Dating: Es bleiben mehr Männer übrig, das führt zu Frust



Je freier Frauen bei der Partnerwahl werden, desto mehr Männer bleiben allein. Ist daran unsere Biologie schuld?

Männer und Frauen haben ein unterschiedliches Paarungsverhalten. Weil unsere Gesellschaft moderner wird, müssen Männer mehr Frust aushalten – das führe zu sozialen Problemen, sagt die Biologin Meike Stoverock.

Judith Blage 07.02.2023, 05.30 Uhr
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Illustration Simon Tanner / NZZ

Julian Clausens Tipps sind auf den ersten Blick bemerkenswert simpel. Auf Instagram und Tiktok rät er Männern, «sich Frauen zu öffnen und Verletzlichkeit zuzulassen». Häufig geht es auch um die weibliche Anatomie: So hält er zum Beispiel in einem Video eine Avocado in die Kamera und reibt mit dem Zeigefinger über deren Spitze – um die richtige Stimulation der Klitoris zu demonstrieren.

Man könnte meinen, mit derlei Informationen seien junge Männer von heute nicht mehr zu beeindrucken. Doch offenbar gibt es Bedarf nach mehr: Mittlerweile richten sich viele Influencer und Berater wie Julian Clausen an Männer mit Ängsten und Sorgen in Bezug auf Frauen und Beziehung. Clausen selbst war jahrelang in der Pick-up-Szene unterwegs, einer Gruppierung von Männern, die sich durch die Anwendung bestimmter Verhaltensweisen und psychologischer Methoden bessere Chancen bei der sexuellen Verführung von Frauen verspricht – und dabei rücksichtslos und mitunter frauenverachtend vorgeht.

«Die Methoden der Pick-up-Artists sind frauenfeindlich und manipulativ», sagt Julian Clausen. Doch solche Gruppierungen hätten eines richtig erkannt: Männer hätten heute viel Stress und Mühe damit, Frauen überhaupt zu erobern – und dann eine vertrauensvolle Beziehung zu führen.

Sie suchten Rat und Hilfe und fänden zweifelhafte Tipps bei den Pick-up-Artists. «Da setze ich an, ganz ohne frauenverachtende Methoden. Ich berate Männer, häufig zu ihren sexuellen Ängsten.» Was er in seiner Beratung Männern gegenüber besonders betont: Frauen sind auch nur Menschen. «Bei all dem Stress mit der Verführung und dem Online-Dating vergessen das tatsächlich viele Männer.»

Eine gewisse Gruppe Männer bleibt links liegen

Haben es Männer heute wirklich schwerer als früher? Die Biologin Meike Stoverock sagt: Ja. Sie hat eine These zum Partnermarkt im Zeitalter des Beziehungskapitalismus formuliert und ein Buch geschrieben, in dem sie auch die biologischen Grundlagen für unser Verhalten diskutiert. «Männer haben heute zunehmend Schwierigkeiten, dauerhaft oder regelmässig Sexpartnerinnen zu finden», sagt sie. «Und das liegt auch an unserer Biologie.»

Vor allem hat sich die Rolle der Frau in der Gesellschaft in den vergangenen fünfzig Jahren extrem gewandelt. «Frauen haben seit der Erfindung der Pille die Kontrolle über sich selbst als Individuen ausserhalb der Mutterrolle. Immer weniger Frauen sind ausserdem finanziell von einem Versorger abhängig, sie brauchen also im klassischen Sinne keinen Mann mehr, um überhaupt einen eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden», erklärt Stoverock. In der Folge suchten sich Frauen Männer aus, für die sie sich wirklich interessierten – der Rest bleibe links liegen. Frauen seien heute deutlich wählerischer, als sie es wohl in den vergangenen Jahrhunderten gewesen seien.

Denn wählerischer als die Männchen sind die Weibchen der meisten Tierarten prinzipiell. «In der Biologie gibt es das Prinzip der Female Choice. Ob es zu Sex und damit zur Fortpflanzung kommt, das bestimmen meist die Weibchen», sagt Stoverock. Dies sei zwar kein Naturgesetz, aber im Tierreich der statistische Normalfall. Sie argumentiert mit der sogenannten Parental Investment Theory. Diese hatte in den 1970er Jahren der Evolutionsbiologe Robert Trivers von der Universität Harvard aufgestellt.

Frauen kontrollieren den Zugang zu Sex

In aller Kürze zusammengefasst, geht sie so: Dasjenige Geschlecht, welches den höchsten Aufwand in die Fortpflanzung investieren muss und dabei das höhere Risiko trägt, ist wählerischer bei der Wahl eines Sexualpartners. Bei den Säugetieren haben die Männchen theoretisch unendlich viele Samenzellen und damit viele Möglichkeiten, Nachwuchs zu bekommen.

