Die Wertedebatte - Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden


Die Wertedebatte Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden

Diese Ökonominnen entrümpeln die Wirtschaftswissenschaften von alten Glaubenssätzen und entwickeln neue Theorien für das 21. Jahrhundert: Mariana Mazzucato, Kate Raworth, Esther Duflo, Stephanie Kelton und Carlota Pérez.

Von Antje Schrupp

.Hören Sie unsere Beiträge in der Dlf Audiothek.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Stephanie Kelton von der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York und Mariana Mazzucato, Professorin für Innovation und Werttheorie am University College in London (v.l.) (Picture alliance (Kaname Yoneyama, Barbara Gindl) Combo: Deutschlandradio)

Nicht nur die Welt der Konzerne und Börsen ist weiterhin so stark von Männern dominiert wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich. Auch Wirtschaftstheorie bleibt weithin eine Männerdomäne. Dabei könnte das Image der Zunft neue Perspektiven und einen Blick „von außen" gut gebrauchen.

Das Wirtschaftsmagazin „Forbes" jedenfalls empfiehlt sie als fünf besonders kreative Köpfe ihrer Disziplin, und tatsächlich sind ihre politischen Vorschläge ebenso kühn wie pragmatisch. Bei aller Unterschiedlichkeit stellen sie grundsätzliche Fragen neu, wie zum Beispiel die nach der Definition von Wert, dem Sinn von Wachstum, dem Verhältnis von Politik und Wirtschaft.

Aber funktionieren sie auch? Und welche Rolle spielt es dabei, dass alle fünf Frauen sind?


„Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem."

Dieser berühmte Satz aus der Antrittsrede von Ronald Reagan als US-Präsident 1981 stellte die Weichen für die Epoche des Neoliberalismus: Der Markt soll frei wirken, der Staat sich aus wirtschaftlichen Angelegenheiten heraushalten und lediglich für Infrastruktur und Rechtssicherheit sorgen.

Doch wenn es Probleme gibt, ist es mit dem freien Markt nicht mehr so weit her. Nach der Finanzkrise 2008 mussten Regierungen mit Hunderten von Milliarden Euro, Dollars und Pfund in die Bresche springen, um einen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems zu verhindern. Jetzt, in der Coronakrise, ist es wieder genauso: Allein Deutschland hat Corona-Hilfen in Höhe von 350 Milliarden Euro bereitgestellt und weitere 400 Milliarden an Bürgschaften. Auch Regierungen, die den Marktliberalismus besonders laut predigen, verteilen Geld: Der US-Kongress machte zwei Billionen Dollar locker, Präsident Donald Trump ließ Schecks in Höhe von 1.200 Dollar an alle Steuerzahler ausgeben und stellte sicher, dass sein Name aufgedruckt war. In Brasilien gab es eine monatliche Corona-Nothilfe für arme Familien, die in vielen Fällen höher lag als ihr ansonsten übliches Einkommen, woraufhin die Umfragewerte des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro in die Höhe schnellten.

Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

In Krisenzeiten ist der Staat also keineswegs ein Problem, sondern die Lösung. Aber was bedeutet das für volkswirtschaftliche Theorien?

Wirtschaftswissenschaftlerinnen denken „out of the box"

Statt Politik und Ökonomie weiterhin als getrennte Sphären zu betrachten, wäre es nötig, sich gerade die Wechselwirkung zwischen beidem genauer anzuschauen. Und statt Ereignisse wie die Finanzkrise oder die Corona-Pandemie als unvorhersehbare Sonderfälle zu betrachten, brauchen wir Analysen, die man auch in schwierigen Zeiten zu Rate ziehen kann. Tatsächlich gibt es inzwischen einige neue volkswirtschaftliche Ansätze, die genau das versuchen. Es sind vor allem Frauen, die dabei „out of the Box" denken und althergebrachte Glaubenssätze hinterfragen, wie kürzlich auch das Wirtschaftsmagazin „Forbes" festgestellt hat.

