Archimedes-Experiment: Eine Waage für das Vakuum - Spektrum der Wissenschaft
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Archimedes-Experiment: Eine Waage für das Vakuum
Gravitation Eine Waage für das Vakuum
»Das macht schon was mit einem, wenn man zum ersten Mal hier rein fährt«, sagt Enrico Calloni, als das Auto holpernd in den schmalen Tunnel der Mine abtaucht. Nach der gleißenden Hitze des sardischen Sommertags könnte der Kontrast kaum größer sein. Innerhalb weniger Sekunden dringt feuchte, kühle Luft in den Wagen ein, während dieser sich den Weg immer weiter hinab in die Tiefe bahnt. »Klaustrophobisch sollte man nicht sein.«
Luca Loddo, der Mann am Steuer, fährt derweil selbstsicher auf dem unebenen Boden weiter und lacht. Ein enger Stollen, 110 Meter unter der Erde, fast vollkommene Dunkelheit – das gefällt nicht jedem. »Wir müssen das Experiment so gestalten, dass wir die meiste Zeit an der Oberfläche arbeiten können und nur für wichtige Änderungen hinabsteigen müssen, betont Calloni.
Das Auto hält an, Loddo steigt aus und stattet Calloni, seinen Postdoktoranden Luciano Errico und mich mit Helmen und Taschenlampen aus. Die letzten Meter legen wir zu Fuß zurück, immer tiefer in den Stollen hinein. Als sich schließlich linker Hand eine Höhle öffnet, bleiben wir stehen. Ein Scheinwerfer ist darauf gerichtet. »Hier soll der Versuch stattfinden«, erklärt Calloni. Das erscheint unglaublich: In einer feuchten Höhle wollen italienische Forschungsgruppen ein Hochpräzisionsexperiment durchführen.
Die Umgebung hat wenig von einem Versuchslabor. Doch tatsächlich gibt es in Europa kaum einen geeigneteren Ort für das Projekt. Denn die Mine »Sos Enattos« befindet sich auf der mediterranen Insel Sardinien, die laut seismografischen Untersuchungen zu den ruhigsten Orten der Welt zählt. Dort wollen Forschungsteams um den Experimentalphysiker Enrico Calloni vom »Istituto Nazionale di Fisica Nucleare« (nationales Institut für Kernphysik, kurz INFN) in Neapel der schlechtesten theoretischen Vorhersage in der Geschichte ihres Fachs nachgehen.
Kosmologie und Quantenphysik liegen bei der Berechnung eines der fundamentalsten Werte des Universums um mehr als 120 Größenordnungen (eine 1 mit 120 Nullen) auseinander: dem Gewicht des Vakuums. Die Forscherinnen und Forscher möchten daher die ruhige Lage der Mine »Sos Enattos« in der Nähe des sardischen Dorfs Lula nutzen, um dort Hochpräzisionsmessungen vorzunehmen. Sie haben kein geringeres Ziel, als das »Nichts« zu wiegen.
Im Vakuum wimmelt es vor Teilchen
Anders als viele annehmen, ist das Vakuum nicht leer. Grund dafür ist die Quantenphysik – wie so oft, wenn es um kontraintuitive physikalische Phänomene geht. Ein bekanntes Beispiel ist die Heisenbergsche Unschärferelation: Man kann die Position und die Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmen. Das gilt auch für Energie und Zeit, was erhebliche Folgen hat: Je kürzer die Zeitspanne ausfällt, in der man ein System beobachtet, desto ungenauer lässt sich dessen Energie bestimmen. Damit kann sich die Natur kurzzeitig Energie »borgen« – je kürzer der Zeitraum, desto höher der mögliche Energiebetrag.
