Immer mehr Menschen erfahren diese grundlegende Transformation, die „Erleuchtung" oder Aufwachen" genannt wird. Es scheint so zu sein, dass es früher eher die Pioniere der Menschheit waren, die aufwachten oder Erleuchtung fanden und dass es heute, aus welchen Gründen auch immer, jedem möglich ist, aufzuwachen. Inzwischen verbindet sich jahrhundertealtes spirituelles Wissen mit den Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychologie, sodass das Wissen über die Bedingungen dieser Transformation anwächst. Dennoch werden von den einzelnen Lehrern, die auch verschiedene Wege vertreten, immer nur einzelne Momente hervorgehoben. Die folgenden „Sieben Schritte zum Aufwachen" sind die Quintessenz aller spirituellen Wege, die der Form nach verschieden, doch eigentlich nur ein einziger Weg sind.
Es gibt ganz offensichtlich einen Prozess, der zum Aufwachen führt. Es scheint eine Bewegung dahin zu geben, dass jeder, der sich dem inneren Prozess zuwendet, beginnt oder bereits begonnen hat, Erfahrungen von Stille und Leere zu machen, die er vorher nicht kannte.
Viele sagen, dass es ihnen leichter fällt, diese innere Stille und die Stille des Verstandes zu erleben, wenn sie in der Anwesenheit eines Lehrers und einer unterstützenden Gruppe sind. Diese Erfahrungen nehmen zu. Du wirst innerlich stiller, Du wendest dich mehr dem Strom des Lebens zu und weniger den Gedanken und dem Lärm im Kopf. Du bist in der Lage, mehr Gefühle zu erfahren und zu tragen.
Das ist ein Prozess und dennoch ist das Aufwachen selbst dann ein plötzlicher Moment. In diesem Moment des Aufwachens fällst Du in das Bodenlose und danach ist nichts mehr so ist wie es vorher war.
Was dabei geschieht ist offensichtlich eine tiefgreifende Veränderung der ganzen seelischen Struktur. Die ganzen Vorstellungen, Phantasien und Wahrnehmungsbezüge verändern sich. Es gibt plötzlich kein Zentrum mehr, kein Ich mehr, auf das alle Wahrnehmungen bezogen wären.
Das hat zur Folge, dass der Verstand zu einem großen Teil der Zeit vollkommen still ist. Und wenn der Verstand still ist - wenn er ganz still ist - dann erfährst Du das, was immer da ist: Frieden, Stille, Glückseligkeit. Du erfährst eine Glückseligkeit, die nicht so sehr einem Sturzbach ähnelt, sondern mehr einem Ozean, und gleichzeitig einem exstatischen Feuerwerk, einem Feuerwerk ohne Anfang und ohne ein Ende.
Auch nach dem Aufwachen gibt es einen Prozess. Das Aufwachen ist ein Ende und ein Anfang. Nach dem Aufwachen gibt es einen Prozess der Vertiefung. Es ist auf das gleiche zu achten wie vor dem Aufwachen. Wenn man sich dieser Vertiefung öffnet, geschieht der weitere Prozess dann in einer großen Geschwindigkeit.
Es kann auch passieren, dass jemand nach dem Aufwachen nach einiger Zeit wieder einschläft und die bekannte Struktur wieder aktiviert. Dann ist für ihn das Aufwachen nur eine vorübergehende Erfahrung gewesen, über die er am Lagerfeuer berichten kann.
Viele bewegt die grundlegende Frage, ob etwas getan werden kann, um diesen Prozess zum Aufwachen zu unterstützen oder zu beschleunigen. Kannst Du etwas tun?
Erfahrungen aus der Arbeit mit Menschen, Erkenntnisse aus eigenen Forschungen, das persönliche Wissen und die Erfahrung des Aufwachens haben mich erkennen lassen, dass es einige Aspekte gibt, die es zu beachten lohnt. Diese Aspekte lassen sich in sieben grundlegenden Schritten darstellen und zusammenfassen. Diese sieben Aspekte genau zu untersuchen ist hilfreich, um der Wahrheit näher zu kommen, um Frieden und Freiheit zu erfahren. Die sieben Schritte zu durchlaufen kann den Prozess, der zum Aufwachen führt, hilfreich unterstützen und verstärken. Es sind Schritte des Loslassens, nicht des uns. Es ist jenseits des Tuns und des Nicht-Tuns. Du öffnest Dich für die Gnade, aber Du bist nicht derjenige, der ein Aufwachen „machen" könnte.
