Die Gluckenfalle | Zeitpunkt
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Die Gluckenfalle
Eltern machen vieles falsch. Besonders wenn sie krampfhaft versuchen, dies zu verhindern. Ein Blick in die pädagogische Vorhölle.
«Das Leben ist ein Spiel», sagt der Vater zu seinem Sohn. «Es geht um Freiheit, Abenteuer und um Spass. Nur weil Leute überall auf der Welt leiden, heisst das nicht, dass du verpflichtet bist, ebenfalls zu leiden!» Der Vater nennt sich Cloud Rock und ist das Antidot zur amerikanischen Nine-to-five-Arbeitswelt. Er lebte unter anderem in hawaiianischen Hippie-Kommunen, experimentiert mit psychedelischen Drogen und geniesst den Müssiggang. Ein Freigeist, der auch seinem Sohn die grösstmögliche Freiheit wünscht. Endlich ein Herr Papa, der keine Vorschriften macht und nie mit dem Lehrer reden will!
Das pure Gegenteil sind Randy und Lisa Wilson, Eltern einer neunköpfigen Familie in Colorado Springs. Sie geben ihren fünf Töchtern und zwei Söhnen das Gefühl der ultimativen familiären Sicherheit. Der Vater steht seinen Kindern mit Rat und Tat zur Seite, vermittelt ihnen Moral und Werte. Die Mutter nimmt sich die Zeit, die Kinder im Haus zu unterrichten. Der hochanständige Nachwuchs konsumiert keine Drogen, er begeht weder kriminelle Taten noch ist er promiskuitiv. Die Kinder fluchen nicht und sind hübsch anzusehen.
Im falschen Film
Was den Anschein von zwei gesunden Eltern-Kinder-Beziehungen macht, ist ein Blick in die pädagogische Vorhölle.
Der sympathische Cloud Rock gönnte seinem Sohn Kaleo überwiegend die Freiheit, ohne Vater gross zu werden. Nur: Der heute 34- jährige Filmemacher erinnert sich, seinen Vater drei Jahrzehnte vermisst zu haben. Als Fünfjähriger gibt sich das Kind einen neuen Namen, weil es nicht mehr wie Vaters Lieblingsdroge «Ganja» heissen will. Im Dokumentarfilm «Beyond this Place» verarbeitet Kaleo la Belle die gescheiterte Vater-Sohn-Beziehung und sucht dabei nach Antworten. Dass Vaters Suche nach Freiheit auf Kosten des Sohnes ging, weist Cloud Rock vor der Kamera aber von sich. «Kinder suchen sich ihre Eltern selbst aus», da könne er nichts dafür, wenn sein Sohn mit ihm nicht zufrieden sei.
Auch das aufopfernde Ehepaar Wilson wünschen wir niemandem als Erziehungsberechtigte. Sie sind Protagonisten in Mirjam von Arx‘ Film «Virgin Tales». Ein Dokumentarfilm, der den Alltag einer evangelikalen Familie beschreibt, welche die elterliche Paranoia mit Keuschheitsbällen unterstreicht. Eine Art Märchenhochzeit, bei denen Väter jungfräulicher Töchter geloben, alles zu tun, um ihre Töchter keusch in die Ehe zu schicken. Aus Angst, ihnen könne etwas zustossen oder sie könnten durch fremde Einflüsse vom rechten Weg abkommen, dürfen die Kinder nicht an eine öffentliche Schule. Die Welt da draussen, wie es die Mutter Lisa (53) nennt, sei ein «Tsunami». Für die Töchter lebensbedrohlich.
