Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in evolutionärer Perspektive | Natur des Glaubens

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Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in evolutionärer Perspektive

von Michael Blume, 14. April 2013, 10:56

Die Beschreibung der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) als Oberbegriff für rassistische, kulturalistische, sexistische und generell abwertende Verhaltensweisen gehört meines Erachtens zu den größten Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften der letzten Jahre. Evolutionär kannte schon Charles Darwin das Problem: Fast alle Lebewesen beschränken ihre "Sympathien" - wenn überhaupt - auf nahe verwandte Artgenossen. Selbst unsere nächsten Verwandten - wie Schimpansen oder Gorillas - könnten keinen Bus besteigen und keinen Kindergeburtstag feiern, ohne dass es zu gefährlichen, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen "Fremden" käme. Unsere Vorfahren erwarben über tausende von Generationen mehr und mehr die Fähigkeit, sich zu immer größeren und komplexeren Gruppen zusammen zu schließen. Doch auch uns bleibt noch der Atavismus (das evolutionäre Überbleibsel), nach dem wir Andere, Fremde, Schwache ausgrenzen und insbesondere unter Streß und Frust unsere je eigene Gruppenidentität durch Vorurteile und Grausamkeit gegenüber Nicht-Zugehörigen zu festigen versuchen - von der rechtlichen Diskriminierung bis hin zum massenhaften Mord.


Vortragsfolie: Michael Blume.
Deutsche Soldaten treiben Juden zusammen, südafrikanische Pogrome gegen Flüchtlinge aus Simbabwe.

Die "Begründungen" der Slogans wechseln dabei fast beliebig. So bekunden beispielsweise Antisemiten seit jeher "Die Juden sind unser Unglück!" und "legitimieren" dies pseudo-biologisch ("fremde Rasse"), pseudo-religiös ("von Gott verflucht und verworfen"), pseudo-politisch ("Ohne Juda, ohne Rom, errichten wir nun Deutschlands Thron!") oder auch pseudo-kulturalistisch ("archaische Traditionen, die nicht mehr in unsere Zeit passen"). Ebenso wurden und werden gegen Sinti und Roma Vorurteile aus den verschiedensten Schubladen ausgebracht - die die Ausgrenzung der Gruppe verfestigen und damit wiederum die Vorurteile bestätigen!

Während entsprechend Hassende immer wieder bestrebt sind, die verschiedenen, bedrängten Gruppen gegeneinander auszuspielen, zeigt die empirische Analyse einen engen Zusammenhang des GMF-Syndroms: Wer Feindseligkeit gegen Muslime hegt, wird auch Behinderte öfter verachten, die Emanzipation von Frauen häufiger ablehnen und sich eher "zigeunerfreie" Innenstädte wünschen (usw.).


Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 16.04.2013, kostenfreier pdf-Download

Und so kann es auch nicht verwundern, dass GMF häufiger (aber nicht nur!) in Milieus auftritt, die selbst bedrängt werden - und nun nach Möglichkeiten suchen, "nach unten zu treten". So beobachten Eva Groß, Andreas Zick und Daniela Krause:

Ängste, Ohnmacht, ökonomische Unsicherheitsgefühle und Abstiegsängste machen Menschen anfällig, jene abzuwerten, die in der gesellschaftlichen Hierarchie unten lokalisiert werden. Dabei sind jene Bürger, die selbst prekären sozialen Schichten, Milieus oder Gruppen angehören, auf den ersten Blick anfälliger für die leichtfertige Zustimmung zu menschenfeindlichen und die Ungleichwertigkeit markierenden Einstellungen. Oft ist die prekäre Lage auch mit Bildungsdefiziten verbunden, die anfällig machen, Abwertungen zuzustimmen. Gemeinsam mit den Einflüssen der oben skizzierten subjektiven Einschätzung von Bedrohung und Verunsicherung spricht einiges für die klassische Beobachtung eines "Arme-Leute-Rassismus".

Allerdings besteht auch bei wohlhabenderen und formal gebildeteren Schichten schnell die Bereitschaft, GMFen aufzugreifen, wenn sich damit der eigene Status sichern lässt. Man denke an den "Erfolg" von Thilo Sarrazin (SPD) auf Kosten v.a. muslimischer Zuwanderer oder an BILD-Kampagnen gegen "Sozialschmarotzer". Und so verroht auch das gehobene Bürgertum bisweilen schnell:

Analysen über die Zustimmung zu abwertenden Meinungen in verschiedenen Einkommensgruppen zeigen einen seit 2009 teils sprunghaften Anstieg von Menschenfeindlichkeit in höheren Einkommensgruppen. Für diejenigen Gruppen, die im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen als Zielscheibe von Menschenfeindlichkeit an Konjunktur gewinnen, da sie für das Stigma der ökonomischen Nutzlosigkeit beziehungsweise verminderten Leistungsfähigkeit besonders passgenau infrage kommen (Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Ausländer, Menschen mit Behinderung, aber auch allgemein neu Hinzugekommene), ist sehr deutlich zu sehen, dass auch und insbesondere bei Befragten aus den höheren Einkommensgruppen in den vergangenen drei Jahren die Abwertungen signifikant angestiegen sind. Dies kann als Indiz für die Verteidigung bestehender Statushierarchien durch die starken Gruppen in Krisenzeiten, in denen diese ins Wanken geraten könnten, gewertet werden. Für die als "nutzlos" und "Minderleister" etikettierten Gruppen konnten wir zum letzten Erhebungszeitpunkt auch einen Anstieg der Abwertungen in der Gesamtbevölkerung beobachten.