In einem Frauenleben reift nur eine begrenzte Anzahl Eizellen heran, und Frauen können in ihrem Leben nur eine Handvoll Kinder gebären. Zumindest im Vergleich zu Männern, die theoretisch sehr viele Nachkommen produzieren können – einmal angenommen, sie bekommen Zugang zu vielen Sexualpartnerinnen. Einmal Sex kann also weitreichende und langjährige Folgen für Frauen haben: Menschenmütter tragen ihr Kind neun Monate lang aus und stillen es danach noch, das kostet viel Energie. Zusätzlich waren und sind sie eher für die Aufzucht der Kinder zuständig, weltweit, in allen bekannten Kulturen – das zeigen Statistiken. Ein Fehler bei der Partnerwahl hat also hohe Kosten – während die Männer zumindest körperlich vollkommen aus dem Schneider sind.

Gemäss der bestechenden Logik dieser Theorie suchen Frauen nach Partnern mit hoher Qualität, mit denen sich die Aufzucht nicht nur genetisch lohnt, sondern die auch verlässlich sind und die Ressourcen haben, um die Frau langfristig zu unterstützen. «Es ist der soziale Status, den Frauen wollen, denn der verspricht gute Chancen für den Nachwuchs», sagt Axel Meyer.

Die Verhaltensweisen sitzen tief

Der Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz hält solche Mechanismen noch immer für sehr wirksam: «Wir betreiben zwar gesellschaftliches Engineering und versuchen vieles zu verändern. Aber bei solchen Verhaltensweisen geht es nicht um bewusste Kalkulation. Letztlich sind wir Kinder der Evolution, und unsere Verhaltensweisen sind mindestens teilweise genetisch vorgeprägt», sagt er. «Auch wenn wir es gerne anders hätten.»

So ist bei den Männchen – auch bei den Menschenmännern – grundsätzlich eine stärkere Varianz im
Fortpflanzungserfolg zu sehen als bei den Weibchen. «Auf Deutsch heisst das: Bei den meisten Tieren kann die Mehrheit der Weibchen davon ausgehen, begattet zu werden und sich fortzupflanzen. Bei den Männchen bleiben mehr übrig, und einige kommen bei den Weibchen nie zum Zuge», sagt Axel Meyer. Manche Männchen pflanzen sich dafür mehrfach und mit verschiedenen Weibchen fort. Diese in der Biologie altbekannte Tatsache heisst Bateman-Prinzip.

«Ein extremes Beispiel sind die See-Elefanten, eine Robbenart. Unter ihnen gibt es die Beach-Master. Ein statushohes, starkes und gesundes Männchen begattet fast alle Weibchen und hat nach einer Saison Hunderte Nachfahren.»

Wir haben mehr weibliche Vorfahren

Männer müssen sich also mehr anstrengen, um beim anderen Geschlecht Gehör zu finden. Bei den Tieren ist das bunte Gefieder der männlichen Vögel Ausdruck der Bemühungen oder die grossen Geweihe der Hirsche, die Weibchen beeindrucken sollen. Bei den Menschen ist es der Status, der von Männern durchaus mit eindeutigen Symbolen wie Autos und Geld zur Schau gestellt wird.

Tatsächlich zeigen verschiedene genetische Analysen, dass auch moderne Menschen mehr weibliche Vorfahren haben als männliche. Eine amerikanische Genanalyse zur weltweiten Verbreitung von Y-Chromosom-Sequenzen, die nur Männer vererben, kommt zu dem Schluss: In einer Zeit vor etwa 4000 bis 8000 Jahren kam auf siebzehn Frauen, die sich fortpflanzten, nur ein Mann. Es haben also viele prähistorische Frauen mit ihrem Genom einen Abdruck in der heutigen Bevölkerung hinterlassen – aber nur eine illustre Auswahl an Männern, die sich offenbar dafür mit vielen Frauen fortpflanzten.

Dafür gibt es eine mögliche Erklärung: «Am weitesten verbreitet in der Welt ist tatsächlich das einseitig polygame Modell, in dem ein ressourcenreicher Mann mehrere Frauen hat», sagt der Evolutionsbiologe Meyer. Tatsächlich war und ist es in 85 Prozent aller Gesellschaften, die Anthropologen je beschrieben haben, üblich, dass manche Männer mit mehreren Frauen leben.

Die klassische Ehe reduziert Konflikte

Doch hier in Mitteleuropa war es eben jahrhundertelang anders. Hier regelte etwa ab dem 6. Jahrhundert die römisch-katholische Kirche das Ehe- und Familienrecht. Die monogame Ehe und die patriarchalisch geregelten Besitzverhältnisse reduzierten soziale Spannungen, schreibt unter anderem der Anthropologe Joseph Henrich.

Tatsächlich ergibt – historisch gesehen – für eine stabile Gesellschaft die klassische Monogamie und Rollenverteilung Sinn: «Dass monogame Gesellschaften friedlicher sind und ein hoher Männerüberschuss sozialer Sprengstoff ist, der viele kriegerische Konflikte verursacht, gilt schon lange als Konsens», bestätigt Axel Meyer.