Eine davon ist die Britin Kate Raworth. Die Volkswirtschaftlerin war lange für die Vereinten Nationen und NGOs wie Oxfam tätig, lehrt zurzeit in Oxford und hinterfragt die traditionellen Bilder, die volkswirtschaftliche Lehrbücher von der Ökonomie zeichnen. Darstellungen wie das Kreislaufdiagramm der Marktbeziehungen oder die Angebots-Nachfrage-Kurve erwecken den Eindruck, dass sie objektive Gesetzmäßigkeiten beschreiben, so ähnlich wie die Physik. Aber Wirtschaft, betont Raworth, ist kein Naturphänomen, und sie folgt auch nicht mechanistischen Abläufen. Für eine fruchtbare wirtschaftliche Entwicklung schlägt Raworth vor, sich am Bild eines Donuts zu orientieren. Denn genau wie das Gebäck mit dem Loch in der Mitte sei auch das wirtschaftliche Leben von zwei Kreisen begrenzt, einem inneren und einem äußeren.

„Der Donut weist in eine Zukunft, in der die Bedürfnisse jedes Menschen befriedigt werden, während zugleich die lebendige Welt geschützt wird, von der wir alle abhängig sind. Unterhalb des gesellschaftlichen Fundaments des Donuts liegen die Defizite und Unzulänglichkeiten, die jene zu spüren bekommen, denen lebensnotwendige Güter vorenthalten werden wie Nahrung, Bildung und Wohnen. Oberhalb der ökologischen Decke liegt der überschießende Druck, der auf die lebensspendenden Systeme der Erde ausgeübt wird, etwa durch den Klimawandel, die Versauerung der Ozeane und die chemische Umweltverschmutzung. Zwischen diesen beiden Grenzen befindet sich jener angenehme ideale Bereich – der unverkennbar die Form eines Donuts aufweist – der den Menschen einen sicheren und gerechten Raum bietet."

Die Ökonomin Kate Raworth schlägt vor, sich für eine fruchtbare wirtschaftliche Entwicklung am Bild eines Donuts zu orientieren (imago stock&people)

Wirtschaftspolitik ist nach Ansicht von Raworth immer dann erfolgreich, wenn sie sich innerhalb dieses Raums bewegt. Wenn also einerseits alle Menschen mit dem Lebensnotwendigen versorgt sind, andererseits aber auch die planetaren Ressourcen nicht überstrapaziert werden.

Der normalerweise übliche Maßstab für wirtschaftlichen Erfolg ist allerdings nicht der Donut, sondern das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, also der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb der Grenzen eines Landes gekauft und verkauft werden. Dieses BIP, so eine verbreitete Annahme, muss kontinuierlich steigen, damit es „der Wirtschaft gut geht". Aber ist ein permanentes Wachstum überhaupt möglich, angesichts des drohenden Klimanotstands?

Der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith (imago / Leemage)Ökonomie – Falsch verstandener VordenkerDer schottische Moralphilosoph Adam Smith gilt als Urvater des ungehemmten Kapitalismus, der auf die unsichtbare Hand des Marktes vertraute und den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft begrenzen wollte. Gerhard Streminger interpretiert Adam Smith anders.

Mariana Mazzucato: Wer trägt zum Wohlstand einer Gesellschaft bei?

Genau wie Raworth bezweifelt auch Mariana Mazzucato, Professorin für Innovation und Werttheorie am University College in London, den Sinn des BIP, aber mit einem anderen Argument: Ihrer Ansicht nach sind darin zu viele unproduktive Aktivitäten enthalten, die überhaupt nichts zum Wohlstand einer Gesellschaft beitragen. Zum Beispiel Umsätze aus Finanztransaktionen, deren einziger Zweck es ist, Profit zu generieren. Das neue Buch der in den USA aufgewachsenen Italienerin heißt „Wie kommt der Wert in die Welt?" und trägt den schönen Untertitel: „Of Makers and Takers", auf Deutsch „Von Schöpfern und Abschöpfern". Die Abschöpfer, das sind nicht nur die Leute, die mit Finanzspekulationen reich werden, sondern auch viele Internetfirmen des Silicon Valley. Auch sie, schreibt Mazzucato, würden in erster Linie Wert abschöpfen, den andere geschaffen haben.

