Die wahre Ursache von Burnout ist nicht Überarbeitung - [GEO]


Interview

Stress "Burnout entsteht nicht dadurch, dass man zu viel zu tun hat"

Viele Menschen fühlen sich gestresst, getrieben, leben in Zeitnot
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8 Min.
Viele Menschen fühlen sich gestresst, getrieben, leben in Zeitnot. Der Soziologe Hartmut Rosa erklärt, weshalb der Takt der Gesellschaft sich beschleunigt und worin die wahre Ursache von Burnout liegt

GEO: Herr Professor Rosa, viele Menschen plagt heute das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wann hat das begonnen?

Prof. Hartmut Rosa: Ganz so neu, wie es uns manchmal erscheint, ist das nicht, es begann schon im 18. Jahrhun­dert. Damals wandelte sich die Gesell­schaft massiv, erlebte einen gewaltigen Schub der Veränderung – vor allem mit der Entwicklung einer vom Markt ge­steuerten Wirtschaft. Zwar waren auch Gemeinschaften zuvor nicht statisch, auch sie haben sich beständig verändert, durch Kriege, Dürren, Krankheiten, den Wechsel der Herrscher – oder durch Zufall, etwa wenn jemand eine Entdeckung gemacht hatte.

Aber dass eine Gesellschaft gar nicht anders kann, als sich zu verän­dern, das war ein modernes Prinzip, das mit dem Kapitalismus aufkam. Denn wirtschaftliche Tätigkeit funk­tionierte von nun an nur durch das Ver­sprechen, dass man mehr gewinnt, als man eingesetzt hat: Geld wird ja immer in der Hoffnung investiert, dass mehr Geld rauskommt.

Fortan musste in immer weniger Zeit immer mehr produziert werden. Denn nun galt: Zeit ist Geld!

Drückte sich diese Beschleunigung anfangs nur in der Ökonomie aus?

Nein, das geschah auf allen Ebenen. Etwa in der Wissenschaft: Hatte man bis zum 18. Jahrhundert Bildung vor­nehmlich als Schatz angesehen, der von einer Generation zur nächsten weiter­gegeben wird, kam nun eine völlig neue Dynamik in Gang. Laufend wurden jetzt neue Fragen gestellt, ständig neue Projekte ins Leben gerufen, immer neue Antworten gefunden.

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So fing etwa Charles Messier an, den Himmel systematisch nach auffälligen Nebelfleckchen zu durchforsten, nach Galaxien also, und die Astronomie nahm einen gewaltigen Aufschwung. Aber auch die moderne Agro­chemie entstand. Mit Teleskopen weit ins All, mit Mikroskopen tiefer in die Materie hinein: Das war die Logik.

Auch in der Kunst zeichnete sich das Prinzip ab. Die Malerei war jetzt nicht mehr mimetisch, Künstler ahmten nicht mehr einfach nur die Natur nach oder imitierten die alten Meister – sondern sie suchten das Originelle, das Innovative. Am deutlichsten kommt dies im Geniekult zum Ausdruck und in den Werken des Sturm und Drang.

Überall ging es zunehmend darum, das Vorgängige zu überbieten. Und immer tiefer verankerte sich die Überzeugung, dass sich eine Gesellschaft nur erhalten kann, wenn sie sich verändert, beschleunigt, wächst, innoviert. Steigerung wurde eine strukturelle Notwendigkeit. Das war im 18. Jahrhundert wirklich neu.

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Aber mit jeder technischen Neuerung verschafften Menschen sich doch mehr Zeit, nicht weniger.

Natürlich, die ganze Moderne ist eine einzige Geschichte des Zeitsparens und der Beschleunigung: Mit dem Auto kommen wir rascher voran als zu Fuß, mit dem Flugzeug schneller als mit dem Auto. Waschmaschinen, Staub­sauger, Mikrowellen sparen Zeit, E­-Mails erreichen ihren Adressaten in Sekundenschnelle. Fast jede Technik ist mit dem Versprechen verbunden, dass wir mit ihr Zeit gewinnen.

Paradoxerweise stellt sich den­ noch kein Zeitreichtum ein, sondern Zeitknapp­heit. Denn die Aufga­benmenge nimmt so rasant zu, dass wir sie trotz des Zeitgewinns nicht abarbeiten kön­nen. Früher wechselten Menschen einmal in der Woche ihre Klei­dung, heute machen wir das täglich. Statt zehn Briefe zu schrei­ben, lesen wir 30, 40 oder noch mehr E­-Mails. Und mit dem Auto legen wir natür­lich viel weitere Stre­cken zurück als Menschen vormals zu Fuß. Die neuen Techniken versprechen aber nicht nur eine Zeitersparnis, son­dern in der Regel auch eine Horizont­erweiterung.