Verschiedene Lehrer haben einzelne dieser Schritte hervorgehoben. Der Nutzen dieser „Sieben Schritte" liegt vor allem darin, dass jeder Suchende genauer entdecken kann, wo seine eigenen Hindernisse auf dem Weg, der kein Weg ist, liegen. Der eine ist vielleicht in seinem Körper noch zu blockiert, der andere hat es noch schwer, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen, der dritte hat vielleicht Schwierigkeiten, die Gefühle und inneren Erfahrungen wahrzunehmen, die jenseits der Körperempfindungen sind.
Der erste Schritt besteht darin, dir immer wieder Rechenschaft abzugeben über deine Wünsche und Ziele. Anhand einiger Fragen kannst Du diese erforschen:
Was will ich?
Was ist mir wirklich wichtig?
Worin besteht der Sinn meines Lebens?
Was wäre so wichtig, dass ich dafür mein Leben einsetzen würde?
Anhand dessen, was Du tust und was sich in deinem Leben abspielt, kannst Du oftmals indirekt entdecken und - wenn Du ehrlich und offen bist – erforschen, welche Ziele dein Leben und den Fluss deines Lebens bestimmen. Es können bewusste oder unterbewusste, allgemeine oder spezielle Ziele auftauchen. Es gibt materielle, psychische und geistige Ziele: ein neues Auto, der Wunsch nach Sicherheit und Anerkennung oder ein Bedürfnis nach Zusammenhang und Erklärung als ein geistiges Anliegen.
Du kannst deine Wünsche, deine Vorlieben, dein Anhaften untersuchen und dich fragen: „Wo und für was verkaufe ich mich?"
Es gibt zwei wichtige Fragen, die dir helfen zu entdecken, ob Du dich für einen Wunsch verkaufst oder an etwas anhaftest:
„Was bin ich bereit dafür aufzugeben?"
Du kannst dich auch fragen: „Was würde ich dafür hergeben?"
Die tiefer führende Frage lautet dann: „Was will ich damit erreichen? Wenn ich es erreicht habe, was soll es mir geben?" Als Antwort zeigt sich der Wunsch hinter dem Wunsch, die Intention des Wunsches.
Der Mensch leidet darunter, dass er sich der Ziele und Wünsche seines Lebens nicht bewusst ist, mehr noch, dass diese Ziele sich ständig widersprechen und Konflikte erzeugen. Es ist heilsam, sich zu fragen: „Was ist mir wirklich wichtig? Was ist mir so wichtig, dass ich bereit wäre, dafür mein Leben einzusetzen?"
Was aber könnte wichtiger sein, als zu erkennen, wer Du wirklich bist, und als Frieden und Freiheit zu finden? Was aber könnte wichtiger sein, als der Wunsch das Leid zu beenden? Was bewegender als die Sehnsucht nach Frieden und Liebe? Wenn dir Freiheit, Frieden und Liebe wichtiger sind als alles andere, bist Du in der Lage die normalen Konditionierungen zu beenden.
Erst, wenn Du aufhörst, dem Angenehmen hinterher zu rennen und den Schmerz und die Angst zurückzuweisen, wirst Du in der Lage sein deine Konditionierungen zu beenden. Nur dann. Solange Du – bewusst oder unterbewusst - immer damit befasst bist, das Angenehme zu wollen und dem Unangenehmen zu entkommen, wirst Du beständig im Kampf mit dem sein, was ist. Wenn Du den Kampf beendest und das, was ist, annimmst, breitet sich Frieden aus.