Da laut Einstein Masse gleich Energie ist (E=mc2), schwirren im Vakuum etliche »virtuelle« Teilchen herum, die aus dem Nichts auftauchen und sogleich wieder verschwinden. Allerdings müssen dabei einige Regeln gewahrt bleiben: Es kann beispielsweise nicht plötzlich eine elektrische Ladung entstehen. Daher können bloß neutrale Partikel wie Photonen oder Teilchen-Antiteilchen-Paare (etwa ein Elektron und ein Positron) den – gar nicht mehr so – leeren Raum kurzzeitig bevölkern. In der Physik spricht man von virtuellen Teilchen, weil sie sich nicht messen lassen – die kurzlebigen Erscheinungen entziehen sich Detektoren. Doch auch wenn man sie nicht direkt nachweisen kann, sind ihre Auswirkungen sehr wohl messbar.
Dass virtuelle Partikel nicht nur eine mathematische Konstruktion sind, sondern wirklich existieren, haben inzwischen viele Experimente belegt. Als ein Beweis gilt der »Casimir-Effekt«, wonach sich zwei gegenüberstehende Metallplatten im luftleeren Raum anziehen – auch wenn man die aufeinander ausgeübte Schwerkraft abzieht.
Grund dafür ist, dass die im Vakuum stehenden Platten den virtuellen Teilchen gewisse Grenzen auferlegen: Zwischen den beiden Objekten können nicht beliebige Lichtquanten entstehen, sondern sie müssen die Regeln der Elektrodynamik befolgen. Denn die Metallplatten wirken wie Spiegel, welche die Photonen hin- und herreflektieren und manche Wellenlängen unterdrücken, während sie andere verstärken. Dadurch können nur virtuelle Teilchen mit bestimmten Energiewerten auftauchen. Außerhalb der beiden Platten können hingegen geisterhafte Partikel beliebiger Energie entstehen.
Innerhalb der leitenden Flächen gibt es also weniger Möglichkeiten – und damit auch weniger virtuelle Teilchen. Selbst wenn diese nur kurzzeitig existieren, üben sie Druck aus: Die beiden Leiterplatten werden wegen des Teilchenungleichgewichts zwischen innen und außen zusammengepresst. Und dieser Effekt ist messbar.
Nun möchten Calloni und sein Team den Casimir-Effekt nutzen, um das Nichts zu wiegen. Doch warum sollte man das tun? Schließlich scheinen quantenmechanische Experimente alle Modelle zu bestätigen.
Zwei Theorien, die nicht zusammenpassen
Sobald Forscher sich in ein solches physikalisches Grenzgebiet begeben, in dem auch die Schwerkraft relevant wird, kommt es zu Problemen. Bisher ist es noch nicht gelungen, eine konsistente Quantengravitationstheorie auszustellen, weshalb mikroskopische Phänomene mit Quantenfeldtheorien beschrieben werden, während man auf kosmologischer Skala die 1915 von Einstein eingeführte allgemeine Relativitätstheorie heranzieht. In den allermeisten Fällen klappt das auch sehr gut, da Quanteneffekte bei riesigen Objekten wie Sonnensystemen und Galaxien keine Rolle spielen; umgekehrt die Schwerkraft bei winzigen Teilchen wie Atomen oder Quarks vernachlässigbar ist.
In einer feuchten Höhle wollen italienische Forschungsgruppen ein Hochpräzisionsexperiment durchführen
Beim Vakuum ist das allerdings anders: Schließlich handelt es sich dabei um eine grundlegende Eigenschaft des Raums. Wenn das Nichts durch die Heisenbergsche Unschärfe eine nicht verschwindende Energie besitzt, dann hat das schwerwiegende Auswirkungen – unabhängig davon, wie klein der Energiebetrag sein mag.
Gemäß der Relativitätstheorie wirken sich Vakuumfluktuationen, die kurzzeitig die Energie des Vakuums ändern, auf die Form und die Entwicklung unseres Universums aus – und zwar auf ganz bestimmte Weise, worauf Kosmologinnen und Kosmologen anfangs noch Hoffnung setzten. Denn zunächst schien es, als könne die Quantenphysik ein bedeutendes Rätsel ihres Fachs lösen: das der kosmologischen Konstante.