Helikoptereltern machen aggressiv
Die beiden Beispiele zeigen die Bandbreite zwischen Überbehütung und Vernachlässigung. Ab wann ist mehr zu viel und ist weniger nicht genug? Kinder wollen keinen Vater, der wie ein Helikopter über ihnen kreist und bei jeder neuen Handlung die Luft anhält. Auch keine Mutter die – in Finnland nennt man sie «Curlingmütter» – den Kindern jedes Hindernis aus dem Weg wischt. Kinder wollen meist mehr Selbständigkeit, als ihre Eltern zu geben bereit sind. Im Elternmagazin «Nido» beschreibt eine ängstliche Autorin, wie sie im Sessel vor der Nachbarstür schläft, weil ihre Tochter zum ersten Mal bei ihrer Freundin (der Nachbarin) übernachtet. Die Tochter könnte aufwachen und im Treppenhaus nicht nach Hause finden. Dafür gibt es einen Namen: «Empty-Nest-Syndrom» (ENS). Normalerweise tritt das Krankeitsbild bei Eltern auf, deren Nachwuchs ausgezogen ist. Es soll bis zu 18 Monate andauern und Leere, Verwirrtheit, sogar Depressionen hervorrufen. Aber das totalitäre Verhalten der Nachtwächtermutter verrät, dass die Nest-Leere bereits früher eintreten kann. Dann, wenn das Kind erste eigenständige Schritte macht und nicht mehr auf die permanente Hilfe und Fürsorge der Eltern angewiesen ist. Spätestens also, wenn sich nicht mehr auszahlt, dass Eltern ihre ganze Existenz rund um das Kind aufbauen.
Helikopter- und Curling-Eltern sind Menschen, die sich exzessiv in die Angelegenheiten ihrer Kinder einmischen. Vordergründig weil ihr Verantwortungsgefühl mit ihnen durchbrennt. Sie schätzen die Gefahren für ihre Sprösslinge falsch ein, sind leicht paranoid und für die übrige Welt die Ursache, warum aus Kindern Tyrannen werden. Der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff erkennt das Problem dieser Eltern am Mangel an Orientierung und Anerkennung. So, dass sie ihr Kind zur Kompensation benutzen. Die überlasteten und meist verplanten Kinder tappen dann in die «Gluckenfalle», wie Josef Kraus, deutscher Schulpsychologe, es nennt. Er beobachtet bei Kindern eine «Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen», weil sie sich darauf verlassen, dass ihre Eltern alles für sie erledigen.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul erkennt hinter überaktivem Engagement den Narzissmus der Eltern. Die Kinder sollen sich als Visitenkarte der elterlichen Kompetenz ausweisen. Für Juul sind die Schäden der Überbehütung dann auch schlimmer als die Folgen von Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse. Die finnische Psychologin Pirkko Niemelä ihrerseits liefert Indizien zu dieser These. Sie untersuchte Frauen, die ihre Mutterrolle und ihre Kinder idealisierten. Das erschreckende Resultat der mehrjährigen Forschungsarbeit zeigte: Frauen, die sich als perfekte Mütter sehen, erkennen die Bedürfnisse ihrer Kinder nur mangelhaft. Je mehr die Frauen auf ihre Mutterrolle ausgerichtet sind, desto weniger sind sie empfänglich für die Bedürfnisse der Kinder; sie können nicht auf deren Impulse eingehen. In Niemeläs Studie waren die Kinder der untersuchten Frauen zwar überdurchschnittlich kooperativ und angepasst – wie die Wilson-Kinder –, dafür unselbständig, unsicher und sie zeigten sehr hohe Aggressionswerte auf. Die heutige Überidentifikation mit Elternschaft zahlt sich für die kommende Generation nicht aus. Vernachlässigung auch nicht – da ist man sich einig.
Elterliche Verantwortung
Und doch herrscht Verunsicherung im Kinderzimmer. Für junge Eltern wird es zunehmend schwierig, klar zu denken. Von links überholen frühgeförderte Wunderkinder den Nachwuchs und von rechts Rabauken mit AD(H)S. Die wachsende Anzahl ExpertInnen mit unterschiedlichen Erziehungskonzepten geben Eltern das Gefühl, falsch zu erziehen. Die Angst, die prägenden Kinderjahre zu vermasseln, ist die Folge. Dabei ist es denkbar einfach: Der Mensch ist am Fortbestand seiner Spezies interessiert. Elterlicher Verantwortung unterliegt es, der kommenden Generation mitzugegeben, wie sie ihr Überleben sichert und dies auf angenehme Weise tut. Damit das für keine der Parteien ein zermürbender Prozess wird, halten sich Eltern am besten an den deutsch-schweizerischen Psychoanalytiker Arno Grün. Er rät: «Hört auf, eure Kinder als Projektionsfläche für eure Wünsche zu missbrauchen und hört auf, euer Selbstwertgefühl durch sie zu polieren.» Aber eben, auch das ist eine Expertenmeinung
Vielleicht ist der Rückgriff auf einen einfachen Grundsatz hilfreich: Gute Eltern gehen nicht von sich aus, sondern von ihrem Kind. Eltern erkennen, was es will, was es braucht und was ihm guttun würde. Man nennt diese Fähigkeit Empathie, und wenn man genug davon hat, kann man als Eltern fast nichts falsch machen.