2: Die Gefühle wahrhaft fühlen
Sri Ramana Maharshi (*1879, †1950), der als der größte Weise und Heilige der Neuzeit bezeichnet wird, sagte: „Zuerst musst Du mit dem Leben eins werden. Dann wirst Du mit dem Bewusstsein eins. Danach wirst Du eins mit Glückseligkeit." (Quelle: Ramana Maharshi: Die Suche nach dem Selbst. Ausgewählte Gespräche herausgegeben und eingeleitet von Lucy Cornelssen. Ansata Verlag Interlaken 1985).
Aus dieser Erkenntnis leitet sich der zweite Schritt ab. Eins mit dem Leben zu sein beinhaltet die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren, was ist.
Etwas ist sehr klar: Wenn Du alle Gefühle vollkommen fühlst, dann löst das Ich sich auf. Denn das Ich besteht nur aus: „Ich will" und „Ich will nicht". Ein zweijähriges Kind in seiner Trotzphase verhält sich genauso wie das Ich, indem es sagt: „Ich will das, ich will jenes nicht." Dieses Verhalten ist für ein zweijähriges Kind angemessen, für einen Erwachsenen jedoch ganz und gar nicht. Ist die Bereitwilligkeit vorhanden, alles vollkommen zu fühlen, so wie es ist, verbrennt dieses Ich. Es bedeutet das anzunehmen, was ist. Es bedeutet auch, sich dem hinzugeben, was ist. Und es zeigt sich dann sehr schnell eine der grundlegenden Paradoxien: Wenn Du den Schmerz annimmst, dann gibt es kein Leid. Das Leid in der Welt wird dadurch hervorgerufen, dass der Mensch dem Schmerz davonzurennen versucht. Erst dadurch entsteht der Albtraum.
In der Vergangenheit gab es im großen und ganzen zwei Wege des menschlichen Wachstums: der östliche spirituelle und der westliche therapeutische Weg. Während letzterer mit den Gefühlen auf die Weise arbeitet, dass Gefühle verstanden, erklärt und ausgedrückt werden, bestand der östliche Weg im wesentlichen darin, nur noch der Beobachter zu sein und sich dadurch von den Gefühlen zu dissoziieren. Beide Wege führen nur ein Stück weit und werden dann zur Sackgasse.
Es gibt einen dritten Weg: Alle Gefühle, die auftauchen, alle inneren Erfahrungen bereitwillig anzunehmen und zu erfahren – und nichts zu tun, also still zu bleiben. Es ist das Gegenteil von Unterdrücken, aber auch von Ausagieren. Ganz in das Gefühl hineinsinken, ganz zu dem Gefühl werden, so dass das Gefühl verbrennen kann, das führt in immer tiefere Schichten. Wenn auf diese Weise das Ich zurücktritt, nichts wollend, nicht eingreifend und nicht involviert, dann geschieht intensive innere Transformation. Die radikale Verschiedenheit dieses dritten Weges ist nicht so leicht zu verstehen.
Diese Entdeckung stammt von meinem Lehrer Eli Jaxon-Bear, der wie wenige sonst die verschiedenen spirituellen Wege nacheinander beschritten und erforscht hat und gleichzeitig in der westlichen Psychotherapie versiert und kompetent ist. In meinen eigenen Forschungen habe ich (bisher!) ein einziges Mal ein gleiches Arbeiten auf diesem dritten Weg entdeckt: bei dem Mystiker und spirituellen Lehrer Johannes Tauler (*um 1300, †1366), einem Schüler von Meister Eckhart. Tauler nennt es das „nach innen Gehen" und das „Ausleiden" der Gefühle und inneren Erfahrungen. Tauler prägte so sinnige Wortverbindungen wie „der Aufstieg in die Tiefe" oder „der grundlose Abgrund". (siehe Johannes Tauler: Das Segel ist die Liebe. Benzinger Verlag, Zürich und Düsseldorf. 1998 S. 113ff)
3: Die Beobachter-Position einnehmen
Der dritte Schritt besteht darin, eine innere Haltung zu finden, die sich als die Haltung eines beobachtenden Zeugen beschreiben lässt. Du kannst in der Haltung einer spirituellen Freundin oder eines spirituellen Freundes entdecken, dass Du mehr der Zuschauer des ganzen Weltentheaters bist, in dem die Person, die Du bisher Ich nanntest, auch eine Rolle spielt. Und die Rolle wechselt: Mal spielst Du eine komische Rolle, mal eine tragische oder auch mal eine mutige Rolle. Aber welche es auch immer ist: Du bist der Wahrnehmende, die Beobachterin, der Zeuge, die spirituelle Freundin.