„Apple sollte Steuern nicht nur deshalb zahlen, weil es sich so gehört, sondern weil es der Inbegriff eines Unternehmens ist, das nur dank öffentlicher Gelder so groß werden konnte. Das Unternehmen hat nicht nur in der Frühphase finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen, sondern hat auch erfindungsreich von öffentlich finanzierter Technologie Gebrauch gemacht, um seine Produkte zu entwickeln. Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde."

Mazzucato räumt, unterfüttert von vielen Beispielen, mit dem Mythos auf, dass staatliche Institutionen immer träge und bürokratisch, private Unternehmen hingegen agil, innovativ und risikofreudig seien. Kostenintensive Grundlagenforschung, ohne die es überhaupt keine Innovationen gäbe, wird ganz überwiegend in staatlich finanzierten Forschungsinstituten betrieben. Erst wenn dabei gute Ergebnisse erzielt werden, entwickeln Unternehmen auf dieser Basis entsprechende Geschäftsmodelle. Auch das schafft natürlich Wert, aber bei weitem nicht so viel, wie die explodierenden Aktienkurse von Facebook, Amazon und Co. suggerieren.

Die Frage danach, welche Aktivitäten produktiv sind und welche unproduktiv, wird in der politischen Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert diskutiert. Der französische Ökonom François Quesnay zum Beispiel, der als einer der Begründer der modernen Volkswirtschaft gilt, hielt in seinem 1758 erschienenen Werk „Tableau économique" allein die Landwirtschaft für produktiv. Denn die Erde würde wirklich Neues hervorbringen, während Handwerker bloß bereits existierende Materie neu arrangieren.

Die Ökonomen des 19. Jahrhunderts – Adam Smith, David Ricardo oder Karl Marx – machten hingegen gerade die menschliche Arbeitskraft zum zentralen Faktor der Wertschöpfung. Doch egal, wo genau die Produktivitätsgrenze gezogen wird: Alle frühen Volkswirtschaftler sehen ein Problem darin, wenn Geld systematisch ohne jede Gegenleistung aus dem Wirtschaftskreislauf abgezogen wird. Sie kritisieren zum Beispiel reiche Erben, die ihr Vermögen oder zumindest dessen Zinsen verprassen, oder, in der marxistischen Variante, die Kapitalisten, die den Mehrwert der Arbeitskraft des Proletariats einstecken.

Doch im 20. Jahrhundert dann ist jede Kritik an den „Abschöpfern" aus der Mode gekommen, wie Mazzucato schreibt:

„Ersetzt wurde sie durch die Ansicht, dass allein eine solche Aktivität als produktiv zu bezeichnen ist, die (legal) einen Preis auf dem Markt erzielt. … Wenn sich Wert aus dem Preis ableitet, muss auch das Einkommen aus Renten produktiv sein. Aus diesem Grund ist das Konzept des unverdienten Einkommens heute verschwunden."

Kate Raworth: Der blinde Fleck der unbezahlten Arbeit

Das Argument lautet: Wenn jemand bereit ist, einen Preis für etwas zu zahlen, dann ist die betreffende Ware oder diese Dienstleistung offenbar genau das wert. Der Vorteil einer solchen inhaltsfreien Werttheorie ist, dass sie ohne moralische oder ideologische Wertungen auskommt. Insofern war sie auch eine Reaktion auf die realsozialistische Planwirtschaft. Man wollte ein System schaffen, in dem es die Politik nichts angeht, wofür Menschen Geld ausgeben. Aber wenn man gar nicht mehr nach dem gesellschaftlichen Nutzen einer wirtschaftlichen Aktivität fragt, führt das auch zu Problemen. Es ist dann nämlich nur folgerichtig, wenn Hersteller von Medikamenten Mondpreise verlangen, die in keinem Verhältnis mehr zu ihren aufgewendeten Kosten stehen – denn wer wollte ein Preislimit bei der Rettung von Menschenleben ziehen? Ohne inhaltliche Wertbestimmungen lässt sich auch nicht verhindern, dass das Geld sich bei immer weniger Menschen ansammelt. Nach Schätzungen des Tax Justice Networks besitzen inzwischen 0,1 Prozent der Weltbevölkerung mehr als 80 Prozent des Finanzvermögens – eine Entwicklung, die sich erst im 21. Jahrhundert auf diese Weise exponentiell entwickelt hat.