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Kaleo La Belle: Beyond this Place. Schweiz 2010, Dokumentarfilm 95 Min.Mirjam von Arx: Virgin Tales. Schweiz 2012, Dokumentarfilm 87 Min.
Das pure Gegenteil sind Randy und Lisa Wilson, Eltern einer neunköpfigen Familie in Colorado Springs. Sie geben ihren fünf Töchtern und zwei Söhnen das Gefühl der ultimativen familiären Sicherheit. Der Vater steht seinen Kindern mit Rat und Tat zur Seite, vermittelt ihnen Moral und Werte. Die Mutter nimmt sich die Zeit, die Kinder im Haus zu unterrichten. Der hochanständige Nachwuchs konsumiert keine Drogen, er begeht weder kriminelle Taten noch ist er promiskuitiv. Die Kinder fluchen nicht und sind hübsch anzusehen.
Im falschen Film
Was den Anschein von zwei gesunden Eltern-Kinder-Beziehungen macht, ist ein Blick in die pädagogische Vorhölle.
Der sympathische Cloud Rock gönnte seinem Sohn Kaleo überwiegend die Freiheit, ohne Vater gross zu werden. Nur: Der heute 34- jährige Filmemacher erinnert sich, seinen Vater drei Jahrzehnte vermisst zu haben. Als Fünfjähriger gibt sich das Kind einen neuen Namen, weil es nicht mehr wie Vaters Lieblingsdroge «Ganja» heissen will. Im Dokumentarfilm «Beyond this Place» verarbeitet Kaleo la Belle die gescheiterte Vater-Sohn-Beziehung und sucht dabei nach Antworten. Dass Vaters Suche nach Freiheit auf Kosten des Sohnes ging, weist Cloud Rock vor der Kamera aber von sich. «Kinder suchen sich ihre Eltern selbst aus», da könne er nichts dafür, wenn sein Sohn mit ihm nicht zufrieden sei.
Auch das aufopfernde Ehepaar Wilson wünschen wir niemandem als Erziehungsberechtigte. Sie sind Protagonisten in Mirjam von Arx‘ Film «Virgin Tales». Ein Dokumentarfilm, der den Alltag einer evangelikalen Familie beschreibt, welche die elterliche Paranoia mit Keuschheitsbällen unterstreicht. Eine Art Märchenhochzeit, bei denen Väter jungfräulicher Töchter geloben, alles zu tun, um ihre Töchter keusch in die Ehe zu schicken. Aus Angst, ihnen könne etwas zustossen oder sie könnten durch fremde Einflüsse vom rechten Weg abkommen, dürfen die Kinder nicht an eine öffentliche Schule. Die Welt da draussen, wie es die Mutter Lisa (53) nennt, sei ein «Tsunami». Für die Töchter lebensbedrohlich.
Helikoptereltern machen aggressiv
Die beiden Beispiele zeigen die Bandbreite zwischen Überbehütung und Vernachlässigung. Ab wann ist mehr zu viel und ist weniger nicht genug? Kinder wollen keinen Vater, der wie ein Helikopter über ihnen kreist und bei jeder neuen Handlung die Luft anhält. Auch keine Mutter die – in Finnland nennt man sie «Curlingmütter» – den Kindern jedes Hindernis aus dem Weg wischt. Kinder wollen meist mehr Selbständigkeit, als ihre Eltern zu geben bereit sind. Im Elternmagazin «Nido» beschreibt eine ängstliche Autorin, wie sie im Sessel vor der Nachbarstür schläft, weil ihre Tochter zum ersten Mal bei ihrer Freundin (der Nachbarin) übernachtet. Die Tochter könnte aufwachen und im Treppenhaus nicht nach Hause finden. Dafür gibt es einen Namen: «Empty-Nest-Syndrom» (ENS). Normalerweise tritt das Krankeitsbild bei Eltern auf, deren Nachwuchs ausgezogen ist. Es soll bis zu 18 Monate andauern und Leere, Verwirrtheit, sogar Depressionen hervorrufen. Aber das totalitäre Verhalten der Nachtwächtermutter verrät, dass die Nest-Leere bereits früher eintreten kann. Dann, wenn das Kind erste eigenständige Schritte macht und nicht mehr auf die permanente Hilfe und Fürsorge der Eltern angewiesen ist. Spätestens also, wenn sich nicht mehr auszahlt, dass Eltern ihre ganze Existenz rund um das Kind aufbauen.