Das Universum dehnt sich rasant aus
Diese hängt mit zwei Beobachtungen zusammen, die unsere Vorstellung des Universums umgewälzt haben: Um 1930 erkannte der Astronom Edwin Hubble, dass der Raum keineswegs statisch ist, sondern sich ausdehnt. Und als 1998 zwei Forschungsteams weit entfernte Supernovae unabhängig voneinander untersuchten, fiel ihnen auf, dass sich das Universum nicht gleichmäßig, sondern sogar beschleunigt ausdehnt.
Die Kraft, die den Raum immer weiter auseinandertreibt, wird seither als Dunkle Energie bezeichnet. Sie wirkt demnach wie eine Art Gegenstück zur Gravitation, die verhindert, dass alle massiven Objekte irgendwann in einem Ort zusammenstürzen. Diese mysteriöse Energieform könnte von einer »kosmologischen Konstante« herrühren, die man in die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie einführt. Gleichzeitig könnte die Energie des Vakuums zum Wert der kosmologischen Konstante beitragen. Zunächst zeigte sich die Fachwelt erfreut darüber: Zwei verschiedene Bereiche der Physik schienen die beschleunigte Ausdehnung des Universums auf gleiche Weise zu erklären.
Doch die Freude währte nicht lang. Als Physiker den energetischen Beitrag des Vakuums quantenfeldtheoretisch berechneten, fiel dieser wesentlich größer aus als der Wert der kosmologischen Konstante, der sich aus den astronomischen Beobachtungen ergibt. Tatsächlich ist der Unterschied riesig: Die quantenphysikalische Vorhersage fällt um etwa 120 Größenordnungen höher aus!
Der Heureka-Moment
Der italienische Physiker Enrico Calloni will diese gravierende Abweichung nicht hinnehmen. »Um das Jahr 2000 herum las ich einen älteren Fachaufsatz des Nobelpreisträgers Steven Weinberg zu diesem Thema«, erinnert er sich. »Da kam mir erstmals die Idee für das Archimedes-Experiment.« Dass Vakuumfluktuationen existieren, ist spätestens seit dem Nachweis des Casimir-Effekts allgemein akzeptiert. Und auch die vorhergesagte Stärke der Fluktuationen kann nicht völlig daneben liegen, da Laborversuche die Theorie extrem gut bestätigen.
»Ich denke, die Menschen vor Ort befürchteten, wir würden nach einem Lager für radioaktive Abfälle suchen«Enrico Calloni
Aber bisher ist noch nie untersucht worden, wie sich virtuelle Teilchen unter dem Einfluss der Schwerkraft verhalten. Tatsächlich könnten die mysteriösen Partikel und damit auch die Vakuumfluktuationen anders mit der Gravitation wechselwirken, als wir es von gewöhnlicher Materie gewohnt sind. Um das zu überprüfen, möchte Calloni mit seinen Kolleginnen und Kollegen den Casimir-Effekt nutzen und das Unmögliche wagen: die virtuellen Teilchen mit Hilfe einer simplen Balkenwaage wiegen.
»Die dafür benötigten Grundlagen kennen wir im Prinzip schon seit Jahrzehnten«, erklärt Callonis wissenschaftlicher Mitarbeiter Luciano Errico, der am Aufbau der Archimedes-Waage beteiligt ist. »Ich habe mich anfangs selbst gewundert, warum es so lange gedauert hat, bis irgendwer auf die Idee kam, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen.«
Tatsächlich reifte Anfang der Nullerjahre in Calloni eine Idee für eine experimentelle Umsetzung heran, basierend auf dem archimedischen Prinzip: Wenn virtuelle Teilchen ein Gewicht haben, dann sollte ein Hohlraum aus Metallplatten im Vakuum eine Auftriebskraft erfahren. Denn im Inneren entstehen weniger virtuelle Partikel als außerhalb. Damit würde der Hohlraum einer Boje im Meer ähneln, die wegen des Auftriebs nach oben gedrückt wird. Da die Kraft von der Dichte der virtuellen Teilchen abhängt, hätte man somit auch deren Gewicht bestimmt.