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Was meinen Sie damit?

Mit vielen technischen Neuerungen vergrößern sich unsere Optionen. Viele Innovationen bringen uns mehr Welt in Reichweite. Besitze ich beispielsweise ein Auto, weitet sich mit einem Mal der Horizont, vermehren sich die Möglich­keiten: Ich kann am Abend noch schnell in die Stadt fahren, ein Konzert besuchen, in die Natur hinausgehen, einen Freund treffen. Genauso verhält es sich mit dem Smartphone: Habe ich es dabei, eröffnen sich plötzlich viele neue Optionen – nun kann ich überall und jederzeit online gehen, kann chat­ten, Nachrichten schauen, shoppen, spielen. Und genau danach sehnen wir uns: nach immer mehr Optionen.

Sind wir einer Sucht ausgeliefert?

Ja, man kann unser Verhalten mit dem eines Süchtigen beschreiben. Wir gie­ren nach mehr Möglichkeiten, mehr Handlungen, mehr Erlebnisepisoden – und dementsprechend brauchen wir auch mehr und mehr Zeit. Wir können gar nicht anders.

Weshalb?

Weil wir es für eine Bedingung des ge­lungenen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reichweite zu bringen. Hinzu kommt: Wir gehen von der irrigen Vorstellung aus, dass allein schon ein Mehr an Auswahlmöglich­keiten Glück auslöst. Dass wir immer mehr Freiheit erlangen.

Ein Trugschluss?

Ja. Er besteht darin, dass die Steigerung von Möglichkeiten an sich keinen Wert hat; die permanente Ver­mehrung von Optio­nen ist ja noch kein Zugewinn an Freiheit. Der tritt logi­scherweise erst dann ein, wenn ich mei­ne Wahlmöglichkeiten auch realisiere.

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Können Sie Beispiele nennen?

Etwa wenn ich von den Büchern, die ich kaufe, ein paar auch wirklich lese; wenn ich das Teleskop, das ich mir geleistet habe, auch wirklich benutze, oder von den Opernhäusern, die ich in Reichweite habe, auch eines besuche.

Die Illusion gründet darin, dass viele Menschen inzwischen ihr Glück allein daran bemessen, wie viele Optio­nen sie haben. Ihre ganze Libido hängt mittlerweile am Erschließen von Op­tionen. Das aber ist ein kultureller Irr­tum, denn das Leben wird erst dann gut, wo man eine Möglichkeit auch tat­sächlich umsetzt.

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In unserer Gesellschaft haben wir das Gefühl, frei zu sein. Keiner sagt uns, wie wir leben müssen, ob und wen wir heiraten müssen, was wir glauben sollen. Und doch sagen die meisten Menschen bei fast allem, was sie tun: „Ich muss." Den ganzen Tag müssen wir. Wir sitzen fast alle in erbarmungslosen Hamsterrädern. Wir sind also gleich­zeitig maximal frei und maximal unter Zwang. Und zugleich wollen wir uns so viele Optionen wie möglich offenhalten, wollen uns nie und nirgends festlegen.

Führt das zu Atemlosigkeit und Verunsicherung? Denn wer sich festlegt, könnte ja etwas noch Verheißungsvolleres verpassen.

Ja, und in dieser Unschlüssigkeit drückt sich eine weitere Angst aus: davor, ste­hen zu bleiben – und so zurückzufallen. Wer sich an etwas festhält, ist nicht flexibel. Unsere Beschleunigungsge­sellschaft aber erfordert einen extrem hohen Grad an Flexibilität. Je dynami­scher die Gesellschaft wird, je schneller sich Kontexte ändern, umso verhäng­nisvoller wird es, sich festzulegen.

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Man kann heute nicht mehr sa­gen: Ich kaufe mir den neuesten Computer, und mit dem werde ich alt. Stehen bleiben heißt heute immer: zurückrutschen.

Ist also Angst unser Motivator?

Im Kern ja. Viele meinen, Gier treibe uns an, das ist falsch: Es ist die Angst. Wir sind gar nicht getrieben von dem Verlangen, immer höher, immer schnel­ler, immer weiter zu kommen, sondern von der Angst, nicht mehr mitzukom­men, abzurutschen, zurückzufallen.