Frauen verteilten sich durch das monogame Gesellschaftsmodell, was früher häufig Zwangsverheiratung minderjähriger Töchter bedeutete, relativ gleichmässig auf Männer, Sex und das Recht auf Fortpflanzung waren so für die meisten dauerhaft zugänglich. «Mit dem Nachteil für Frauen, dass sie in einer hundertprozentigen Abhängigkeit zu den männlichen Familienmitgliedern standen und lange kaum Rechte hatten», sagt Meike Stoverock.

Doch diese Regulation der biologischen Verhältnisse bröckelt heute – aus guten Gründen. Sehr gut sehen könne man die modernen Verhältnisse an Auswertungen von Dating-Plattformen, so Stoverock: «Männer finden einen grossen Teil der Frauen so attraktiv, dass sie sie kennenlernen wollen. Frauen wiederum nur einen winzig kleinen Teil der Männer.»

Frauen urteilen beim Online-Dating ungehemmt

Weil beim Online-Dating die Ansprüche der sozialen Erwünschtheit wegfielen, könnten Frauen dort heute ungehemmt ihre Ansprüche zum Ausdruck bringen und würden das auch tun. «Daheim, unbeobachtet vor dem eigenen Rechner und ohne Angst vor einer urteilenden Umwelt, zeigt sich, was die Frau wirklich über einen Mann denkt, und das ist in sehr vielen Fällen ein knallhartes ‹Uninteressant, next›», sagt Stoverock.

Aus diesem Grund litten heute viele Männer unter dem Problem, dass sie auf Online-Dating-Plattformen kaum Rückmeldungen von Frauen bekämen, während viele Frauen sich vor Anfragen kaum retten könnten. Tatsächlich ergaben mehrere Befragungen und Analysen ähnliche Zahlen: Frauen wählen härter aus und wischen etwa 14 Prozent aller Männer auf Ja, während Männer mindestens die Hälfte aller präsentierten Frauen zumindest theoretisch kennenlernen wollen.

«Die zunehmende Schwierigkeit für einige Männer, dauerhaft Sexpartnerinnen zu finden, führt langfristig zu sozialen Spannungen», sagt Stoverock. Männchen, die keine Partnerin fänden, machten häufig Probleme, das sehe man auch im Tierreich. Die Unzufriedenheit und der Frust führten zu einem Anstieg der Aggressionen und der Kriminalität.

Tatsächlich steigt in Weltregionen wie China und Indien, in denen Männerüberschuss herrscht und viele Männer keine Hoffnung auf eine Partnerin haben, die Kriminalität. «Männer, die um nur wenige Frauen konkurrieren und ihre Hoffnung auf Lebenserfolg schwinden sehen, sind zu allerhand asozialem Verhalten bereit», schreibt etwa der Anthropologe Joseph Henrich.

Manche Frustrierte werden zu Frauenhassern

Meike Stoverock sieht in gegenwärtigen Strömungen bereits Entwicklungen in diese Richtung. Betroffene Männer fänden sich zum Beispiel im Internet zur sogenannten Manosphere zusammen. Die Manosphere bezeichnet Zusammenschlüsse von Männern, die von Frauenhass und ultrakonservativen Weltbildern gekennzeichnet sind.

Dazu gehören zum Beispiel die Pick-up-Szene und die gewaltbereite Incel-Bewegung, auf die sich mehrere Amokläufer und Straftäter berufen haben. Incel ist ein Kofferwort aus dem englischen involuntary für unfreiwillig und celibate für enthaltsam/zölibatär. Es handelt sich also um Männer, die keinen Zugang zu sexuellen Beziehungen haben und darüber hinaus der Idee einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. So hatte zum Beispiel der junge Mann, der 2019 in Deutschland das Attentat auf eine Synagoge in Halle beging, Bezüge zur Incel-Bewegung.

Doch was ergibt sich daraus? Die gesellschaftlichen Entwicklungen wieder umzukehren und klassische Rollenverhältnisse wieder einzuführen, kann ja nicht die Lösung sein. «Nein», sagt Meike Stoverock. «Aber wir sollten neue Lebensnormen und -bilder entwickeln, damit viele Menschen, die allein bleiben, damit auch zufrieden leben können und nicht als Versager gelten.»

Vielleicht hilft es einigen Männern auch, sich an Coaches wie Julian Clausen zu wenden – und sich damit ein attraktiveres Gefieder für die moderne Frau anzulegen.

Vielleicht könnten unter dem Strich auch alle einfach etwas zufriedener sein, wenn wir unsere Partnerwahl mehr reflektieren, vergeistigen; die Tiefe suchen – statt spontan triebgesteuert auf kurzfristige Pheromon-Explosionen zu setzen und dann den Schlamassel auszubaden?