Helikopter- und Curling-Eltern sind Menschen, die sich exzessiv in die Angelegenheiten ihrer Kinder einmischen. Vordergründig weil ihr Verantwortungsgefühl mit ihnen durchbrennt. Sie schätzen die Gefahren für ihre Sprösslinge falsch ein, sind leicht paranoid und für die übrige Welt die Ursache, warum aus Kindern Tyrannen werden. Der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff erkennt das Problem dieser Eltern am Mangel an Orientierung und Anerkennung. So, dass sie ihr Kind zur Kompensation benutzen. Die überlasteten und meist verplanten Kinder tappen dann in die «Gluckenfalle», wie Josef Kraus, deutscher Schulpsychologe, es nennt. Er beobachtet bei Kindern eine «Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen», weil sie sich darauf verlassen, dass ihre Eltern alles für sie erledigen.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul erkennt hinter überaktivem Engagement den Narzissmus der Eltern. Die Kinder sollen sich als Visitenkarte der elterlichen Kompetenz ausweisen. Für Juul sind die Schäden der Überbehütung dann auch schlimmer als die Folgen von Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse. Die finnische Psychologin Pirkko Niemelä ihrerseits liefert Indizien zu dieser These. Sie untersuchte Frauen, die ihre Mutterrolle und ihre Kinder idealisierten. Das erschreckende Resultat der mehrjährigen Forschungsarbeit zeigte: Frauen, die sich als perfekte Mütter sehen, erkennen die Bedürfnisse ihrer Kinder nur mangelhaft. Je mehr die Frauen auf ihre Mutterrolle ausgerichtet sind, desto weniger sind sie empfänglich für die Bedürfnisse der Kinder; sie können nicht auf deren Impulse eingehen. In Niemeläs Studie waren die Kinder der untersuchten Frauen zwar überdurchschnittlich kooperativ und angepasst – wie die Wilson-Kinder –, dafür unselbständig, unsicher und sie zeigten sehr hohe Aggressionswerte auf. Die heutige Überidentifikation mit Elternschaft zahlt sich für die kommende Generation nicht aus. Vernachlässigung auch nicht – da ist man sich einig.
Elterliche Verantwortung
Und doch herrscht Verunsicherung im Kinderzimmer. Für junge Eltern wird es zunehmend schwierig, klar zu denken. Von links überholen frühgeförderte Wunderkinder den Nachwuchs und von rechts Rabauken mit AD(H)S. Die wachsende Anzahl ExpertInnen mit unterschiedlichen Erziehungskonzepten geben Eltern das Gefühl, falsch zu erziehen. Die Angst, die prägenden Kinderjahre zu vermasseln, ist die Folge. Dabei ist es denkbar einfach: Der Mensch ist am Fortbestand seiner Spezies interessiert. Elterlicher Verantwortung unterliegt es, der kommenden Generation mitzugegeben, wie sie ihr Überleben sichert und dies auf angenehme Weise tut. Damit das für keine der Parteien ein zermürbender Prozess wird, halten sich Eltern am besten an den deutsch-schweizerischen Psychoanalytiker Arno Grün. Er rät: «Hört auf, eure Kinder als Projektionsfläche für eure Wünsche zu missbrauchen und hört auf, euer Selbstwertgefühl durch sie zu polieren.» Aber eben, auch das ist eine Expertenmeinung
Vielleicht ist der Rückgriff auf einen einfachen Grundsatz hilfreich: Gute Eltern gehen nicht von sich aus, sondern von ihrem Kind. Eltern erkennen, was es will, was es braucht und was ihm guttun würde. Man nennt diese Fähigkeit Empathie, und wenn man genug davon hat, kann man als Eltern fast nichts falsch machen.
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Kaleo La Belle: Beyond this Place. Schweiz 2010, Dokumentarfilm 95 Min.Mirjam von Arx: Virgin Tales. Schweiz 2012, Dokumentarfilm 87 Min.