Die Gleichsetzung von Preis und Wert ist aber noch aus einen anderen Grund problematisch. Denn ungefähr die Hälfte aller wirtschaftlichen Aktivitäten und damit enorme Werte fallen dabei schlicht durchs Raster – und zwar alles, wofür kein Geld bezahlt wird. Kate Raworth schreibt:

„In der Darstellung des Wirtschaftskreislaufs steht die Arbeitskraft – Simsalabim! – jeden Morgen frisch, ausgeruht und arbeitsbereit vor der Büro- oder Fabriktür. Aber wer hat gekocht, geputzt und aufgeräumt, um das zu ermöglichen?"

Feministische Ökonominnen weisen auf den blinden Fleck der unbezahlten Arbeit schon seit Jahrzehnten hin, aber in aller Regel bleibt sie bei volkswirtschaftlichen Kalkulationen immer noch außen vor, weil sie kein Bestandteil des BIP ist. Auch in der Corona-Krise war das wieder so. Als Kitas und Schulen, Restaurants und Tagespflegeeinrichtungen vom einen auf den anderen Tag geschlossen werden mussten, ging die Politik ganz selbstverständlich davon aus, dass die damit verbundenen Arbeiten einfach in den Familien übernommen werden könnten. Man war sich des Wertes dieses Sektors schlicht nicht bewusst. Hilfsprogramme für überlastete Eltern gab es keine, und aller Emanzipationsrhetorik zum Trotz verließ man sich wieder wie selbstverständlich auf die familiäre, überwiegend weibliche Reservearmee, die eben einspringen muss, wenn alle anderen Stricke reißen.

Und das hat ja auch wieder funktioniert. Die Kinder sind versorgt worden, das Essen wurde gekocht, niemand blieb unversorgt und unbetreut sich selbst überlassen. Simsalabim!

Für Volkswirtschaftler, die ihr Fach ernst nehmen, müsste das eigentlich Grund genug sein, endlich eine ihrer zentralen Ideen endgültig über Bord zu werfen: den „Homo Oeconomicus". Dieser Begriff kam um 1900 auf und beschreibt einen Menschen, der stets so handelt, dass er seinen persönlichen Nutzen maximiert. Wenn in traditionellen volkswirtschaftlichen Theorien vom „Menschen" die Rede ist, liegt das Modell des Homo Oeconomicus zugrunde.

Tatsächlich verhalten sich Menschen aber anders. Und von manchen wird das sogar ausdrücklich erwartet, von Müttern zum Beispiel, die sich selbstlos um ihre Kinder kümmern sollen. Oder auch von Pflegekräften, von denen in der Akutphase der Corona-Pandemie erwartet wurde, dass sie weiter zur Arbeit gehen und COVID-19‑Kranke behandeln, obwohl sie wegen fehlender Schutzausrüstung ihr eigenes Leben riskieren. Ein Homo Oeconomicus wäre unter diesen Umständen zuhause geblieben.

Die Ökonomin Esther Duflo wurde 2019 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet (picture alliance / TT NEWS AGENCY/ Karin Wesslén)

Esther Duflo: Falsche volkwirtschaftliche Theoreme

Volkswirtschaftliche Hypothesen, die ein unrealistisches Menschenbild zugrunde legen, können kaum Aufschluss über reale Trends und tatsächliche Entwicklungen geben. Mit diesem Phänomen hat sich vor allem die Französin Esther Duflo beschäftigt. Sie ist Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungstheorie am MIT in Cambridge und erhielt voriges Jahr als zweite Frau den Alfred‑Nobel‑Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. Zusammen mit ihrem Mann, dem Inder Abhijit V. Banerjee, führt sie in aller Welt empirische Forschungen durch.

