Brexit, US-Wahl und Co.: Warum gehen Wahlen oft knapp aus? - Spektrum der Wissenschaft
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Brexit, US-Wahl und Co.: Warum gehen Wahlen oft knapp aus?
Die fabelhafte Welt der MathematikWarum gehen Wahlen meist knapp aus?
Die ganze Welt blickt gespannt auf die US-Präsidentschaftswahlen am 5. November 2024. In Umfragen gaben Mitte Oktober etwa 49 Prozent der Befragten an, für die Demokratin Kamala Harris stimmen zu wollen und etwa 47 Prozent für den Republikaner Donald Trump. Wieder einmal scheint die US-Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu werden. Erstaunlicherweise sind die USA kein Einzelfall. Wenn die Bevölkerung eines demokratischen Staats zwischen zwei Alternativen entscheiden soll, geht die Wahl meist sehr knapp aus – das zeigte sich auch beim Brexit und bei der polnischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2020. Woran liegt das?
Die Antwort auf diese Frage hat mit Sicherheit eine große psychologische, demografische und soziologische Komponente. Dennoch lässt sich das Verhalten großer Personengruppen recht gut durch mathematische Modelle beschreiben. Und genau das haben die Physiker Olivier Devauchelle von der Université Paris Cité, Piotr Nowakowski vom Max-Planck-Institut für intelligente Systeme in Stuttgart sowie Ruđer Bošković Institute in Zagreb und Piotr Szymczak von der Universität Warschau gemacht. In einer im April 2024 in der Fachzeitschrift »Physical Review E« erschienenen Veröffentlichung haben sie die Wahlausgänge demokratischer Staaten seit den frühen 1900er Jahren untersucht und ein Modell erstellt, das diese beschreibt. Auf diese Weise konnten sie einen Mechanismus identifizieren, der die knappen Wahlergebnisse erklärt.
Im Mai 2016 erschütterte eine Wahl den europäischen Kontinent. Wider Erwarten hatten die britischen Wählerinnen und Wähler mit einer knappen Mehrheit von 51,9 Prozent für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, den so genannten Brexit. Das Ergebnis ist umso erstaunlicher, wenn man die vorangehenden Umfragedaten berücksichtigt. Dort waren die Stimmen sehr ungleich verteilt, so lagen im Oktober 2014 die »Remainees« (die Teil der EU bleiben wollten) knapp 20 Prozentpunkte vor den »Brexiters«. Je näher der Abstimmungstag heranrückte, desto mehr deuteten die Umfragen auf ein 50-50-Ergebnis.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch, wenn man auf die polnische Präsidentschaftswahl am 12. Juli 2020 blickt. Damals trat der parteilose Andrzej Duda, den die nationalistische PiS-Partei unterstützte, gegen den wirtschaftsliberalen Rafał Trzaskowski an. In den Umfragen führte Duda im Mai 2020 noch mit etwa 54 Prozent der Stimmen, am Wahltag erhielt er aber nur ein Prozent mehr der Stimmen als sein Rivale. Auch hier zeigte sich: Je näher der Wahltag heranrückte, desto knapper fielen die Unterschiede in den Umfragewerten aus.
»Wir können uns fragen, wie – und nicht warum – eine große Menge miteinander verbundener Wähler zu so einem bemerkenswert organisierten Zustand kommt«, sagt der Forscher Olivier Devauchelle in Anbetracht der sich einstellenden Gleichgewichte zwischen beiden Parteien. Das lässt sich mit mathematischen Modellen untersuchen.
Komplexer als ein Münzwurf
Um ein solches Verhalten zu modellieren, könne man zunächst wie in der Spieltheorie üblich davon ausgehen, dass jeder Wähler eine Münze wirft – das Ergebnis einer solchen Situation wird dann nahe bei 50-50 liegen. Allerdings spiegelt so ein vereinfachtes Modell nicht die Realität wider. Wenn man sich beispielsweise den Ausgang der polnischen Präsidentschaftswahl ansieht, wird schnell klar, dass die Wählerstimmen nicht zufällig verteilt sind. Bürgerinnen und Bürger im Osten des Landes stimmten eher für Duda, während Personen im Westen ihre Stimme eher Trzaskowski gaben.