Calloni begann 2002 in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen ein theoretisches Modell zu entwickeln, mit dem sich die Stärke der Auftriebskraft für verschiedene Systeme berechnen lässt – um damit den geeignetsten Versuchsaufbau auszutüfteln. Wie die Fachleute herausfanden, läge die Kraft in realistischen Umsetzungen bei etwa 10-16 Newton. Das ist, als wolle man die DNA in einer Zelle wiegen. Dafür sind extrem sensible Messapparate nötig. »Das erklärt, warum es bis heute noch niemand versucht hat«, sagt Luciano Errico. Tatsächlich wurden erst in den vergangenen Jahren Systeme entwickelt, die solche winzigen Werte detektieren können. Anlass für die technologischen Fortschritte gaben Gravitationswellendetektoren wie VIRGO, an dessen Aufbau Enrico Calloni maßgeblich beteiligt war.
Hochpräzisionsmessung mit einer Balkenwaage
Doch selbst mit solchen hochsensitiven Messsystemen ist eine Umsetzung des Archimedes-Experiments alles andere als einfach. Dabei ist die Grundidee simpel: An einer Balkenwaage hängen zwei fast identische Proben, aber nur in einer soll der Casimir-Effekt stattfinden. Dazu werden beide Proben in regelmäßigen Abständen um etwa vier Grad Celsius erwärmt und anschließend wieder abgekühlt. Diese Temperaturdifferenz genügt, damit eine der Proben zwischen einer supraleitenden und einer isolierenden Phase hin und her wechselt. Da die andere eine leicht veränderte Kristallstruktur besitzt, bleibt sie in diesem Temperaturfenster ein Isolator. Wegen der veränderten Leitfähigkeit variiert auch die mögliche Anzahl der virtuellen Teilchen innerhalb der ersten Probe. Damit nimmt deren Auftriebskraft periodisch zu und ab. Somit müsste die Waage (sofern virtuelle Teilchen wirklich das vorhergesagte Gewicht haben) im Takt der Temperaturveränderung schwingen wie eine Wippe, auf der zwei Kinder sitzen.
Der Ausschlag wird wegen der geringen Kraft winzig klein ausfallen. Zudem entstehen im Messapparat weitere Schwingungen, hervorgerufen durch Störungen aus der Umgebung wie seismische Erschütterungen oder thermische Schwankungen. Daher ist es extrem wichtig, die Waage so gut es geht von der Außenwelt abzuschirmen. Das grenzt die geeigneten Versuchsorte auf eine Hand voll ein – solche, an denen es wenig seismische Aktivität gibt.
Auf der Suche nach dem perfekten Ort
Bei der Suche nach einem passenden Kandidaten kamen die Forschungsteams schnell auf Sardinien. Denn es ist schon lange bekannt, dass die Mittelmeerinsel aus geologischer Sicht extrem ruhig ist. Zudem ist sie nicht allzu dicht besiedelt und somit auch der anthropogene Lärm gering. Darüber hinaus verfügt die Insel wegen ihrer Bodenschätze über mehr als 250 Minen. Solche Orte sind geradezu ideal für Hochpräzisionsexperimente. Denn im Untergrund gibt es noch weniger Erschütterungen als an der Erdoberfläche. Deshalb haben das INFN und das INGV (nationales Institut für Geophysik und Vulkanologie) eine Kollaboration mit der italienischen Region Sardinien und den Universitäten in Sassari und Cagliari gestartet, um auf der Insel gravitative Experimente durchzuführen.