Diese beiden Schritte, also alles zu fühlen, was ist und die Position des Zuschauers im eigenen Leben einzunehmen, sorgten in der Vergangenheit für viel Verwirrung. Wenn Du in der Position des Zeugen bist, besteht die Gefahr, dass Du die Geschehnisse und Gefühle lediglich beobachtest, anstatt sie zu fühlen und wahrhaftig zu erleben. Darauf wird so viel an Meditationstechnik und Praxis verwendet, dass es Menschengibt, die auf diesem Weg die Natürlichkeit und den Kontakt zum wirklichen Fluss des Lebens verlieren. Eine Vermeidung des Erlebens und der Erfahrung, der Freuden und der Schmerzen durch ein dissoziierendes Beobachten verhindert auch die Chance, die Unendlichkeit zu erfahren. Das Leben wird zu etwas abgetrenntem und das Innere etwas Künstliches. Denn wenn man noch nicht einmal die Trauer über die zerbrochene Lieblingstasse erfahren kann, wie soll man dann die Unendlichkeit erfahren? Durch das künstliche, angestrengte, und außenstehende Beobachten wird der Weg zum Aufwachen regelrecht verbaut.
Die andere Verwirrung ist die: Ich will ganz fühlen, was da ist und das reicht mir. Das Geheimnis besteht darin, dass Du hundert Prozent fühlst, dich der Lebendigkeit hingibst und zu hundert Prozent Beobachter, Zeuge und Wahrnehmender bist. Normalerweise ist der Mensch weder wirklich lebendig – er beurteilt sich, bewertet sich oder ist nicht wirklich am Leben beteiligt - noch ist er wirklich der Zuschauer des Lebens. Er ist weder das eine noch das andere. Als Beobachter ist er nur beurteilend, vergleichend, sich schlecht machend oder in den Himmel lobend.
Die Lösung besteht darin, sich zu hundert Prozent dem Leben hinzugeben und gleichzeitig zu hundert Prozent nur der Wahrnehmende des ganzen Theaters zu sein, der ganzen Vorstellung, der ganzen Evolution, des ganzen Kosmos.
4: Die Muster deines Lebens verstehen
Dabei spielt das Enneagramm eine wichtige und sehr hilfreiche Rolle. Das Enneagramm ist ein Weg und Instrument der Erforschung der menschlichen Charakterstruktur, dass sich seit vielen Jahrhunderten entwickelt hat, von Gurdjeff Anfang des 20. Jahrhunderts in den Westen gebracht und in den 60er und 70er Jahren mit moderner westlicher Psychologie verbunden wurde. Die Struktur des Enneagramms unterscheidet neun wesentliche Charakterstrukturen mit den dazu gehörigen Fixierungen, die sehr deutlich deine Verhaltensmuster, Motive und deine seelische Dynamik beschreiben. Mit diesem Instrument kannst Du deine spirituelle Freundin sein und erkennen, welche Muster sich in deinem Körper–Geist– Gefühlsorganismus manifestiert haben und dein gesamtes Verhalten bestimmen.
Es sind Muster, für die Du nichts kannst. Muster, für die deine Eltern nichts können. Muster, für die niemand etwas kann. Und Du bist derjenige, der diese Muster immer deutlicher sieht. Das verändert die ganze innere Haltung diesem Leben gegenüber: die Haltung dessen, der nichts zu verändern sucht, die Muster nicht verändern will, sondern stattdessen anhält.
Du sollst nicht, wenn Du deine Charakterfixierung gefunden hast, eine bessere Sechs oder eine bessere Acht werden. Du kannst auch nicht, wenn du eine Sechser-Fixierung hast, eine Achter-Fixierung bekommen.