Es scheint also, als würden sich die Wählerinnen und Wähler gegenseitig beeinflussen. Um das mathematisch zu beschreiben, haben Devauchelle, Nowakowski und Szymczak das in der Physik bekannte Ising-Modell genutzt. Dieses wird unter anderem herangezogen, um das Verhalten von magnetischen Materialien zu simulieren. Diese setzen sich im Ising-Modell aus kleinen magnetischen Einheiten zusammen, die in einem regelmäßigen Gitter angeordnet sind. Die Einheiten beeinflussen sich gegenseitig, indem sie versuchen, sich gleich auszurichten. Die Wechselwirkungsstärke benachbarter Einheiten entscheidet darüber, in welchem Zustand sich das Material befindet. Ist die Wechselwirkung schwach, erhält man ein chaotisches Ergebnis (ein Stoff ohne Magnetisierung), mit wachsender Stärke kommt es jedoch zu einem Phasenübergang, bei dem sich eine Magnetisierung einstellt. In diesem Fall hat der Großteil aller Einheiten die gleiche Ausrichtung.
Auf Wahlen übertragen, käme das einem eindeutigen Ausgang gleich. Tatsächlich trifft man solche Situationen in der Geschichte an, »allerdings meistens in bevölkerungsarmen Ländern wie Island«, sagte Devauchelle. Das fiel den Forschern auf, als sie Wahlergebnisse der letzten 100 Jahren auswerteten. »Länder mit weniger als einer Million Wählern neigen dazu, einen Konsens zu erreichen, während die Wählerschaft größerer Länder im Allgemeinen zum Zustand der gespaltenen Gesellschaft konvergiert – selbst wenn ein Lager zu Beginn der Umfragen klar in Führung lag.«
Gegen das Establishment
Damit das Ising-Modell auch die Meinungsumfragen und Wahlausgänge bevölkerungsreicher Länder modellieren kann, führten die Physiker einen »Nonkomformitätsfaktor« in das Modell ein. »Das verleiht den Menschen eine negative Einstellung gegenüber dem in den Umfragen führenden Lager«, erklärte Devauchelle. Zusammen mit Nowakowski und Szymczak simulierte er ein solches Verhalten von Wählerinnen und Wählern. Dafür griffen die drei Physiker auf ein ebenes Dreiecksnetz zurück, bei dem sich miteinander verbundene Einheiten gegenseitig beeinflussen.
Durch den Nonkomformitätsfaktor ergab sich ein erstaunlich realitätsgetreues Ergebnis. Ein anfangs ausgeglichener Zustand entwickelt sich über die Zeit immer mehr zu einem 50-50-Wahlergebnis. Zudem spaltet sich das Netzwerk in zwei Teile auf, bei dem benachbarte Einheiten meist denselben Zustand einnehmen. »Die meisten Wähler sind nur mit Gleichgesinnten verbunden, aber die Wählerschaft ist dennoch in zwei Lager gespalten«, sagte Devauchelle. »Das kommt einem bekannt vor.« Die Forscher betonen jedoch, dass soziale Netzwerke deutlich komplexer aufgebaut sind. Deren Struktur ist nicht auf zwei Dimensionen beschränkt, zudem können die Verbindungen zwischen den Menschen deutlich komplizierter ausfallen. Dennoch liefert das Modell als erste Annäherung Resultate, die nahe an reellen Szenarien liegen.
Auf die US-Präsidentschaftswahlen lässt sich das Modell jedoch nicht so leicht anwenden. Denn dort wählen die Bürgerinnen und Bürger nicht direkt einen Präsidentschaftskandidaten, sondern über Wahlmänner. Damit entscheidet eine Mehrheit in der Bevölkerung nicht zwingend den Wahlausgang. Ob Harris oder Trump das Rennen gewinnen, ist also unklar. Aber eines lässt sich sagen: Die Wahl wird höchstwahrscheinlich sehr knapp ausgehen.