»Wir haben etliche Minenbetreiber angeschrieben und von unserem Vorhaben erzählt«, berichtet Calloni. »Doch es war sehr schwer, jemanden zu finden, der sich dazu bereit erklärte, uns aufzunehmen.« Ein Grund dafür sei womöglich der Name eines der Institute, das am Archimedes-Projekt beteiligt ist, schätzt der Physiker: das Istituto Nazionale di Fisica Nucleare. »Ich denke, die Menschen vor Ort befürchteten, wir würden nach einem Lager für radioaktive Abfälle suchen.«
Aber schließlich fanden sie einen passenden Ort für das Experiment: Die italienische Bergbaugesellschaft IGEA, verantwortlich für die seit den 1990er Jahren stillgelegte Mine »Sos Enattos« im Osten der Insel, erklärte sich zu einer Zusammenarbeit bereit. Die Mine blickt auf eine lange Geschichte zurück: Bereits in der Antike bauten die Römer die darin befindlichen Erze ab. Heute ist Luca Loddo für die Schächte zuständig. Einst arbeitete er selbst als Techniker in der Mine. »Kurz bevor sie geschlossen wurde, waren nur noch etwa 30 Leute dort beschäftigt. Die haben sich dann darum gekümmert, die unterirdischen Gänge so umzubauen, dass man sie als Museum nutzen kann«, erzählt Loddo, während er uns durch die Mine begleitet.
Einige Jahre später übernahm er die Leitung und organisierte Führungen. In manchen Bereichen finden Besucher lehrreiche Installationen, welche die verschiedenen Arbeitsschritte der Minenarbeiter darstellen: hier eine Figur, die einen Karren mit Gesteinen füllt, dort jemand, der Sprengsätze an einer Wand anbringt, und an anderer Stelle ein kunstvoller Nachbau eines Arbeiters, der einen funktionsfähigen Druckluftbohrer betätigt. »Inzwischen dient die Mine nur noch dem wissenschaftlichen Betrieb«, erklärt Loddo zurück im Tageslicht.
Ein ungewöhnliches Labor
Der vorgesehene Versuchsraum in der Mine ähnelt allerdings mehr einem archäologischen Fundort als einem Labor. »Anfangs war die Ausbuchtung, in der das Experiment ablaufen soll, noch winzig. Die Höhle wurde bereits ziemlich vergrößert – aber es steht noch viel Arbeit an«, erklärt Calloni. Der Raum ist noch nicht groß genug, ein Belüftungsschacht fehlt, es muss ein richtiger Boden verlegt werden und vieles mehr. Da die beteiligten Forschungsteams planen, schon im Jahr 2024 erste Ergebnisse des Archimedes-Projekts zu präsentieren, werden diese Messungen wohl eher an der Oberfläche stattfinden, gibt Calloni zu. »Wir müssen die Versuche dann etwas länger laufen lassen, aber auch hier oben sollte es unseren Berechnungen zufolge möglich sein, das gewünschte Signal zu messen.«
Aktuell nutzen die Fachleute die Hälfte einer Lagerhalle der Minenarbeiter für ihre vorläufigen Experimente. »Da gab es anfangs nichts – nicht einmal eine Toilette«, sagt Calloni. Sie mussten dort zunächst Büroräume, eine möglichst passende Laborumgebung und natürlich sanitäre Anlagen errichten. Postdoc Errico ergänzt: »Jedes Mal, wenn ich hierher fahre, muss ich prüfen, ob ich alles Wichtige dabei habe. Wenn ich etwa einen Schraubenzieher vergesse, kann das echt nervig werden. Wo soll man hier auf die Schnelle einen herbekommen?«.
Der Teil der Lagerhalle, in der das Archimedes-Experiment stattfinden wird, erscheint fast leer. Nur zwei große zeltartige Gebilde stehen darin. An einem hängt ein Schild mit dem Logo: eine Balkenwaage. »Die Zelte sind da, um den Staub fernzuhalten«, erklärt Calloni. Als er die dahinter liegenden Büroräume betritt, fügt er hinzu: »Unsere erste Handlung jedes Mal, wenn wir hier ankommen, ist, den Boden zu wischen, um auch hier den Staub zu entfernen.«
Wie misst man etwas, das so leicht ist wie die DNA einer Zelle?