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In der Beschleunigungslogik spiegelt sich auch die Angst vor dem Tod. Jeder weiß, dass er irgendwann sterben muss, dass seine Zeit begrenzt ist. Ohne Gott und Glauben bezieht sich all unser Handeln und Sein einzig auf das Diesseits. Wenn es uns nun gelänge, immer schneller zu werden, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu erleben, zu reisen, zu konsumieren, zu produzieren, dann könnten wir das Leben dehnen, dem Tod förmlich entrinnen. Dann könnten wir die ganze Welt vor dem Tod ausschöpfen, gleichsam ein ewiges Leben vor dem Tod haben. Wir alle sagen doch: Klar muss ich irgendwann sterben, aber bevor es so weit ist, will ich noch ganz viele Dinge tun.

War das nicht zu allen Zeiten so?

In gewisser Weise ja. Doch seit den 1990er Jahren erleben wir eine massive Beschleunigungswelle, ausgelöst durch das Internet und die Digitalisierung zahlloser Prozesse – in der Kommu­nikation, Produktion, im Transport. Gleichzeitig sind die Informations­- und vor allem Geldströme global geworden.

Durch die Deregulierung und Digitalisierung der Finanzmärkte rasen gewaltige Kapitalmengen in Sekundenbruchteilen um die Welt. Die massivste Veränderung, der am tiefsten greifende Wandel aber hat sich in den letzten Jahrzehnten in uns selbst vollzogen. Es ist zu einem radikalen Perspektivwechsel gekommen.

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Wie meinen Sie das?

Über lange Zeit glaubten Menschen, durch Fortschritt und Veränderung werde die Welt nicht nur anders, son­dern auch besser. Mit der Beschleuni­gung ging also eine Hoffnung einher: Durch Wachstum überwinden wir öko­nomische Knappheit, Mangel, Armut, Unwissenheit. Der technische Fort­schritt wird uns auch helfen, das Zeit­problem zu überwinden.

Diese Sicht hat sich stark gewan­delt. Heute haben Menschen nicht mehr das Gefühl, Wachstum und Be­schleunigung dienten der Verbesserung der Welt – sondern der Vermeidung der Krise. Das politische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Credo lautet heute nicht mehr: Wir wollen wachsen und beschleunigen, um die Welt besser zu machen. Sondern: Wir müssen alles Er­denkliche tun, um unsere Innovations­kraft zu steigern, unsere Produktivität zu erhöhen, Wachstum zu sichern.

Andernfalls würden wir abgehängt werden im globalen Wettbewerb.

Genau, ohne Wachstum und Beschleunigung drohen ökonomische und politische Krisen. Aber selbst und gerade mit Wachstum und Beschleunigung drohen ökologische Krisen. Der Moti­vator, der Antrieb liegt also nicht mehr vor uns, sondern hinter uns: Wir laufen nicht auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir rennen vor einem düsteren Abgrund davon.

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Das ist ein Wandel der kulturellen Perspektive um 180 Grad.

Diesen perspektivischen Bruch offenbaren etliche Umfragen in Japan, in den USA, in Europa. Mehr und mehr Eltern sagen: Wir investieren alles, was wir haben, nicht etwa, damit unsere Kinder eine bessere Zu­kunft haben – sondern damit ihre Zukunft nicht noch schlechter aussieht als die Gegenwart.

Führt dieser Verlust an Hoffnung unter anderem auch dazu, dass immer mehr Menschen an Burnout und Depressionen erkranken?

Ja. Das ist genau meine These. Burnout entsteht nicht dadurch, dass man viel zu tun hat. Arbeit macht ja per se weder krank noch unglücklich. Und auch frü­her schufteten Menschen immens viel. Denken Sie nur an die Trümmerfrauen. Die haben unfassbar hart gearbeitet, die waren auch erschöpft. Aber die lit­ten nicht an der Art von Burnout, die wir heute beobachten.

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Das lag daran, dass es für die Menschen damals einen Zielhorizont gab: die Hoffnung, irgendwann wird der Trümmerberg abgebaut sein, ir­gendwann wird ein neues Haus dort stehen – und die Welt besser sein.

Die heutigen Zielhorizonte dage­gen scheinen nicht erreichbar zu sein: Optimierung kennt keine Ziellinie. Man kann Quartalszahlen in Unter­nehmen, Quoten in den Medien, Publikationslisten in den Wissenschaften und auch den Body­-Mass-­Index immer weiter verbessern. Völlig gleichgültig, wie effizient, innovativ, groß wir heute sind – morgen müssen wir noch eine Schippe drauflegen, wenn wir unseren Platz halten wollen.

Prof. Dr. Hartmut Rosa ist renommierte Zeitforscher. Er lehrt Soziologie an der Universität Jena und leitet das Max-Weber-Kolleg in Erfurt.Das ganze Interview finden Sie in der GEO Wissen-Ausgabe "Zeit für die Seele" - jetzt im GEO Shop.

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