Auch Alter, Krankheit und Einsamkeit können GMFen verstärken. So berichtete auch der SPIEGEL vor Kurzem über den grassierenden Rassismus in Altersheimen, in denen Pflegerinnen und Pfleger vor allem dann beschimpft werden, wenn sie nicht der gleichen ethnischen Gruppe wie die zu Pflegenden angehören.

Toleranz und "Political Correctness" als Kulturleistung

Es ist also wenig überraschend, dass sich Hassende wütend gegen "die Gutmenschen" und deren "political correctness" wenden: Denn tatsächlich erfahren sie, dass ihre tiefen Ressentiments durch kulturelle Regeln in Schach gehalten werden (sollen). Doch klar ist auch: Gäben wir Menschen diesen Ausbrüchen erst einmal nach, wäre ein Zusammenleben in großen und vielfältigen Städten nicht mehr möglich - unsere Zivilisationen würden zusammen brechen. Und: Die GMF-Syndrome entstehen aus inneren Antrieben heraus, weswegen die höchste Fremdenfeindlichkeit gerade auch dort bestehen kann, wo kaum Zuwanderer leben. Auch in Japan fühlen sich Rechtsextreme von Überfremdung bedroht - obwohl das Land seit Jahrzehnten eine restriktive Zuwanderungs- und Integrationspolitik betreibt und entsprechend schnell altert. GMF ist ein kultureller Rückfall, wird nie satt und es löst keine Probleme!

Ein persönliches Schlusswort

Einen Einwand, den ich wichtig finde, ist derjenige, dass GMF nie nur ein Problem "der anderen" ist. Die größten Kritiker der Elche sind oft selber welche - wie ich als Schüler von Alt-68er-Lehrenden und Mitschüler von Aktivisten der "anarchosyndikalistischen Front" mehr als einmal erfahren durfte. Ob Linke, Christen, Türkinnen, Israelis, Atheisten oder Wissenschaftlerinnen - niemand von uns ist dagegen gefeit, auch selbst GMFen auszuprägen, so komplex die Pseudo-Rechtfertigungen dafür auch gewoben werden. 

Wenn ich (auch) hier auf Natur des Glaubens also dagegen aufzuklären versuche, dann nicht, weil ich behaupten könnte, selbst dagegen immun zu sein: Ich bin es nicht. Gerade weil ich seit Jahrzehnten im interkulturellen, interreligiösen und internationalen Bereich arbeite, erlebe ich immer wieder Situationen, in denen auch ich selbst an meine innere Grenzen komme. Die urmenschlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Übersichtlichkeit, gefestigter Gruppenzugehörigkeit und Heimat kann ich sehr gut nachvollziehen!

Wenn wir aber als Kulturen und Zivilisationen weiter voranschreiten wollen, dann müssen wir den Atavismen in uns selbst auch immer wieder begegnen: Generation für Generation. Die schlummernde Bereitschaft zu Furcht und Hass ist Teil unseres evolutionären Erbes, die Fähigkeiten zu Kultur und Reflektion aber nicht weniger. Und so will ich mit einem Zitat von Charles Darwin schließen, der genau diese Aspekte schon gesehen und beschrieben hat.

Wenn der Mensch in der Cultur fortschreitet und kleinere Stämme zu grösseren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, dass es seine socialen Instincte und Sympathien auf alle Glieder derselben Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathien auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der That, wenn gewisse Menschen durch grosse Verschiedenheiten im Aeussern oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert es, wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d. h. Humanität gegen die niederen Thiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein. Wilde besitzen dieses Gefühl, wie es scheint, nicht, mit Ausnahme der Humanität gegen ihre Schoossthiere. Wie wenig die alten Römer dasselbe kannten, zeigt sich in ihren abstossenden Gladiatorenkämpfen. Die blosse Idee der Humanität war, soviel ich beobachten konnte, den meisten Gauchos der Pampas neu. Diese Tugend, eine der edelsten, welche dem Menschen eigen ist, scheint als natürliche Folge des Umstands zu entstehen, dass unsere Sympathien immer zarter und weiter ausgedehnt werden, bis sie endlich auf alle fühlenden Wesen sich erstrecken. Sobald diese Tugend von einigen wenigen Menschen geehrt und ausgeübt wird, verbreitet sie sich durch Unterricht und Beispiel auf die Jugend und wird auch eventuell in der öffentlichen Meinung eingebürgert.

Ich glaube, billiger als durch das Ringen mit unseren Atavismen ist ein glückliches, modernes und vielfältiges Leben nicht zu haben.