Die Physikerinnen und Physiker werden aber nicht bloß eine einzige Gewichtsmessung vornehmen – so wie man im Supermarkt eine Banane auf die Obstwaage legt. Indem sie die Proben in regelmäßigen zeitlichen Abständen immer wieder kühlen und erwärmen, erhalten sie ein periodisches Signal – falls die virtuellen Teilchen überhaupt entsprechend der theoretischen Vorhersage gravitativ wechselwirken. »Da wir die Frequenz selbst erzeugen, mit der die Waage schwingen sollte, können wir nach genau solchen Ausschlägen Ausschau halten«, erklärt der Postdoc Errico.
Um ein derart präzises Instrument zu bauen, braucht es einige ausgeklügelte Ideen. Denn selbst wenn der grobe Aufbau einer Balkenwaage zunächst einfach klingt – die Realität ist deutlich komplizierter: Die Waage hängt frei im Raum; die winzigen Ausschläge werden von Lasersystemen gemessen; zudem muss sich die gesamte Apparatur in einem Vakuum befinden und auf weniger als 90 Kelvin (knapp minus 180 Grad Celsius) gekühlt werden. Darüber hinaus benötigt man geeignete Proben, die sich gleichmäßig und schnell erwärmen sowie abkühlen lassen und einen starken Casimir-Effekt aufweisen.
Allein aus mechanischer Sicht stellt das eine Herausforderung dar: Wie schafft man es, die Waage so zu befestigen, dass sie möglichst wenige Erschütterungen aus der Umgebung aufzeichnet – aber gleichzeitig präzise genug ist, kleinste Gewichtsveränderungen zu detektieren? Wie lassen sich Justierungen vornehmen, ohne jedes Mal die Vakuumkammer zu öffnen?
Damit die Schwingung nicht zu stark ausfällt oder sich verstärkt, dämpfen stromdurchflossene Platten, die an beiden Seiten der Balkenwaage angebracht sind, durch Induktion die entstehende Bewegung. Da man dabei so behutsam wie möglich vorgehen muss, um die Aufzeichnung nicht zu beeinflussen, verwenden die Physiker Induktion, anstatt das Gerät direkt zu berühren.
Um die winzigen Ausschläge überhaupt detektieren zu können, nutzen die Fachleute Lasersysteme. Zum Beispiel ein Interferometer, das selbst kleinste Kippwinkel aufzeichnet: Ein Laserstrahl läuft durch einen Strahlteiler, die eine Hälfte des Strahls landet dann auf einem Ende des Balkens, die zweite Hälfte auf dem anderen Ende. Die Strahlen werden dort jeweils von angebrachten Spiegeln reflektiert und durch weitere Spiegel wieder zusammengeführt, um schließlich auf einen Detektor zu treffen. Ist der Balken in Balance, haben die Strahlen genau die gleiche Distanz zurückgelegt. Ist er hingegen leicht in eine Richtung geneigt, unterscheidet sich die überwundene Strecke. Die Wellenberge und -täler der Laserstrahlen treffen im Messgerät versetzt aufeinander und erzeugen dadurch eine andere Intensität. Somit lassen sich kleinste Abweichungen vom Gleichgewicht aufzeichnen.
Das präziseste Seismometer der Welt
Um zu testen, ob eine solche Waage auch in der Praxis präzise genug arbeitet, hat Luciano Errico in seiner Masterarbeit zusammen mit Enrico Calloni und den Kollegen vor einigen Jahren zunächst einen Prototypen entwickelt. Im Unterschied zur finalen Archimedes-Apparatur hängt der Prototyp noch nicht frei in der Luft, sondern ist fest mit dem Boden verbunden; er arbeitet bei Raumtemperatur und ist zudem kleiner als die endgültige Version. Doch wie sich herausstellte, lassen sich bereits mit dem vereinfachten Versuchsaufbau seismische Aktivitäten extrem genau messen.