Nichts davon. Du sollst anhalten. Und das geschieht durch zwei innere Schritte:
Erstens siehst Du mit der Charakterfixierung besonders deutlich, welchem Grundgefühl Du aus dem Weg gehst und welches Grundgefühl dein Leben reguliert und bestimmt: Angst, die Angst nicht geliebt zu werden, die Angst die Kontrolle zu verlieren und darauf aufbauend Gefühle von Wut, Neid, wieder Angst, Stolz, Habgier u.s.w.. Indem Du das bemerkst, erkennst Du was die ganze Maschine antreibt. Die wichtigste Aufgabe besteht dann darin, dich diesem zugrundeliegenden Gefühl zuzuwenden, es zu erkunden, es zu erfahren und bereit zu sein, dem zu begegnen. Das ist der erste Punkt, wie das Enneagramm nützlich wird.
Der Zweite ist: Du siehst all diese Muster und erst bist Du sehr ernüchtert, schockiert und beleidigt, weil es so demütigend ist, zu sehen, dass Du alles, von dem Du bisher dachtest, es sei deine originelle Schöpfung und deine „besondere" Persönlichkeit, im Enneagramm beschrieben findest. Die meisten Menschen sind sehr überrascht, wenn sie das lesen. Später erkennst Du dich in anderen Menschen, die die gleiche Charakterfixierung haben, wieder: Die machen das genauso wie ich. Das zu erleben und zu sehen ist sehr beschämend und ernüchternd – zuerst – und dann ist es sehr, sehr erleichternd. Da erkennst du: Wenn das so mechanisch abläuft, dann kann ich mich dem zuwenden, was ich wirklich bin.
Du entdeckst mit Hilfe des Enneagramms das Grundgefühl und die Grundleidenschaft deines Lebens und kannst dich dem stellen und dem begegnen. Ein Mensch mit einer Sechser-Fixierung kann beispielsweise erkennen, wie all sein Handeln von Angst bestimmt wird. Die Zweier-, Dreier- und Vierer-Fixierungen können beobachten, wie alles von dem Wunsch bestimmt wird, endlich geliebt zu werden und der Angst, der Verlorenheit und dem Nicht-Geliebt-Werden zu entkommen.
Du kannst gleichzeitig klar und deutlich deine spirituelle Freundin oder dein spiritueller Freund sein. Du siehst die Muster, Du siehst, was da abläuft und indem Du anhältst und bereit bist, das zu fühlen, kommen diese ganzen Muster zur Ruhe und dann zeigt sich die Essenz, die darin enthalten ist.
5: Die Körperanspannungen lösen
Als weiterer Punkt spielt der Körper eine wichtige Rolle. Der Körper ist eine Metapher.
Der Körper demonstriert dir, dass Du eine Größe von 1,80 m x 50 cm oder 1,60 x 40 cm hast, eine in Zentimetern messbare Größe. „Ich bin Hannes, 7 Jahre alt, habe braune Haare und einen älteren Bruder, der gemein zu mir ist."
Das ist unsere Identifikation und diese Identifikation ist an den Körper gebunden. Ohne Körper gäbe es keinen Namen Hannes. Ohne Körper gäbe es keine braunen Haare. Als erstes entsteht, schon beim Säugling, das Körper-Ich, und die spätere schrittweise Herausbildung des Ich basiert auf der Identifikationmit dem Körper. Genauso, wie man dem Tod begegnen muss, besteht die Aufgabe darin, diese Identifikation mit dem Körper loszulassen.
Wenn deine wahre Natur Bewusstsein ist, das nie verschwindet, Liebe ist, die keine Grenze hat, Freude ist, die vollkommen grundlos ist und deswegen auch kein Ende hat, dann musst Du etwas anderes sein als der Körper. Der Körper hat einen Anfang und ein Ende. Wenn Du alles bist, alles, wenn alles eins ist, musst Du alles sein. Wenn Du etwas anderes wärst als das Alles, dann wäre alles nicht eins. Dann gäbe es Zwei.
Du kannst nicht mit allem verbunden sein, weil, wenn Du mit allem verbunden wärst, dann hätte es vorher zwei gegeben. Aber es könnte nicht alles sein, wenn es vorher etwas anderes gegeben hätte, mit dem Du dich hättest verbinden können. Es gibt nur eins und dieses eins bist Du.