Ergebnis: Die Menschen sind viel beständiger, viel traditioneller, viel ortsgebundener als es das Modell des Homo Oeconomicus behauptet. Die globale, migrantische Gesellschaft mit flexiblen Arbeitskräften, die den ökonomischen Gelegenheiten hinterher ziehen, existiert so nicht – und nicht nur, weil Einreisebeschränkungen und fremdenfeindliche Stimmungen die Möglichkeit stark einschränken.

Selbst innerhalb der USA, deren Bevölkerung den Ruf hat, besonders mobil zu sein, stimmt das nicht, wie Duflo am Beispiel des so genannten „China-Schocks" herausgefunden hat. Als zwischen 1990 und 2010 die Industrieproduktion in China stark anstieg, hatte das großen Einfluss auf die amerikanische Industrie, allerdings nicht gleichmäßig. Einige Counties, deren Industrie mit China konkurrierte, litten schwer, andere kaum. Duflo untersuchte nun, in welchem Ausmaß die entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter bereit waren, in eine prosperierende Nachbarregion umzuziehen. Das Ergebnis:

„Trotz der Tatsache, dass es benachbarte Pendlerzonen gab, die weitgehend von dem Schock verschont blieben (und Zonen, die sogar profitierten, indem sie zum Beispiel bestimmte Komponenten aus China importierten) zogen betroffene Arbeitskräfte nicht dorthin. Die Anzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter ging in den beeinträchtigten Pendlerzonen nicht zurück. Aber sie hatten keine Arbeit."

(picture alliance /Bildagentur-online / Ohde)

Sozialpolitik – Brauchen wir das bedingungslose Grundeinkommen?Die Coronakrise bringt neuen Schwung in die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Jede Bürgerin und jeder Bürger würde es erhalten. Was dafür, was dagegen sprichtund wie es finanziert werden soll: ein Überblick.

Menschen sind in Bezug auf ihre Lebensumstände längst nicht so rational, wie traditionelle Volkswirtschaftler meinen. Neben Arbeitsmarktchancen spielen viele andere Faktoren eine Rolle, Beziehungsnetzwerke in der Nachbarschaft, die Schulen der Kinder, Heimatgefühle oder einfach auch nur eine gewisse Trägheit. Die Globalisierung hat weltweit strukturelle Prozesse ausgelöst, bei denen ganze Regionen und Länder ökonomisch gewinnen oder verlieren, ohne dass die Menschen dort viel dazu beitragen oder dagegen unternehmen können. Ob man in einer Region lebt, die gerade boomt, oder deren Industrie zugrunde geht, ist einfach nur Glück oder Pech. Sicher kann die Politik gute und schlechte Entscheidungen in Bezug auf die wirtschaftliche Prosperität einer Region treffen. Aber die Zukunftsindustrie, die eine Stadt für sich an Land zieht – häufig indem sie auf Steuereinnahmen verzichtet – fehlt dann eben in der anderen.

Trotzdem ist die Globalisierung unterm Strich ein Erfolg, meint Duflo:

„In den letzten drei Jahrzehnten ist nicht nur die weltweite Armutsquote gesunken, vielmehr hat sich auch die Lebensqualität der Armen erheblich verbessert. Seit 1990 haben sich die Säuglingssterblichkeit und die Müttersterblichkeit halbiert; folglich sind seit 1990 mehr als 100 Millionen Todesfälle bei Kindern abgewendet worden. Sofern keine tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen dies verhindern, haben praktisch alle Jungen und Mädchen Zugang zu Grundschulbildung. 86 Prozent der Erwachsenen sind alphabetisiert. Die Einkommenszuwächse der Armen stehen nicht nur auf dem Papier."

Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung hat von der Globalisierung profitiert, vor allem in China, aber auch anderswo. Bei den nächsten 49 Prozent sieht es jedoch schon anders aus. Die Einkommen dieser Gruppe, zu der praktisch alle Menschen in Europa und den USA gehören, sind kaum gewachsen, teilweise sogar gesunken. Ganz besonders gut schnitt hingegen das oberste eine Prozent der Superreichen ab: 27 Prozent des Gesamtwachstums haben sie für sich allein abgeschöpft.

Das Hauptproblem der Globalisierung liegt also darin, dass es nicht gelingt, ihre positiven Effekte gerecht und sozialverträglich zu verteilen, folgert Duflo. Auch daran seien oft falsche volkswirtschaftliche Theoreme schuld. Nur eines von viele Beispielen: Lange waren Ökonomen der Ansicht, dass Moskitonetze in malariagefährdeten Regionen Afrikas nur dann gepflegt und gut eingesetzt würden, wenn sie etwas kosteten, nach dem Motto: Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Aber das Gegenteil war der Fall: Solange die Netze verkauft wurden, wenn auch zu einem sehr geringen Preis, fanden sie kaum Verbreitung. Seitdem sie kostenlos verteilt werden, kommen sie großflächig zum Einsatz, und die Zahl der Malariatoten sank um sagenhafte 75 Prozent.

Für die Bevölkerung in armen Ländern schlägt Esther Duflo deshalb eine simple Maßnahme vor: ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert aus den internationalen Gewinnen der Globalisierung. Im Vergleich zu anderen Sozialprogrammen sei ein Grundeinkommen unbürokratisch, transparent, kostengünstig und leicht umsetzbar, und es würde gezielt das erreichen, worauf es in erster Linie ankommt: alle Menschen mit einem Existenzminimum an Kaufkraft auszustatten.

Für die traditionell reichen Industrieländer sei ein Grundeinkommen jedoch nicht ausreichend, glaubt Duflo. Denn dort ist der Arbeitsplatz mehr als nur eine Quelle von Einkommen. Was Menschen in anderen Weltregionen Halt gibt – Religion, Traditionen, das Eingebundensein in Dorfgemeinschaften oder Großfamilien – habe in den Industrieländern fast keine Bedeutung mehr. Im Fall von Arbeitslosigkeit geht daher nicht nur das Einkommen verloren, sondern manchmal der ganze Lebenssinn. In bestimmten Fällen hält es Duflo daher für gerechtfertigt, auch unproduktiv gewordene Industrien durch Subventionen für eine Übergangszeit am Laufen zu halten. So wie es Deutschland mit der Kohleindustrie gemacht hat. Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel auch die Tücken einer solchen Politik – die Gefahr ist groß, den Absprung dann zu verpassen.

Stephanie Kelton: Staatsdefizite in der Modern Monetary Theory

Einen anderen Vorschlag macht daher Stephanie Kelton. Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin, die an der Stony Brook University im Bundesstaat New York lehrt, ist der Ansicht, dass der Staat selbst Jobs schaffen sollte. Und zwar so viele, dass jeder Erwachsene jederzeit eine Anstellung finden kann, und zwar zu einem guten Mindestlohn. Diese Stellen könnten sich je nach Konjunktur füllen und leeren und so die sozialen Schwankungen der Konjunktur auffangen.

Aber wer soll das bezahlen? Würde so ein Programm nicht Unsummen verschlingen? Ja, das würde es, aber hier macht Kelton einen besonders kühnen Vorschlag: Der Staat, meint sie, kann doch Geld drucken! Das klingt erst einmal wahnwitzig, aber mit dieser Idee steht sie keineswegs allein da. Die „Modern Monetary Theory", von der Kelton eine der führenden Vertreterinnen ist, findet immer mehr Zulauf.