»Ich habe fast geweint vor Freude«Luciano Errico
»Meines Wissens nach ist es das präziseste Seismometer, das aktuell verfügbar ist«, sagt Calloni. Weil es so gut funktioniert, haben die Physiker beschlossen, einen zweiten Prototypen anzufertigen und im Versuchslabor von VIRGO zu platzieren, um die dortigen seismischen Erschütterungen aufzuzeichnen. »Tatsächlich könnte man daraus den teuersten Blitzer der Welt bauen«, sagt Luca Pesenti lachend. Der Doktorand ist für einen Teil der Laser-Apparatur zuständig. »Weil das Gerät so präzise funktioniert, konnten wir die Bewegungen der am Labor vorbeifahrenden Autos in Sassari sehr genau bestimmen.«
Inzwischen haben die Forscherinnen und Forscher auch die endgültige Version der Archimedes-Waage aufgebaut und nach Sardinien verschifft. Der Aufbau ist bisher knapp zwei Meter groß und etwa 1,50 Meter breit. »Für die detaillierte Planung habe ich etwa sechs Monate gebraucht«, erzählt Errico. »Wo soll welche Schraube hin; wie sieht der ideale Strahlteiler aus, und wo positioniert man ihn? Es hat dann etwa ein Jahr gedauert, bis alle Teile eingetroffen sind und ich sie zusammensetzen konnte.« Und die Kalibrierung, damit der Laser die ganzen Vorrichtungen exakt trifft? »Das hat tatsächlich nur 30 Minuten gedauert. Ich hatte alles so genau geplant, dass es nur wenige Freiheitsgrade gab. Als alles wirklich so funktioniert hat, wie ich es mir vorgestellt hatte, habe ich fast geweint vor Freude!«
Aktuell ist Errico damit beschäftigt, die Waage weiter zu verkabeln, damit die vielen Instrumente von außen angesteuert werden und Signale hinausschicken können. »Das ist zwar nicht die unterhaltsamste Aufgabe, aber es muss gemacht werden.« Noch vor einigen Jahren wäre Errico nicht im Traum darauf gekommen, dass er seine Arbeitszeit auf diese Weise verbringen würde. Denn zunächst hatte er die Laufbahn eines theoretischen Physikers eingeschlagen. »Doch dann besuchte ich eine Vorlesung von Calloni und wusste, dass ich mit ihm zusammenarbeiten wollte«, erklärt Errico. Bei so einem spannenden Thema lohne es sich, auch mal technische Arbeiten zu übernehmen.
Dabei ist höchste Sorgfalt gefragt. Denn der verdrahtete Aufbau wird anschließend, ähnlich einer russischen Matroschka, nacheinander in drei riesige Metallbehälter gepackt. Der erste bildet die Vakuumkammer. Ihn steckt man in eine zweite Hülle, die mit flüssigem Stickstoff gefüllt ist. Und diese muss wiederum von einem dritten luftleeren Behälter geschützt werden, der wie eine Thermoskanne wirkt. Ohne ihn würde sich die zweite Schicht zu schnell erhitzen.
Die Vakuumkammer ist bereits am Versuchsort eingetroffen – die anderen beiden Hüllen befinden sich noch in der Produktion. Eine Vakuumkammer solchen Ausmaßes ist nicht einfach herzustellen, genauso wenig ein so großer Kryostat (der physikalische Fachausdruck für die gigantische Thermoskanne). Der gesamte Aufbau wird am Ende etwa fünf Meter hoch, breit und tief sein und mehrere Tonnen wiegen.