Aber wenn Du eins bist, dann kannst Du nicht dieser Körper sein. Und so gehört zu dem Tod dieses Ichs auch der Tod der Vorstellungen „Ich bin der Körper".
Ramana hat 1886 im Alter von sechzehn Jahren eine wichtige Entdeckung gemacht, die für die Welt von unschätzbarem Wert ist. Er war keinerlei spiritueller Tradition gefolgt, hatte keinerlei spirituelle Praxis, nichts, er war einfach nur ein Schuljunge, der so gut wie die anderen in der Schule war und gut Fußball spielen konnte und sonst nichts. Und dieser Junge von sechzehn Jahren ist aufgewacht. Das alleine wäre noch nichts Besonderes. Bemerkenswert ist, dass dieser Junge den Prozess des Aufwachens so genau beobachtet hat. Er wusste nichts vom Aufwachen, aber was er merkte, war folgendes: Er bekam Angstzu sterben, Angst zu sterben mit der inneren Gewissheit, jetzt sterben zu müssen. Ramana hat dann eine sehr wertvolle Entscheidung getroffen: „Wenn ich jetzt sterben muss, dann will ich genau mitbekommen, was da passiert. Dann will ich ganz genau erkennen, wer oder was stirbt." Er hat sich also auf den Boden gelegt und wahrgenommen, was jetzt passieren würde.
Mit dieser Entscheidung, sich absolut und hundertprozentig dem hinzugeben, was geschieht und zu erfahren, was geschieht, ohne dagegen anzukämpfen lässt Du alles los. Du gibst auf, über irgend etwas Zukünftiges nachzudenken, Du lässt alles los. Der Körper lässt los, der ganze Mensch lässt los und gibt sich diesem Nichts hin.
Dieser Prozess hat Ramana verwandelt. Das ist das Aufwachen. Dieser Prozess ist das Aufwachen. Dieser Prozess ist das Fallen in die Bodenlosigkeit, bei dem alle körperlichen Prozesse losgelassen werden. Es heißt, nichts mehr in der Hand zu haben, sondern dem Körper zu sagen: „Tu, was du willst und was du tun musst."
Das Großartige daran ist, dass wir damit in gewisser Hinsicht zum ersten Mal einen wirklichen Bericht über das Aufwachen haben, der nicht, wie vorher immer, auf irgendwelche geheimnisvollen Rituale zurückgeführt werden konnte.
Wenn ein Mönch aufwacht, der vorher zehn Jahre meditiert und heilige Gesänge rezitiert hat, folgert er: „Ah, das Aufwachen ist die Folge dieser heiligen Gesänge." So dass sich in den Religionen immer diese Traditionen bildeten: Du musst so und so viele Mantras singen, Du musst so und so viele Koans lösen, Du musst dies und jenes praktizieren, genau 111.000 Niederwerfungen.
Statt dessen ist die Erfahrung des Aufwachens bei Ramana vollkommen klar gewesen, vollkommen auf das Wesentliche reduziert. Kein Lehrer in der neueren Geschichte hat so viele aufgewachte Schüler, von denen viele als Lehrer den Impuls des Aufwachens weiter trugen. Auch diese „Sieben Schritte" wären ohne ihn nicht entstanden. Weil er den Prozess so genau beobachtet hat, war er in der Lage das weiterzugeben. Erst im Nachhinein hat er verschiedene Philosophien und religiöse Traditionen studiert. Sein Schüler Poonjaji war besonders wirkungsvoll und hat über westliche Schüler wie Gangaji und Eli Jaxon-Bear das Aufwachen in den Westen gebracht. (Siehe u.a.: H. W. L. Poonja: Wach auf, du bist frei. Kamphausen. 2002 Eli Jaxon-Bear: Lied der Freiheit. Lüchow. 1999 Gangaji: Ein Leben wie Du. Lüchow 2003)
Und so ist der Körper ein wichtiges Thema. Das Loslassen bedeutet auch, dass man dem Körper erlauben kann, loszulassen. Und das bedeutet in der Körperarbeit, das Nicht-Tun zu lernen. Ramana hat gegenüber dem Yoga und gegenüber der Körperarbeit immer wieder auf die Gefahr der zunehmenden Identifikation mit dem Körper hingewiesen. Als sinnvoll erachtete er – für den Anfänger – Atemübungen (Pranayama). Statt der Übungen würde alleine die Frage weiter helfen, wer es ist, der da übt, die Frage nach der eigenen Natur.