Dieser neuen Geldtheorie zufolge sind Staatsdefizite unproblematisch, solange sie sich im Rahmen tatsächlich vorhandener Ressourcen bewegen. In der traditionellen volkswirtschaftlichen Theorie ist die Kontrolle der Geldmenge eine der zentralen Aufgaben von Nationalbanken: Es darf nicht mehr Geld in Umlauf gebracht werden als vom Wirtschaftswachstum gedeckt ist, sonst drohe Inflation. Deshalb müssten Staaten genauso sparsam wirtschaften wie jeder andere Haushalt, auch sie dürfen nur ausgeben, was sie einnehmen. Die Modern Monetary Theory behauptet nun, dass diese Sichtweise falsch sei, und zwar deshalb, weil Staaten jederzeit die Möglichkeit haben, Geld zu drucken oder Staatsanleihen auszugeben. Rein logisch ist es unmöglich, dass Staaten Bankrott gehen, jedenfalls solange sie nur in ihrer eigenen Währung verschuldet sind.

Ist das also eine Märchentheorie, wonach wir uns alles leisten können, was wir nur wollen, indem wir einfach Geld drucken? Nein, stellt Stephanie Kelton klar.

„Natürlich nicht. Nur weil es keine finanziellen Begrenzungen des Staatshaushaltes gibt, heißt das noch lange nicht, dass es auch keine realen Begrenzungen für das gibt, was die Regierung tun kann und tun sollte. Jede Volkswirtschaft hat ihr eigenes internes Tempolimit, das bestimmt wird durch die Verfügbarkeit realer produktiver Ressourcen – dem Stand der Technologie, die Quantität und Qualität seiner Bodenflächen, seiner Arbeitskräfte, Fabriken, Maschinen und anderer Materialien. Wenn die Regierung versucht, zu viel Geld in eine Ökonomie zu stecken, die schon auf Höchstgeschwindigkeit läuft, wird die Inflation steigen. Es gibt Grenzen. Aber die Grenzen liegen nicht in der Fähigkeit der Regierung, Geld auszugeben oder in ihrem Staatsdefizit, sondern in dem inflationären Druck und den Ressourcen der Realwirtschaft."

Wenn es, um ein Beispiel von Kelton aufzugreifen, in einem Land wie den USA 100.000 arbeitslose Lehrerinnen und Lehrer gibt und gleichzeitig viele Schulen mit zu großen Klassenverbänden, dann spricht ihrer Ansicht nach überhaupt nichts dagegen, dass der Staat Geld druckt, die Lehrkräfte einstellt und in den Schulen einsetzt. Alle würden davon profitieren: Die Lehrerinnen und Lehrer wären nicht mehr arbeitslos, die Kinder würden besser unterrichtet, und die übrige Wirtschaft würde von der gesteigerten Kaufkraft und besser ausgebildeten Menschen profitieren. Wenn hingegen ein Staat Geld druckt, um Straßen zu bauen, während die Bauindustrie ohnehin schon voll ausgelastet ist, würde das in der Tat lediglich die Preise in die Höhe treiben und Inflation ankurbeln.

Das größte Problem an der Modern Monetary Theory ist deshalb nicht wirtschaftlicher, sondern politischer Natur: Ist es angeraten, Regierungen diese Art von Entscheidungsmacht in die Hand zu geben, vor allem in populistischen Zeiten wie heute? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie mit dem Instrument des Gelddruckens verantwortlich umgehen würden?

Es brauche eine neue Art, Ökonomie zu denken, fordern einige Wirtschaftsexperten (imago images / Christian Ohde)

Carlota Pérez: Prosperität in der Verantwortung der Politik

Zumal, und das ist eine weitere Einschränkung, diese Art von Geldpolitik nur in Ländern funktionieren kann, die eine gewisse Größe und eine eigene Währung haben wie die USA, Großbritannien oder Japan. In Europa, wo die Eurozone mehrere souveräne Länder vereint, die zudem auch häufig nicht einer Meinung sind, funktioniert es schon nicht. Trotzdem hat die Europäische Zentralbank in der Corona‑Krise mit der Auflage von Bonds reagiert, was manche Volkswirtschaftler haarscharf an der Grenze zum Gelddrucken sehen – das wäre nach derzeitiger Rechtslage illegal. So oder so: Von der Modern Monetary Theory wird in nächster Zeit noch einiges zu hören sein. Ob sich der Ansatz durchsetzt und dann auch bewährt, muss die Zukunft zeigen.

