch der Mann – wird also alles daransetzen, diese Gefühle zu ignorieren und zu vermeiden, ganz gleich, welche Ursachen sie haben.
Behandelt der Vater, das ferne Heldenbild, den Jungen nun auch noch etwas gleichgültig oder sogar mit Härte, gibt es für den kleinen Jungen zwei Möglichkeiten: Um seine Enttäuschung und seine Trauer darüber nicht spüren zu müssen, gibt er dem Vater unbewusst recht und nimmt dessen Position ein. In der Folge wird er sich dann selbst mit ebensolcher Gleichgültigkeit und Härte begegnen, wie es der Vater vorgemacht hat.
Gelingt es dem Jungen nicht, den eigenen Schmerz über das Verhalten des Vaters zu ignorieren oder umzudeuten, dann wird er sich emotional vom Vater abwenden und sich stärker mit der Mutter identifizieren. Die Folge ist, dass er fortan, auch als Erwachsener, Schwierigkeiten mit Gefühlen wie Ärger oder Wut haben wird. Diese Gefühle sind mit dem als grausam erlebten Vater verbunden. Und mit diesem wollen diese Jungen nichts mehr zu tun haben.
Erscheint die zweite Alternative scheinbar als die bessere, erwachsen dem Jungen und späteren Mann auch daraus große Probleme mit seiner Emotionalität. Ärger und Wut sind Signale, dass etwas nicht in Ordnung ist. Verachtet man diese Gefühle, wehrt man sie ab oder ignoriert sie, wird man es auch hier schwer haben, zu erkennen, was dahintersteckt und was einem fehlt.