Also kommt es darauf an, eine Körperarbeit zu machen, die erstens die Identifikation mit dem Körper nicht verstärkt und die zweitens das Loslassen fördert, statt das Tun. Das macht sich zum Beispiel bemerkbar beim Loslassen des Atems, so dass der Atem dem Gefühl folgen kann.
Es gibt Grundkriterien, welche Art von Körperarbeit brauchbar ist und welche nicht. Auf der Körperebene findet nicht die entscheidende Veränderung statt. Die entscheidende Veränderung findet im Geist statt, in der inneren Haltung und der inneren Entscheidung. Das wiederum bestimmt die Körperarbeit.
Die spirituell fundierte Körperarbeit des 2003 verstorbenen Dr. phil. Leland Johnson, der gleichzeitig Schüler von Fritz Pearls (Gestalt-Therapie) und Swami Muktananda (ein erwachter Lehrer, der in den sechziger und siebziger Jahren in den USA wirkte) war, entspricht diesen Kriterien sehr gut. Ihm verdanke ich nicht nur das Erlernen dieser körpertherapeutischen Arbeit, sondern auch eine Haltung der Integration von östlicher und westlicher Weisheit.
Je weicher, entspannter, durchlässiger dein Körper ist, desto leichter bist Du in der Lage, alle Gefühle zu fühlen und gleichzeitig wahrzunehmen. So ist das Arbeiten daran, dass der Körper durchlässig, geschmeidig, anmutig, lebendig und energievoll wird, ein wichtiger Punkt, aber nicht der wichtigste. Für viele Menschen, gerade in der westlichen Welt, beginnt die Reise damit, dass sie die Lebendigkeit des Körpers wieder wahrnehmen und den Körper wieder spüren und auch wieder zu bewegen lernen.
Wie schon früher zitiert: „Zuerst musst du mit dem Leben eins werden. Dann wirst du mit Bewusstsein eins. Danach wirst du eins mit Glückseligkeit." (vgl: Ramana Maharshi: Die Suche nach dem Selbst. Ausgewählte Gespräche herausgegeben und eingeleitet von Lucy Cornelssen. Ansata Verlag Interlaken 1985)
6: Die Vergangenheit und Hader beenden
Du kannst zusätzlich einiges tun, was dir hilft, die Vergangenheit zu beenden. Solange Du dich noch nicht mit der Vergangenheit ausgesöhnt hast, bist Du darin verstrickt und gebunden. Gedanken wie: „Ich muss noch etwas erledigen!", „Ich muss noch etwas wiedergutmachen!", „Ich will noch etwas Bestimmtes bekommen und haben!" halten das Ich gebunden.
Die Vergangenheit anzunehmen, wie sie war, bedeutet, diese Bindung zu beenden und frei zu werden. Darin verbrennt das Ich. Ohne ein „Ich will – ich will nicht" zerfällt diese Ich-Konstruktion.
Es ist zugleich die Beendigung des Karmas. Das Karma ist im Kern die Summe all der Handlungen und Gedanken, die auf Wiedergutmachen oder auf Rache gerichtet sind. Dadurch wird das Unrecht und die Gewalt aufrecht erhalten und bringt immer neue Gewalt und neues Unrecht hervor.
Viele glauben, zur Beendigung der Vergangenheit sei ein Vergeben wichtig. Viele glauben auch, wenn Du allen Menschen in deinem Leben und dir selber alles vergibst, dann seist Du frei von Vorwurf und Schuldgefühl und damit wärst Du nicht mehr an die Vergangenheit gebunden, dann „lässt Du die Toten die Toten begraben", wie Jesus sich ausdrückte.