Apropos Zukunft: Die erscheint angesichts der vielen ungelösten Probleme eher düster. Mindestens eine Ökonomin bleibt aber optimistisch. Die Venezolanerin Carlota Pérez, die in vorwiegend in England lehrt, ist mit ihren Analysen zu den Auswirkungen von technologischem Wandel auf die Ökonomie eine gefragte Beraterin internationaler Organisationen und Gremien. Sie hält in naher Zukunft den Anbruch eines neuen goldenen Zeitalters der Prosperität für möglich – sofern die Politik dabei eine aktive Rolle übernimmt.

Ihr Argument: Die Potenziale des Internets und der automatisierten Datenverarbeitung sind noch lange nicht ausgeschöpft. Enorme Effizienz- und Produktivitätssteigerungen wären ihrer Ansicht nach möglich, zum Beispiel durch dezentrale Produktion über 3-D-Drucker, Algorithmen basierte Nutzungsmodelle oder smarte Logistik. Wenn wir die uns zur Verfügung stehenden Technologien intelligent einsetzen würden, ist Pérez überzeugt, wäre Wohlstand für alle möglich, und das bei geringerem Verbrauch von endlichen Ressourcen.

Abschied nehmen von traditionellen Theorien

Voraussetzung wäre jedoch auch in ihren Augen der Abschied von traditionellen Theorien der Volkswirtschaft. Statt sich weiter an den Modellen der industriellen Massenproduktion zu orientieren, bei denen Wachstum, Erwerbsarbeit, Besitz und dergleichen wichtig sind, gelte es, einen neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.

Die Zukunft ist nicht immer die Fortführung der jüngsten Vergangenheit. Der Staat muss die Wettbewerbsbedingungen in eine synergistische Richtung lenken. Eine Richtung, in der das, was einer tut, allen anderen zugutekommt, sodass wir diese fantastische gemeinsame Energie für Wachstum und Wohlbefinden bekommen.

Erste Trends in diese Richtung gibt es ja bereits. Wir könnten noch mehr Gebrauchsgüter gemeinsam nutzen statt einzeln zu besitzen. Eine individuelle maßgeschneiderte Produktion von qualitativ hochwertigen und langlebigen Einzelstücken könnte die heutige Massenproduktion von Billigteilen ersetzen. Wir könnten mehr Zeit für Familie, gegenseitige Fürsorge, Bildung und Kultur aufwenden statt um jeden Preis an überflüssig gewordenen Erwerbsarbeitsplätzen festzuhalten. Klingt utopisch?

Ja, gibt Carlota Pérez zu, allerdings seien der Menschheit ähnliche Paradigmenwechsel auch früher schon gelungen.

So oder so wird sich die Politik auf Dauer nicht aus wirtschaftlichen Entwicklungen heraushalten können, und wenn man ehrlich ist, tut sie das auch schon längst nicht mehr. Umso wichtiger ist es, dass sich volkswirtschaftliche Analysen und Modelle wieder stärker mit der Art und Weise beschäftigen, wie Politik und Ökonomie miteinander interagieren. Das gleiche wäre im Übrigen auch eine wichtige Aufgabe für die Politikwissenschaften. Dabei könnten sich beide auf die Anfänge der Volkswirtschaftslehre besinnen, als das Fach noch „politische Ökonomie" hieß und allen bewusst war, dass es sich dabei um Ideen, Vorstellungen und Interessen handelt – um Politik eben. Oder, in den Worten von Kate Raworth:

„Bei dem Versuch, die Ökonomie neu zu denken, geht es nicht darum, die richtige Ökonomie zu finden (denn die gibt es nicht), es geht vielmehr darum, jene Form zu wählen oder zu erschaffen, die am besten unseren Zwecken nutzt – die den Zusammenhang widerspiegelt, in dem wir uns befinden, die Werte, die wir vertreten, und die Ziele, die wir verfolgen. Da sich die Zusammenhänge, die Werte und die Ziele der Menschheit kontinuierlich ändern, sollte dies auch für unsere Sicht der Ökonomie gelten."