Auch der Füllvorgang mit Stickstoff bereitet den Fachleuten noch Sorgen. Taucht man den Vakuumbehälter, der Raumtemperatur hat, in flüssigen Stickstoff, verdampft die Kühlflüssigkeit schnell. In einem Probedurchlauf vor der Lagerhalle in »Sos Enattos« haben die Physiker den Vorgang geübt: Sie füllten eine riesige Styroporwanne mit flüssigem Stickstoff und tauchten nach und nach die leere Vakuumkammer hinein. Die Kühlflüssigkeit begann schlagartig zu verdampfen, was sich eindrucksvoll in großen Nebelwolken ausdrückte, die den Vakuumbehälter beim Eintauchen umgaben. »Der gesamte Prozess wird sehr lange dauern – mehrere Tage bis Wochen«, sagt die Physikerin Paola Puppo, die diesen Schritt mit ihrer Arbeitsgruppe an der Universität in Rom plant. Aber der Probedurchlauf hat bestätigt, dass die Idee umsetzbar ist.
Eine weitere Schwierigkeit stellten die Proben dar. Als Calloni erstmals über das Archimedes-Experiment nachdachte, wollte er geschichtete Supraleiter einsetzen. Denn in diesen Stoffen findet der Casimir-Effekt statt: Die Materialien bestehen aus mehreren Schichten, wobei die obere und die untere supraleitend werden – sie bilden damit das Äquivalent der Metallplatten im ursprünglichen Casimir-Modell. Zudem besitzt das Material eine feste Kristallstruktur, das heißt, der Abstand zwischen den beiden leitenden Ebenen bleibt unverändert. Somit sollte eine Auftriebskraft auf derartige Proben wirken.
Allerdings beträgt die Dicke solcher Stoffe etwa 200 Nanometer, was zwar sehr dünn ist, aber für den Versuch immer noch nicht dünn genug. »Um den Effekt zu verstärken, müssten wir etliche Supraleiter-Schichten aufeinanderstapeln, so dass wir am Ende ein Material hätten, dass mehrere Zentimeter dick ist«, erklärt Calloni. Und es ist so gut wie unmöglich, einen Festkörper dieser Größe gleichmäßig aufzuwärmen und abzukühlen – geschweige denn innerhalb der kurzen Zeitabstände, die für den Versuch anvisiert sind.
Vor einigen Jahren stieß Calloni jedoch zufällig auf eine Veröffentlichung von Achim Kempf, theoretischer Physiker an der University of Waterloo. Darin berechnete der die Stärke des Casimir-Effekts in speziellen supraleitenden Kristallen. Wie Calloni erkannte, schien die Kraft ausgeprägt genug, um im Archimedes-Experiment genutzt zu werden. Und das Besondere an diesen Kristallen: Sie sind nur wenige Nanometer dick. Damit ließe sich eine Probe herstellen, die nur ein paar Millimeter misst.
»Egal welches Ergebnis wir erhalten, es wird auf jeden Fall spannend!«Enrico Calloni
Damit stehen die einzelnen Komponenten für das Archimedes-Experiment alle bereit. Und die Vorbereitungen sind schon in vollem Gange. Die beteiligten Forscher sind gespannt, was herauskommen wird. Falls die Messungen den bisherigen Erwartungen entsprechen (sich virtuelle Teilchen also genau wie gewöhnliche Materie in der Schwerkraft verhalten), hieße das, die Vakuumfluktuationen beeinflussen die Einstein-Feldgleichungen. In diesem Fall liegt die Aufgabe bei Kosmologen, zu erklären, was den Einfluss der Vakuumenergie im Universum unterdrückt.
Wenn hingegen die Ausschläge der Waage anders ausfallen als erwartet, öffnet das – vorausgesetzt, Calloni und sein Team haben keine Fehler gemacht – einen Weg zu völlig neuer Physik. Dann bleibt herauszufinden, ob virtuelle Teilchen überhaupt mit der Schwerkraft wechselwirken. Oder hängen Energie und Masse bei ihnen auf andere Weise zusammen? Und wenn ja, wie und warum?
»Wir möchten noch keine Hypothese formulieren, um den Versuch nicht zu verfälschen«, erklärt Calloni. »Aber egal welches Ergebnis wir erhalten, es wird auf jeden Fall spannend.«