Aber wer bist du, dass Du vergeben könntest? Wer könnte, wer dürfte das tun? Wer weiß wirklich, wofür er dankbar sein kann und worin Schuld begründet ist?
Die wirkliche Lösung liegt jenseits von Vorwerfen und jenseits von Vergeben. Die Lösung liegt im schlichten Akzeptieren. Denn was könnte verrückter sein, als das nicht zu akzeptieren, was schon geschehen ist?
Das Ergebnis ist ein Gefühl von Frieden und Dankbarkeit. Das ist eines der größten Geschenke, die Du dir machen kannst.
7: Die Todesangst annehmen
Im letzten Schritt geht es darum, dem Tod zu begegnen. Der Tod des Körpers ist der offensichtlichste und naheliegendste Tod; der körperliche Tod ist auch die einzig sichere Tatsache des Lebens. Der Tod des Ichs dagegen ist zunächst, wenn man ihn noch nicht erfahren hat, sehr viel weniger plastisch.
Das Leben selbst ist auch eine Metapher. Sie bedeutet unter anderem, dass die Gewissheit des körperlichen Todes dir die Möglichkeit gibt, dich mit dem Wesentlichen zu befassen, nämlich mit dem Nichts.
Insofern ist der körperliche Tod als solches nicht bedeutsam. Er ist nur eine Zukunftsphantasie. Niemand weiß, was anschließend wirklich geschehen wird. Die Erfahrung von körperlichem Tod und Verfall gibt dir ein Bild, eine Metapher, eine Herausforderung, den Sog und das Drängen dahin, das Wesentliche zu finden. Der Tod steht da als die einzig sichere Tatsache des Lebens. Sich dem Tod zu stellen bedeutet nicht, ein mentales Erklärungsmuster heranzuziehen, weder zu sagen: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn danach ist nichts mehr. Wovor sollte ich Angst haben?", noch zu sagen: „Ach Gott, ich wünsch mir den Tod, dann ist endlich alles vorbei." Es bedeutet, dass Du dich auf der Gefühlsebene, auf der Erfahrungsebene dem Nichts stellst, dem Ego-Tod.
Nichts zu wissen, nichts zu haben, keine Pläne mehr zu haben, keine Kontrolle zu haben.
So heißt es auch im tibetischen Totenbuch: „Wenn wir den Tod verstehen, dann verstehen wir zu leben."
Der Tod ist in jedem Augenblick erfahrbar als das innere Nichts, die innere Bodenlosigkeit. Der Tod muss nicht noch dreissig Jahre auf dich warten oder Du auf den Tod, um ihn zu erfahren. Du erfährst das Nichts, wenn Du so sehr loslässt, das Du in dieser Bodenlosigkeit versinkst.
Tot sein heißt in erster Linie, keine Zukunft mehr zu haben. Sterben heißt, die Zukunft aufzugeben. Und wenn Du die Zukunft aufgibst, dann fliegt die Vergangenheit auch weg. Zukunft bedeutet: Ich muss noch etwas erledigen. Ich will etwas noch besser machen. Ich will noch unbedingt dies und jenes zu Ende bringen. All das ist Teil deiner Vergangenheit. Wenn Du das beendest und sagst: „Ich will nichts mehr", dann fliegt deine Vergangenheit weg. Dann gibt es keinen Menschen aus der Vergangenheit mehr, mit dem Du noch etwas zu erledigen hättest. Dann haderst Du mit niemandem mehr, weil Du nichts mehr willst.
Verschwindet die Zukunft, verschwindet gleichzeitig auch die Vergangenheit.
Das hat nichts damit zu tun, sterben zu wollen, oder mit dem Tod des Körpers. In dem fünften Schritt geht es um die Bereitwilligkeit, das als Erfahrung anzunehmen, was ist: Die eigene Sterblichkeit. Es geht nicht darum, sterben zu wollen, um seine Ruhe zu haben.
Nicht sterben wollen, etwa um deine Ruhe zu haben, sondern bereit sein zu sterben, auch wenn Du das Leben liebst, wann auch immer es geschehen soll, und wenn es in diesem Augenblick wäre.